09.08.2013

Absolut unamerikanisch

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Absolut unamerikanisch

Die schleichende Enteignung der Privatsphäre in den USA von David Price

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Eward Snowden sei Dank. Mit seinen Enthüllungen über die massive elektronische Überwachung und das Sammeln von Verbindungsdaten privater Telefon- und Internetverbindungen durch die NSA hat der mutige Whistleblower eine erneute Debatte über das Eindringen der US-Geheimdienste in das Privatleben von Bürgern ausgelöst.

Dabei stellte sich jedoch heraus, dass ein beunruhigend hoher Anteil der US-Amerikaner die Überwachung ihrer privaten elektronischen Kommunikation durchaus in Ordnung findet.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew im Auftrag der Washington Post nur wenige Tage nach Snowdens Enthüllungen ergab, dass 56 Prozent der Befragten die Speicherung privater Verbindungsdaten durch das Prism-Programm der NSA „akzeptabel“ finden. 45 Prozent meinten, die Regierung sollte die Möglichkeit haben „sämtliche E-Mails zu überwachen, um mögliche Terrorakte zu verhindern“.

Medien und Experten produzieren unwidersprochen eine Darstellung, wonach das Ausspähen durch die NSA ein harmloses, notwendiges und effektives Werkzeug sei, um den im Internet tobenden Krieg ohne Grenzen zu bestreiten. Die öffentliche Unterstützung für eine universelle Überwachung dürfte sogar noch zunehmen, denn die um die Jahrtausendwende geborene Generation wird am Ende so sozialisiert sein, dass sie die unsichtbare und allgegenwärtige Überwachung als notwendig, ungefährlich und normal empfindet.

Dass die US-Amerikaner inzwischen ein derartiges Ausmaß elektronischer Bespitzelung akzeptieren und offenbar längst verinnerlicht haben, markiert eine deutliche Abkehr von der langen Tradition des Misstrauens gegenüber staatlicher Überwachung.

Noch kurz vor den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte das Misstrauen gegen das FBI einen historischen Gipfelpunkt erreicht. „Vier von zehn Amerikanern haben kein Vertrauen ins FBI“, lautete damals eine Schlagzeile in der Zeitung USA Today. Über Jahrzehnte hinweg belegten die Erhebungen des US-Justizministeriums eine tief verwurzelte Ablehnung staatlicher Abhörmaßnahmen. In den 30 Jahren vor 2001 schwankte der Anteil der Amerikaner, die solche Lauschangriffe missbilligten, stets zwischen 70 und 80 Prozent.

Seit 9/11 wurden offenbar alle bürgerrechtlichen Besorgnisse aus dem historischen Gedächtnis getilgt. Am 12. Dezember 2001 veröffentlichte die New York Times die Ergebnisse eine Umfrage, wonach nur noch 44 Prozent der Befragten glaubten, das Mithören könnte „die Persönlichkeitsrechte von Amerikanern verletzen“. Das Misstrauen gegenüber der Regierung ist schon immer ein fester Bestandteil unserer politischen Kultur. In den letzten hundert Jahren waren die meisten Amerikaner strikt dagegen, dass staatliche Institutionen die Bürger – und selbst Kriminelle – einfach abhören können.

Mit Krokodilklemmen am Draht gegen Schmuggler

1877 gab es auf der Welt nur eine einzige Telefonleitung von nennenswerter Länge; sie verlief zwischen Boston und Salem in Massachusetts und hatte ganze 778 Anschlüsse. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaß nur einer von 1 000 US-Bürgern ein Telefon. In den 1920er Jahren war es schon einer von 100, und 1950 war bereits jeder dritte Haushalt ans Telefonnetz angeschlossen. Heute gibt es in den USA mehr Telefone als Einwohner.

Bis zur Einführung von Glasfaserkabeln und Handys gegen Ende des 20. Jahrhunderts brauchte man zum Abhören nur eine bescheidene technische Ausrüstung und minimale Unterstützung seitens der Telefongesellschaften. Um ein Gespräch zu belauschen, das über einen Kupferdraht lief, genügten der Zugang zum Telefonkabel und ein paar Krokodilklemmen.

