Der Arzt kommt mit dem Zug
Die rollende Klinik Phelophepa versorgt Kranke in ganz Südafrika von Guillaume Pitron
Die Fahrt von Johannesburg westwärts nach Kathu ist wie eine Zeitreise. Irgendwann geht die Autobahn in abgenutzte Straßen über, die quer durchs „Veld“1 führen. Hat man die unsichtbare Grenze zur Provinz Nordkap überschritten, wird der Weg noch holpriger. Und so geht es 500 Kilometer auf Asphaltfetzen mitten durchs Dorngestrüpp weiter, ohne dass uns eine Menschenseele begegnet. An den Ausläufern eines rosafarbenen Bergzugs taucht schließlich die Provinzhauptstadt Kathu auf, ein verschlafener Ort mit 10 000 Einwohnern. An der Hauptstraße liegen ein Einkaufszentrum, Spirituosenläden und diverse Luxuslodges, wo junge Mädchen abends mit gelangweilter Miene an den Bars hängen und an Erdbeer-Wodka-Drinks nippen. Die Nordkap-Provinz, die größte und am dünnsten besiedelte Provinz Südafrikas, ist größer als Deutschland, aber mit einer Million Einwohnern „ebenso leer wie verlassen“, wie man hier sagt.
Phelophepa kommt an einem strahlenden Morgen im Juni: 18 Waggons, ausgestattet mit den modernsten medizinischen Geräten, rollen bis an die Grenze der Kalahari-Wüste und halten schließlich mitten in der Steppe am Bahnhof Wincanton. Auf Plakaten war der Krankenhauszug schon lange vorher angekündigt worden. Nun wird die Nachricht auch im Radio verbreitet. „Auf diesen Augenblick warte ich seit zwei Jahren!“, ruft eine Frau begeistert. Phelophepa bedeutet in den Sotho-Tswana-Sprachen „Gesundheit“ und verdankt seine Berühmtheit einem Mangel: Für die 50 Millionen Südafrikaner gibt es keine ausreichende öffentliche Gesundheitsversorgung. „Unsere Kliniken wären besser in festen Häusern aufgehoben“, meint Lynette Coetzee, Programmleiterin der staatlichen Stiftung der Eisenbahngesellschaft Transnet, die den Phelophepa-Zug managt und zu großen Teilen finanziert. „Dass unsere Arbeit so erfolgreich ist, zeigt nur, dass seit dem Ende der Apartheid einiges schiefgelaufen ist.“
Bei ihrer Gründung vor bald 20 Jahren erbte die Regenbogennation vom Apartheidregime ein weltweit renommiertes Gesundheitssystem, das jedoch auf hauptsächlich weiße Wohnregionen beschränkt war. Daher setzten Nelson Mandela und dessen Nachfolger zuallererst auf den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur. Neben der Erweiterung der Wasser- und Stromleitungen ermöglichte der Neubau und die Modernisierung von 1 600 Krankenhäusern „eine gerechtere Verteilung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung“, sagt Alex van den Heever, Professor für öffentliche Verwaltung an der Universität Witwatersrand.
