Im Stechschritt in die Moderne
Japan im Ersten Weltkrieg von Christian Kessler
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Japan nur einen Hafen, der für den internationalen Handel offen war. Das änderte sich schlagartig nach Ankunft der „schwarzen Schiffe“ aus Amerika: Im Jahr 1853 liefen die vier US-amerikanischen Fregatten „Mississippi“, „Plymouth“, „Saratoga“ und „Susquehanna“ unter dem Kommando von Admiral Matthew Calbraith Perry im Hafen von Uraga (heute Yokohama) ein, belagerten die Stadt und erzwangen von der Tokugawa-Regierung ein Jahr später den ersten Handelsvertrag. Es lag nicht zuletzt an Perrys „Kanonenbootdiplomatie“ (gunboat diplomacy), dass Japan der Aufrüstung fortan eine vorrangige Rolle zuwies: „Reiches Land, starke Armee“ wurde zum Leitziel der Meiji-Ära (1868–1912), der großen Modernisierungsepoche Japans. Um den Rückstand ihres Landes aufzuholen, gingen die Meiji-Oligarchen von nun an auf allen Gebieten – vom Heer bis zum Verwaltungsaufbau – beim Westen in die Lehre.
Zweihundert Jahre Isolationismus wurden kurzerhand über Bord geworfen, und Japan hatte nur noch eines im Sinn: Es wollte wie seine westlichen Lehrmeister imperiale Großmacht werden. Nach der Modernisierung der Armee zettelte Tokio im Abstand von zehn Jahren zwei Kriege an: zuerst gegen China (1894/1895), dann gegen Russland (1904/1905). Letzterer endete mit einem japanischen Sieg, der großes Aufsehen erregte: Zum ersten Mal war ein Volk der „weißen Rasse“ besiegt worden. Japan besetzte Korea, Formosa (Taiwan) und den Südteil der Insel Sachalin und richtete im Süden der Mandschurei ein Protektorat ein, um dort seine wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Die Bühne war bereitet für den zweiten Versuch, das Reich der Mitte zu erobern.1 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde den Westmächten klar, dass man mit Japan rechnen musste.
Die Japaner hatten es auf das im Süden der chinesischen Halbinsel Shandong gelegene Gebiet Kiautschou mit der Hafenstadt Tsingtau (heute Qingdao) und dessen Umland abgesehen. Kiautschou war damals eine Kolonie der Deutschen, die den Chinesen 1898 einen Pachtvertrag aufgezwungen hatten.
Japan erobert Tsingtau
Die Gelegenheit, Kiautschou zu erobern, bot sich den Japanern mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Gerangel der europäischen Großmächte um Landbesitz in Übersee hatten die Briten in Japan einen Bündnispartner gefunden. Im Jahr 1902 kam es zu einer anglo-japanischen Allianz, die 1905 und noch einmal 1911 erneuert wurde. Die beiden Länder verpflichteten sich zur gegenseitigen Unterstützung im Falle eines Angriffs von außen.
Als London am 7. August 1914 Tokio bat, die deutschen Seestreitkräfte im Pazifik zu überwachen, nutzte die japanische Regierung die Gelegenheit und stellte Berlin ein Ultimatum, in dem sie den Abzug aller deutschen Schiffe aus den chinesischen und japanischen Territorialgewässern forderte. Der deutsche Kaiser lehnte ab, woraufhin die Japaner, ohne auf die plötzlich auftretenden Bedenken der Briten einzugehen, Tsingtau belagerten und nach zwei Monaten schließlich einnahmen – eine überaus wirkungsvolle Aktion. So viel hatten die Briten gar nicht verlangt, lediglich um Unterstützung durch die japanische Marine hatten sie gebeten; Japan indes griff ohne zu zögern das Land an, dem es die Grundzüge seines Verfassungsrechts und seiner Militärdoktrin verdankte.
Als Folge der Eroberung wurden im Dezember 1914 etwa 5 000 deutsche, aber auch österreichische, ungarische und polnische Gefangene auf dem japanischen Archipel interniert. Die Häftlinge hausten in Behelfsunterkünften, innerhalb der Umwallung alter buddhistischer Tempel oder hastig umfunktionierter Verwaltungsgebäude. Ein Dutzend provisorische Lager befanden sich auf der Südhälfte der Hauptinsel Honshu und auf den beiden südlichen Inseln Shikoku und Kyushu.