Als die Öffentlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals erfuhr, dass die Strafverfolgungsbehörden solche Abhörmethoden benutzen, war die Empörung groß. Während des Ersten Weltkriegs waren Lauschangriffe bereits so weit verbreitet, dass der Kongress ein ausdrückliches Verbot beschloss – obwohl die Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Spione und Saboteure damals durchaus real war. Nach Kriegsende verabschiedeten viele US-Bundesstaaten Gesetze, mit denen die Überwachungsbefugnisse der örtlichen Polizei weiter eingeschränkt wurden.

In der Ära der Prohibition (von 1920 bis 1933) kommunizierten die Alkoholschmuggler mit ihren Lieferanten und Käufern zunehmend per Telefon. Deshalb ignorierten die örtlichen Polizeibehörden und die Bundespolizei die gesetzlichen Abhörverbote, und das Belauschen von Telefongespräche wurde zur Routine. Als die Lauschangriffe immer häufiger wurden, versuchte die Regierung in Washington den Ermittlern Grenzen zu setzen. Unter dem Beifall der Öffentlichkeit untersagte Generalstaatsanwalt Harlan Stone im Jahr 1924 dem Justizministerium die Überwachung von Telefonaten. Sowohl das Finanzministerium, das damals für die Durchsetzung der Prohibition zuständig war, als auch das Bureau of Investigation (BOI, das spätere FBI) waren über das Vorgehen von Stone höchst verärgert und gingen dazu über, die Leitungen heimlich anzuzapfen.

Ein Fall von Rumschmuggel in Seattle war 1926 der Anlass für wichtige Gerichtsentscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit der polizeilichen Lauschangriffe. Bei ihren Ermittlungen hatte die Bundespolizei bei dem ehemaligen Polizisten und Alkoholschmuggler Roy Olmstead das Telefon abgehört. Obwohl dies ein Verstoß gegen die Gesetze des Bundesstaats Washington war, wurde Olmstead auf der Grundlage der auf illegale Weise gewonnenen Erkenntnisse wegen Verstoßes gegen die Prohibitionsgesetze verurteilt.

Im Berufungsverfahren ein Jahr später gab Richter Frank Rudkin ein Minderheitsvotum ab, demzufolge das Abhören von Kriminellen – selbst im Fall der Bedrohung des Gemeinwohls – eine Verletzung des Gesellschaftsvertrags und einen Angriff auf die Grundlagen der Privatsphäre und der persönlichen Freiheit darstelle. „Kein Bundespolizist hat das Recht, telefonische Äußerungen einer Person abzuhören, um diese anschließend gegen sie zu verwenden“, erklärte Rudkin. „Wenn sich derartige Übel durchsetzten, wäre der Wunsch unserer Vorväter vergeblich gewesen, eine Regierung einzurichten, die für sie und ihre Nachkommen die Segnungen der Freiheit sichert.“

Als der Fall Olmstead schließlich 1928 in letzter Instanz vor den Supreme Court kam, gab die Telefongesellschaft von Seattle eine Erklärung ab, in der sie das Recht von Schmugglern verteidigte, ihre Telefonate ohne polizeiliche Überwachung zu führen. Die Gesellschaft argumentierte: „Wenn die Anschlüsse zweier Parteien über die Telefonzentrale miteinander verbunden werden, dann sind sie allein für eine Nutzung durch diese beiden Parteien vorgesehen und gehen dadurch gewissermaßen in ihren Besitz über. Ein Dritter, der die Leitungen anzapft, verletzt also die Eigentumsrechte sowohl der beiden Personen, die zu diesem Zeitpunkt das Telefon benutzen, als auch der Telefongesellschaft.“

Man kann sich heutzutage schwerlich vorstellen, dass einer der Internet- oder Telefonanbieter die Privatsphäre ihrer Kunden derart offensiv verteidigen würde. Im Gegensatz dazu tun die von Snowden beschuldigten Unternehmen wie Facebook, MSN und Google einfach so, als hätten sie von nichts gewusst.