Doch zugleich hat sich „die Qualität im Gesundheitswesen erheblich verschlechtert“. Das hat mit einer Regierungsmaßnahme von 1997 zu tun. Damals sollte das Personal in den öffentlichen Krankenhäusern paritätisch besetzt werden. Deshalb wurden mehrheitlich weiße Angestellte aufgefordert, freiwillig zu kündigen. „Viele sind daraufhin in Privatkliniken abgewandert. Damit kamen den öffentlichen Häusern auf einen Schlag auch viele erfahrene Kräfte abhanden“, erklärt van den Heever. Bei der Neubesetzung entschied die Regierungspartei ANC (African National Congress) vor allem nach politischen Kriterien. So sei der Gesundheitsbereich zum Spielball im Machtpoker der lokalen Parteifürsten geworden: „Klientelismus und Korruption haben das System in die Knie gezwungen.“
„Seit 1994 versorgen wir jedes Jahr 46 000 Südafrikaner“, sagt Onke Mazibuko. „In Wincanton wollen wir bis Ende dieser Woche 1 250 Patienten untersuchen. Unser Tagesablauf ist streng durchorganisiert: Um 6 Uhr aufstehen, drei Minuten duschen, dann acht Stunden Arbeit, bis der letzte Patient gegangen ist.“ Der dreißigjährige Psychologe im taillierten Anzug mit bunter Fliege und makellos geputzten Schuhen leitet seit zwei Jahren den Krankenhauszug. Jedes Jahr fährt er mit dem Phelophepa 15 000 Kilometer durchs Land. 19 „Wanderärzte“ und 40 Pflegepraktikanten aus den besten Medizinfakultäten des Landes begleiten ihn, sie sind aber nur jeweils für eine Woche dabei. Für die Studierenden ist es eine Pflichtveranstaltung – „und eine Feuertaufe“, meint Mazibuko.
Am Morgen nach der Ankunft des Phelophepa hat sich der Geisterbahnhof von Wincanton in einen der belebtesten Orte der Provinz verwandelt. Männer und Frauen, Kinder und Alte: Eine bunte Menge zieht an den weiß gekleideten Ärzten vorbei. Wenn sie lächeln, sieht man die Zahnlücken, manche Augenhöhlen sind leer, Arme, Beine und Hände von schlecht versorgten Wunden versehrt. Kein Wunder: „Das nächste Krankenhaus ist 50 Kilometer entfernt. Ich weiß nicht, wie ich dahin kommen soll“, erklärt Peter Thomas. Er ist mit seinem siebenjährigen Neffen gekommen, der furchtbare Zahnschmerzen hat. Außerdem „sind die Ärzte zu teuer“, fügt Julius Tood hinzu, ein junger Mann, der per Anhalter aus einem benachbarten Township angereist ist. „Die Leute hier leiden. Unsere Lage ist wie die Natur, die uns umgibt: unabänderlich.“
Phelophepas Nähe und die nahezu kostenlose medizinische Versorgung hat Wincanton in einen Anziehungspunkt für Leidende aller Art verwandelt. Vor Wagen 11, der Praxis für Allgemeinmedizin, wird ein Fall von Diabetes festgestellt und Blutdruck gemessen. Nachdem das Problem jedes Patienten festgestellt ist, werden sie zu einem Facharzt im betreffenden Waggon geschickt. In Nummer 14 und 15 ist die Augenklinik untergebracht. Während aus Lautsprechern Popmusik erklingt, warten die Patienten, bis ihnen ein Praktikant für die bescheidene Summe von 30 Rand (umgerechnet etwa 2 Euro) eine Brille zusammengebaut hat. Für viele Südafrikaner ist das eine Premiere: „Ich habe 80-Jährige gesehen, die in ihrem ganzen Leben noch nie einen Augentest gemacht haben“, berichtet Liesbeth Mpharalala, die für die Augenklinik verantwortlich ist.