Das Urteil des Supreme Court fiel am Ende mit fünf gegen vier Stimmen gegen Olmstead aus. Allerdings formulierte der berühmte liberale Richter Louis Brandeis in seinem Minderheitsvotum eine dringende Mahnung: „Verbrechen ist ansteckend. Wenn die Regierung zum Gesetzesbrecher wird, leistet sie der Missachtung des Rechts Vorschub. Sie fordert jeden Bürger dazu auf, sich sein eigenes Gesetz zu machen, womit der Anarchie Tür und Tor geöffnet wird. Zu behaupten, dass zur Durchsetzung des Rechts der Zweck die Mittel heilige – dass also die Regierung Straftaten begehen dürfe, um die Verurteilung eines Straftäters zu erreichen –, hätte schreckliche Folgen. Das Gericht sollte einer solch schädlichen Auffassung mit aller Entschiedenheit entgegentreten.“

Die meisten US-Bürger empörten sich über die eklatante Missachtung des vierten und fünften Zusatzartikels der Verfassung, die den Schutz der Privatsphäre und des Eigentum sowie ordentliche Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz garantieren. Im ganzen Land kritisierten die Kommentatoren die Entscheidung des Gerichts. Das galt selbst für konservative Blätter in Olmsteads Heimatstaat Washington. So war im Washingtonian, der konservativen Lokalzeitung der reichen Holzfällerstadt Hoquiam, zu lesen: „Vielleicht sollte der Kongress ein Gesetz verabschieden, das die Vertraulichkeit von Telefongesprächen dadurch schützt, dass diese nicht mehr als Beweismaterial in Gerichtsverfahren zugelassen werden.“

Solche Erwägungen waren also keineswegs auf linke Kreise und Bürgerrechtler beschränkt. Der öffentliche Aufschrei über die Billigung von Lauschangriffen durch den obersten Gerichtshof ging über alle Parteigrenzen hinweg. 1928 buhten die Delegierten auf dem Parteitag der Republikaner den Philosophen und späteren Friedensnobelpreisträger Nicholas Murray Butler aus, als er das Olmstead-Urteil verteidigte. Abhören – selbst wenn es gegen Kriminelle eingesetzt wurde – galt als absolut unamerikanisch.

Aufgrund der breiten Missbilligung der Abhöraktionen bezog die Bundespolizei BOI öffentlich eine scheinbar kritische Position. Laut dem Handbuch der Bundespolizei von 1928 war das Abhören nicht erlaubt, es wurde sogar als „ungebührlich, illegal und unethisch“ qualifiziert. Während die Behörde ungerührt weiterhin Telefonleitungen anzapfte, belog BOI-Chef J. Edgar Hoover den Kongress mit seiner Versicherung, beim Lauschen erwischte Agenten würden unverzüglich entlassen. Gleichzeitig nutzte er aber aufsehenerregende Verbrechen – insbesondere die Entführung des Kindes des Luftfahrtpioniers Charles Lindbergh –, um auf eine Ausweitung der Kompetenzen des BOI inklusive der Abhörbefugnisse zu drängen.

Mit dem Telekommunikationsgesetz von 1934 setzte der Kongress jedoch ein bundesweites Abhörverbot durch. 1939 bestätigte der Supreme Court im Prozess Nardone gegen die Vereinigten Staaten, in dem es ebenfalls um eine Verurteilung mittels abgehörter Gespräche ging, dass der Kongress Lauschangriffe verbieten könne. Das störte die nun in FBI umbenannte Bundespolizei und andere Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht. Sie setzten ihre illegalen Abhöraktionen fort und verzichteten lediglich darauf, die so gesammelten Informationen vor Gericht zu präsentieren. Als schließlich im Lauf des Zweiten Weltkriegs die Geheimdienste – zulasten der Bürgerrechte – an Stärke gewannen, nahm die Telefonüberwachung wieder erheblich an Umfang zu.

In den 1940er Jahren veränderte sich die Einstellung der US-Amerikaner zu Lauschangriffen. Der Krieg und die zunehmende Verbreitung von Telefonen auch in ärmeren Schichten erhöhten die Akzeptanz von Abhörmaßnahmen. Entsprechend versuchte FBI-Chef Hoover 1940, dem Kongress endlich umfangreichere Befugnisse abzuringen, was jedoch am Widerstand des Leiters der Bundesbehörde für Kommunikation (FCC), James Fly, scheiterte.

Allerdings erließ Präsident Roosevelt noch im gleichen Jahr ein geheimes Dekret, das dem Justizministerium das Abhören von „subversiven Aktivitäten“ und mutmaßlichen Spionen erlaubte. Hoover nutzte diese schwammige Ermächtigung zum Belauschen nicht nur von Nazis, sondern von allen Leuten, die er irgendwie für subversiv hielt. Während des Kriegs hat das FBI regelmäßig Telefonate mitgehört, ohne die nötige Ermächtigung zu haben, berichtete später Hoovers Assistent William Sullivan: „Es ging doch um die Zukunft des Landes. Da erschien das Einholen einer Genehmigung aus Washington als unnötige Formalität. Aber selbst Jahre später belauschte das FBI immer noch die Gespräche anderer Leute ohne staatsanwaltschaftliche Genehmigung.“

Die Geschichte des Abhörens ist also die Geschichte einer schleichenden Ausweitung von Befugnissen. FBI-Agenten, die im Krieg noch hinter Nazispionen her waren, belauschten kurz darauf progressive Aktivisten, die gegen die Rassentrennung kämpften.

Im Laufe der 1940er Jahre wurde das Telefon zum normalen Haushaltsgegenstand. Jetzt war es nicht mehr das Kommunikationsmittel einer Elite, aus der sich auch die Justiz rekrutierte, weshalb diese die Elite zu schützen pflegte. In dem Maße, in dem nicht mehr nur die Reichen, sondern zunehmend auch die Armen zum Telefon griffen, begannen die Richter ihre Ablehnung von Lauschangriffen zu überdenken.

Nach dem Krieg nutzte das FBI die von McCarthy geschürte Kommunistenangst geschickt für die Ausweitung seiner verbotenen Abhörmaßnahmen. Nicht nur mutmaßliche Kommunisten gerieten ins Visier der Behörde, sondern auch ein breites Spektrum von Bürgerrechtsaktivisten, Gewerkschaftern, Sozialarbeitern und Mitgliedern progressiver Religionsgemeinschaften.

Doch nicht einmal in der McCarthy-Ära wurden die Lauschangriffe von Gerichten legalisiert. Als das FBI zugab, die Telefonate der als Sowjetspionin angeklagten Judith Coplon mit ihrem Anwalt belauscht zu haben, hob ein Berufungsgericht das Urteil wieder auf.

In den 1950er Jahren verstärkten auch die örtlichen Polizeidienststellen ihre Lauschaktivitäten. Die New Yorker Polizei hörte regelmäßig an öffentlichen Fernsprechern mit; allein 1953 und 1954 zapfte sie schätzungsweise 3 500 Telefonleitungen an. Auch nach 1960 gingen die nicht autorisierten Abhöraktionen ungestört weiter, obwohl die Öffentlichkeit und die Gerichte dieses Vorgehen missbilligten.

1967 bestätigte der Supreme Court im Fall Katz gegen die Vereinigten Staaten noch einmal, dass der im vierten Verfassungszusatz garantierte Schutz vor unangemessenen Durchsuchungen auch für Telefongespräche gelte. Doch ein Jahr später fügte der Kongress im dritten Abschnitt des Gesetzes zur Bekämpfung des Verbrechens („Omnibus Crime Control Act“ von 1968) eine Klausel ein, die erstmals Abhörmaßnahmen bei bestimmten Straftatbeständen (Entführungen, organisiertes Verbrechen) legitimierte. Seitdem wurde die Liste der Vergehen, bei denen Lauschangriffe erlaubt sind, mit Unterstützung von Republikanern wie Demokraten noch stetig ausgeweitet.