In der Zahnklinik in Wagen 12 sind ein Dutzend Helfer am Werk. „Die meisten Patienten haben einfach keine Ahnung von Zahnhygiene. Sie wissen gar nicht, wie sie sich die Zähne putzen müssen“, erklärt Muhammad Garu, Zahnmedizinstudent aus Johannesburg. In ihrem winzigen Büro in Wagen 10 (Psychotherapie) erzählt Lynette Flusk von den Seelenleiden ihrer Besucher: Arbeitslosigkeit, Traumatisierung nach einer Vergewaltigung, Armut. „Viele haben gar keine Selbstachtung. Lassen Sie sich nicht von der Weite der Landschaft täuschen. Die Horizonte hier sind begrenzt.“
Wenn die Behandlung abgeschlossen ist, gehen die Patienten zu Elizabeth Mpya und ihren Assistenten im Wagen Nummer 16. Hier ist die Apotheke. Gegen eine Handvoll Rand verteilt die kleine Frau Wund- und Heilsalben und Antibiotika. In Wagen 13 mit dem Schild „Management“ sitzt Onke Mazibuko an seinem Tätigkeitsbericht für die Phelophepa-Transnet-Stiftung. „Der Bedarf ist enorm. Aber wir kommen frühestens in zwei Jahren wieder in Wincanton vorbei“, bedauert er. Bis dahin müssen die Einwohner ins Krankenhaus von Kuruman gehen. Aber „die Situation dort ist katastrophal“, versichert eine Frau, „bei der letzten Entbindung bin ich fast gestorben.“ Die Alternative ist die Ambulanz von Marinda Theron in Deben. Die weiße Krankenschwester tut seit 14 Jahren in dem Township mit 6 000 Einwohnern Dienst. „Es fehlt an Ärzten, und die Krankenwagen brauchen ewig“, erklärt sie. „Selbst Placido Domingo hilft uns nicht weiter. Der schickt uns auch noch seine Patienten.“
Placido Domingo nennt man in Deben den Hexer. Hinter einem Labyrinth aus Blechhütten steht sein Haus aus festen Ziegelwänden. Unter einem Vordach parken zwei Mercedes C 230. Im Wohnzimmer ausgesuchtes Mobiliar und eine Stereoanlage. Natürlich ist Placido Domingo nicht sein richtiger Name, aber den will unser Gastgeber nicht verraten. Umso begeisterter erzählt er von seiner Liebe zur traditionellen Botswana-Musik: „Nächste Woche nehme ich in Kimberley meine zweite Platte auf!“ Doch in Deben kennt man Domingo vor allem wegen seines anderen Talents: „Meiner Meinung nach haben gesundheitliche Probleme vor allem mit Verwünschungen zu tun. Bei uns wird nämlich viel verflucht!“
Zur Behandlung seiner Patienten zieht Domingo ein buntes Gewand an und hängt sich Muschelketten um den Hals. Dann wirft er 17 Lammknochen auf die Erde, interpretiert ihre Lage und ruft die Geister an, bevor er Heilmittel aus Lotosblumen und Rindenpulver empfiehlt.
Sie haben ein Krankenhaus, aber keinen Arzt
80 Prozent der Südafrikaner nehmen regelmäßig die Dienste eines Schamanen wie Domingo in Anspruch. Im ganzen Land gibt es 200 000 registrierte Sangomas, wie die Medizinmänner in Südafrika heißen. Doch wenn der Philophepa kommt, dann „laufen die Leute aus Deben dorthin!“, versichert Domingo. „Die traditionelle und die westliche Medizin ergänzen sich“, meint er. Ob aus Stolz oder wegen seiner guten Gesundheit – er selbst lässt sich dort nicht untersuchen.
Onke Mazibuko ist mit seiner Arbeit zufrieden: „Wir haben am Montag 135 Patienten behandelt und am nächsten Tag doppelt so viele.“ Davon habe man nicht unbedingt ausgehen können, denn es gibt einen Streik im öffentlichen Dienst. „Die Gemeinde hat keinen Ersatz für die Busse organisiert. Selbst das versprochene Wasser wurde nicht geliefert.“
Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid lassen sich die gravierenden Folgen einer mangelhaften öffentlichen Gesundheitsversorgung auch an den Zahlen ablesen: In Südafrika liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei nur 53,4 Jahren; 17,8 Prozent der Erwachsenen sind HIV-positiv oder aidskrank, nach dem Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen (Human Development Index, HDI) liegt Südafrika weltweit auf Platz 121 (von 187). Die Arztdichte ist extrem niedrig: 0,7 Ärzte kommen auf 1 000 Einwohner (in Deutschland sind es 3,7).
„Auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen verlassen viele Menschen das Land“, berichtet Mike Waters, Gesundheitsexperte der Oppositionspartei Democratic Alliance. Besonders betroffen ist die Nordkap-Provinz, deren Lokalregierung zwar offiziell eine „exzellente Gesundheitsversorgung für alle“ anstrebt, aber 57 Prozent der Ärzte- und 34 Prozent der Krankenpflegestellen nicht besetzen kann.2 „In meiner Stadt hat die Regierung ein brandneues Krankenhaus gebaut, aber drinnen finden Sie keinen einzigen Arzt“, berichtet Isabelle Roberts, die aus dem 60 Kilometer entfernt liegenden Dingleton angereist ist, um sich im Phelophepa behandeln zu lassen.
Mit einem Jahresbudget von 25 Millionen Rand hat der Krankenhauszug seit 1994 fast 6 Millionen Südafrikaner behandelt und mehr als 20 000 künftige Mediziner auf die Herausforderungen in der Gesundheitswüste Südafrika vorbereitet – einem Land, das größer ist als Frankreich, Italien und Deutschland zusammen. „Ich sage meinen Studenten: ‚Versuchen Sie, nach Ihrem Abschluss wieder im Zug zu arbeiten‘ “, erzählt Lynette Coetzee. „Und viele tun das auch.“
Im Phelophepa arbeiten auch 80 Nichtmediziner: Vollzeitangestellte und Zeitarbeitskräfte – Letztere werden an den jeweiligen Bahnhöfen angeworben. Während die Ärzte die Patienten versorgen, wird im ersten Wagen Material eingelagert, im zweiten Wäsche gewaschen und im dritten Essen gekocht, das man im Restaurant im vierten Wagen serviert. Am anderen Ende des Bahnsteigs, im Wagen 17, langweilen sich zwei Sicherheitsleute vor ihren Kontrollbildschirmen. „Dieser Zug ist wie ein Unterseeboot“, meint Saazi Guza, Leiter der Zahnklinik. „Wir erzählten uns auch ganz persönliche Dinge. Die Kollegen um einen herum werden zu einem Teil der Familie.“
Der Logistikbeauftragte Colin Boucher, der seit 18 Jahren dabei ist, teilt diese Meinung nicht unbedingt. Seine echte Familie hat ihm jedenfalls „große Vorwürfe gemacht“, dass er immer noch mitfährt. „Ich habe noch gut zwölf Jahre vor mir, und um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich die durchhalte!“ Lynette Flusk, die Leiterin der Psychiatrie, fügt hinzu: „Wenn Sie hier arbeiten, verlassen Sie die Komfortzone: Die Patienten sind schwierig, und es ist hart, so weit weg von zu Hause zu sein. Dieser Zug kann dich stark machen oder zerbrechen.“
Sonntags ist keine Sprechstunde. Aus einem Abteilfenster erklingt eine Opernarie. Onke Kazibuko, noch recht verschlafen nach einer kurzen Nacht, läuft neben den Schienen und lässt seinen Blick in die Kalahari schweifen. „Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir in diesem Zug schon alles erlebt haben“, ruft er. Er erzählt gern von den Reiseerlebnissen jenseits der scheinbaren Routine: „Wo immer ich mich aufhalte, schaue ich aus dem Fenster und beobachte die gleiche Szene: eine alte Frau, die sich für den Sehtest anstellt, ein schwankender Mann am Stock, ein Kind, das wegläuft. Jede Woche die gleichen Szenen, und doch spielen sie sich alle an verschiedenen Orten ab.“ Was bleibt ihm davon im Gedächtnis? Seine Augen leuchten auf: „Ein Halt in Mossel Bay im Süden des Landes mit Blick auf den Ozean. Oder ein Zwischenstopp in Mooketsi in der Provinz Limpopo an den Hängen der Hanglipberge.“
Ein paar Wagen weiter schaut auch die Pharmazeutin Elizabeth Mpya hinaus aufs Veld, das von den Strahlen der sinkenden Sonne erleuchtet wird. „Ich bin Optimistin! Eines Tages werden wir wieder nach Wincanton kommen, und dann gibt es ganz in der Nähe ein richtiges Krankenhaus, und wir werden nicht mehr gebraucht. Das möchte ich noch erleben.“