Nach dem Tod von FBI-Chef Hoover im Jahr 1972 kamen – angefangen mit dem Watergate-Skandal – mehrere skandalöse Fälle ans Licht, bei denen FBI und CIA die Privatsphäre von US-Bürgern verletzt hatten. Untersuchungsausschüsse in Senat und Repräsentantenhaus deckten umfangreiche Bespitzelungsaktionen gegen US-Bürger auf, die sich in völlig legaler Weise politisch engagierten. Die erste Empörung über das Ausmaß der illegalen Abhörmaßnahmen wich jedoch schnell einer gewissen Gleichgültigkeit. Der Kongress verzichtete auf jede ernsthafte Beaufsichtigung der Geheimdienste. Mit der Zeit verschwand die Erinnerung an die belegten Fälle von hemmungsloser Überwachung, von Schikanen, Verleumdungskampagnen und Morden.

Doch der nächste Skandal ließ nicht lang auf sich warten: 1978 sagte der CIA-Telekommunikationstechniker David Watters als Zeuge vor dem Unterausschuss für Geheimdienste des US-Senats aus, dass die NSA Tausende von In- und Auslandstelefonaten abhöre und aufzeichne. Die Reaktion auf diese Enthüllung war große Empörung – und das folgenlose Versprechen, die Aufsicht durch den Kongress zu intensivieren. Doch die NSA und der FBI bauten ihre Kompetenzen und technischen Möglichkeiten immer weiter aus. 1978 verabschiedete der Kongress das Gesetz zum Abhören im Dienst der Auslandsaufklärung (Foreign Intelligence Surveillance Act, Fisa). Damit wurde ein geheimes gerichtliches Verfahren zur Genehmigung von Lauschangriffen und anderen elektronischen Ausspähverfahren etabliert, die im Namen der „nationalen Sicherheit“ beantragt wurden. Die Zahl der Überwachungsanträge ist seitdem stark gestiegen: 1980 waren es noch 322 Anträge, 2006 bereits 2 224. Im Zeitraum 1979 bis 2006 hat das Fisa-Gericht von 22 990 Überwachungsanträgen lediglich 5 abgelehnt.

Vor der Verabschiedung des Datenschutzgesetzes für elektronische Kommunikation war es vollkommen legal, durch Telefonleitungen übertragene E-Mails abzufangen. In dieser Zeit steckte das Internet noch in den Kinderschuhen und wurde hauptsächlich von Militär und Forschungseinrichtungen genutzt. Das 1986 verabschiedete Gesetz legte fest, dass jegliche elektronische Kommunikation demselben rechtlichen Schutz unterliegt wie Telefonate. Nur Gespräche über schnurlose Telefone waren dadurch nicht geschützt.

Auf breite Ablehnung stieß das Gesetz über digitales Telefonieren von 1994. Es enthielt die Bestimmung, dass Schaltzentralen für Glasfasernetze so ausgestattet sein müssen, dass sie auf gerichtlichen Bescheid hin leicht angezapft werden können. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (Aclu) und das Forschungsinstitut Electronic Privacy Information Center (Epic) organisierten daraufhin einen breiten Protest. Überall erschienen Leserbriefe und Kommentare, in denen das Eindringen in die Privatsphäre heftig kritisiert wurde. Umso auffälliger war die Begeisterung, mit der die Telekommunikationsbranche das Gesetz aufnahm – ganz im Gegensatz zu ihrer Haltung im Olmstead-Fall von 1927, als sie sich noch energisch gegen die Überwachung ihrer Kunden gewehrt hatte.

Ein privates Telefongespräch ist wie ein versiegelter Brief

Unter den Regierungen Reagan, Bush Senior und Clinton wurden die Abhörprogramme des Bunds immer weiter ausgedehnt, ohne dass es in der Öffentlichkeit große Beachtung gefunden hätte. Auch die in den 1980er Jahren ernannten konservativen Bundesrichter setzten dem Gesetz nur wenig Widerstand entgegen. Zudem ließen sich, wie der Journalist und NSA-Experte James Bamford berichtete, die bis 2001 geltenden Vorschriften, die das Abhören im Inland mittels der Programme zur Auslandsüberwachung verhindern sollten, problemlos umgehen: Der Telefon- und Mail-Verkehr in den USA wurde einfach über Drittländer überwacht. In den 1980er Jahren vollzog sich ein weiterer Wandel: Privatunternehmen begannen, Daten über US-Bürger in einem Umfang zu sammeln, wie es den Regierungsagenturen in der Zeit nach dem Watergate-Skandal nicht möglich war.

Das anfängliche Misstrauen gegenüber den privaten Datensammlern verwandelte sich ziemlich schnell in Zustimmung. Als in der Presse Ende der 1980er Jahre Berichte auftauchten, die Softwarefirma Lotus stelle CD-ROMs mit Namen und Adressdaten praktisch aller US-Bürger her, war die öffentliche Empörung noch groß. Nur wenige Jahrzehnte später erfolgen solche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte via Internet, und zwar quasi unsichtbar und freiwillig, womit sie fast unvermeidbar sind. Diese Entwicklung zeigt, wie sehr wir uns inzwischen an den Verlust der Privatsphäre gewöhnt haben und ihn widerspruchslos hinnehmen.

Wenn die Gerichte Anfang der 1990er Jahre die E-Mail als eine Art elektronischen Briefumschlag definiert hätten, wären die USA heute vielleicht ein anderes Land. Eine solche argumentative Beziehung zwischen Post- und Telefongeheimnis hatte Richter Brandeis in seinem abweichenden Votum im Olmstead-Fall hergestellt. Er hatte 1928 seine Forderung nach dem Schutz von Telefongesprächen vor Lauschangriffen damit begründet, dass es im Grunde „zwischen einem versiegelten Brief und einem privaten Telefongespräch“ keinen Unterschied gebe. In der Welt nach 9/11 besteht jedoch wenig Hoffnung, dass unsere E-Mails künftig in dieser Weise geschützt werden.

Der unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verabschiedete „Patriot Act“ hob wichtige Beschränkungen auf, die den Geheimdiensten auferlegt worden waren, nachdem ein Senatsuntersuchungsausschuss deren klandestine Machenschaften aufgedeckt hatte.1 Die richterliche Aufsicht über Abhörmaßnahmen oder die Aufzeichnung von Verbindungsdaten wurde aufgeweicht; das Verbot für Geheimdienste, US-Bürger zu bespitzeln, wurde abgeschafft und die massive Überwachung von E-Mails und Internetverbindungen erlaubt.

Überdies schuf sich der Staat mit dem Heimatschutzministerium ein zentrales Organ zur Koordinierung der inländischen Geheimdienstaktivitäten, von dem FBI-Gründer Hoover nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Doch mit seinem „Total Information Awareness“-Projekt2 trieb es George W. Bush dann zu weit. Der Plan, sämtliche elektronischen Metadaten zu erfassen und auszuwerten, scheiterte zunächst an der öffentlichen Empörung und am Widerstand im Kongress. Aber das Projekt wurde heimlich doch umgesetzt: in Form des Prism-Programms, das Obama auch zu seinem gemacht hat.

Die bemerkenswerteste Entwicklung ist jedoch, dass diese Bürger nach hundert Jahren strammer Opposition das Recht auf den Schutz ihrer elektronischen Daten freiwillig aufgeben. Nicht viele US-Amerikaner können sich heute noch an den Widerstand erinnern, der viele Jahre lang gegen die Ausstattung von Polizei und Geheimdiensten mit derart unkontrollierten Befugnissen und Ressourcen geführt wurde.

Als der Patriot Act die Trennwand zwischen kriminalpolizeilichen Ermittlungen im Inland und der Spionageabwehr geschleift und FBI und NSA ermächtigt hat, Bürger ohne jede öffentliche Kontrolle auszuspionieren, gab es darüber kaum eine öffentliche Debatte. Dabei wissen wir heute, dass solche Befugnisse vor allem gegen Leute eingesetzt wurden, die die Innen- oder Außenpolitik der USA infrage stellten.

Heute lässt die Angst vor dem Terrorismus die US-Bürger eine Vergangenheit vergessen, der sie sich ohnehin kaum mehr bewusst sind. Und vage Versicherungen, dass die Rechte der „Unschuldigen“ geschützt seien, verwischen die Erinnerung an all die gut dokumentierten Verletzungen der Privatsphäre und der Bürgerrechte, die ja nur vorhersehbare Auswüchse der allgemeinen Überwachungsmanie darstellen.

Die Halbwertszeit von Empörung ist kurz. Nach einiger Zeit lassen sich Maßnahmen, die zunächst ungeheuerlich wirken, als „leider notwendig“ darstellen. Dieser Wandel der öffentlichen Meinung ist leichter zu verstehen, wenn man begreift, dass er nur die letzte Etappe einer Entwicklung ist, die den Abbau des verfassungsmäßigen Schutzes vor Lauschangriffen durch die US-Geheimdienste immer legitimer und akzeptabler erscheinen lässt. Snowdens Enthüllungen bestätigen dabei nur, was viele, die sich eingehender mit den US-Geheimdiensten befasst haben, schon lange vermuten. Die Regierungen Bush und Obama haben der NSA Vollmachten zu Überwachung der elektronischen Kommunikation im Inland erteilt, die alles Bisherige in den Schatten stellt.

Der Soziologe Sigmund Diamond hat über Jahrzehnte die Eingriffe der US-Geheimdienste in das akademische Leben aufgezeichnet, die sich zu einer Bedrohung der akademischen Freiheit entwickelt haben. Für Diamond ist der kollektive Verlust der Erinnerung an frühere Fälle von Machtmissbrauch eine wichtige Waffe in den Händen der heutigen Regierung. Darum liege ziemlich klar auf der Hand, warum die heutigen Machthaber eine „Wüste des organisierten Vergessens“ schaffen wollen.

Das historische Gedächtnis der Amerikaner ist das entscheidende Kampffeld, auf dem wir die verlorene Privatsphäre und die Bürgerrechte zurückgewinnen müssen. Wer sich in diesem Kampf engagieren will, muss angesichts der „Wüste des organisierten Vergessens“ versuchen, die verdorrten kollektiven Erinnerungen zu neuem Leben zu erwecken. Die Rückereroberung des verlorenen historischen Territoriums in einem Land, in dem der Geschichtsunterricht durch stupide Multiple-Choice-Tests ersetzt wurde, ist freilich ein extrem schwieriges Unterfangen.

In seinem Roman „Unterwelt“ lässt Don DeLillo sein Alter Ego fragen: „Hat sich der Staat von der Paranoia der Individuen anstecken lassen – oder war es umgekehrt?“ Heute kennen wir die Antwort. Die US-Amerikaner haben sich inzwischen so sehr mit der permanenten Überwachung arrangiert, dass ihnen nur noch die Wahl zwischen Gedächtnisverlust und Paranoia bleibt.

Fußnoten: 1 Der nach dem demokratischen Senator Frank Church benannte Church-Ausschuss untersuchte Mitte der 1970er Jahre geheime Programme der Regierung und der Geheimdienste. Dazu gehörten etwa die Überwachung und Diskreditierung linker Organisationen in den USA und Pläne der CIA zur Ermordung ausländischer Staatschefs. 2 Das Information Awareness Office (IAO) wurde im Januar 2002 gegründet und unterstand dem Pentagon. Die Arbeit des IAO sollte darin bestehen, alle verfügbaren Merkmale der Bürger in einer Datenbank zusammenfassen und diese, offiziell zum Zwecke der Terrorismusbekämpfung, nach verdächtigen Mustern zu durchsuchen. 2003 stellte der US-Kongress die Finanzierung des IAO ein. Aus dem Englischen von Nicola Liebert David Price ist Professor für Anthropologie an der Saint Martin’s University in Lacey, Washington, und Autor von „Weaponizing Anthropology: Social Science in Service of the Militarized State“, Petrolia, CA (CounterPunch Books) 2011.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2013, von David Price