Die Sieger hielten sich an das Völkerrecht. Die Kriegsgefangenen hatten weitgehende Freiheiten und konnten sich sogar kreativ betätigen. Der deutsche Sondergesandte Hans Drenckhahn, der vom japanischen Marineminister eingeladen worden war, die Lager zu inspizieren, berichtete im Frühjahr 1915, die 200 Gefangenen des Lagers Tokushima hätten bereits eine Zeitung und ein Orchester gegründet.2 Unter den Gefangenen befanden sich nämlich nicht nur Soldaten, sondern auch Techniker, Ingenieure und zahlreiche Kaufleute, die vom deutschen Kaiser nach Tsingtau entsandt worden waren, um die Kolonie zu erschließen. Hinzu kamen außerdem Journalisten, Schriftsteller, Juristen und Lehrer.
Zum 100. Jahrestag des Versailler Friedensvertrags hat die österreichische Botschaft im vergangenen Sommer in Tokio eine Fotoausstellung eröffnet, die das Leben im Lager Aonogahara dokumentiert, das im September 1915 für 250 Deutsche und 230 Österreich-Ungarn errichtet worden war. Auf den Bildern sieht man die Gefangenen auf dem Feld oder in Fabriken arbeiten, gegen Japaner Fußball spielen und im Orchester musizieren. Für den Eigenbedarf durften sie sogar Schweine züchten und kleine Gemüsegärten anlegen.
Natürlich war nicht alles rosig. Die Gefangenen lebten auf engstem Raum zusammen, es gab keinerlei Privatsphäre, und das Ende der Gefangenschaft war ungewiss. Es gibt zahlreiche Berichte über Streitereien und Handgreiflichkeiten, sowohl zwischen Landsleuten als auch zwischen Deutschen und Polen. Die Ausstellung dokumentiert zum Beispiel die Geschichte eines Elsässers, der von seinen deutschen Mitgefangenen in den Selbstmord getrieben wurde.
Auf Bitten der deutschen Regierung inspizierten Anfang 1916 amerikanische Botschaftsangehörige – die USA waren zu diesem Zeitpunkt noch neutral – das Lager, weil sich die Insassen über die schlechten hygienischen Zustände beschwert hatten. Um die Lebensbedingungen insgesamt verbessern zu können, aber auch aus Kostengründen ließ die japanische Heeresführung ab 1917 sämtliche Gefangenen in sechs Lagern zusammenlegen, wo sie bis zu ihrer Entlassung Anfang 1920 blieben: Die 1 000 Gefangenen aus den Lagern Matsuyama, Marugame und Tokushima auf der Insel Shikoku wurden im April 1917 im Lager Bando, im Nordosten der Insel, auf dem rund fünf Hektar großen Gelände einer ehemaligen Militärkaserne untergebracht.
Beethovens Neunte als zweite Hymne
Wie andere Lager auch gab Bando eine eigene Zeitung heraus, die an Ort und Stelle in einer Auflage von knapp 300 Exemplaren gedruckt wurde und eine Art Chronik des Lageralltags darstellt. Die Gefangenen trieben anscheinend sehr viel Sport, brachten den Japanern das Fußballspielen bei, gingen im nahe gelegenen Fluss schwimmen und hielten Vorträge über chinesische Kultur, Geschichte und Geografie. In der Zeitung wurden außerdem die Theateraufführungen und Konzerte des Lagers besprochen.
Das Lagerorchester von Bando – mit einem reinen Männerchor – spielte zum ersten Mal Beethovens Neunte Symphonie auf japanischem Boden. In Japan ist das Werk mittlerweile zu einer „zweiten Nationalhymne“ geworden.3 Heute wird überall im Land, von der Großstadt bis zum kleinsten Dorf, das neue Jahr mit tausendfachen Aufführungen der Neunten begrüßt, die auch als „Mythos der japanischen Moderne“ bezeichnet wurde.4
Durch den Friedensvertrag von Versailles im Juni 1919 verbesserten sich die Haftbedingungen weiter, und ein Jahr später waren die Gefangenen frei. Manche kehrten nach China zurück, andere ließen sich in Japan nieder, wie Hermann Bohner, der Begründer der deutschen Japanologie. Das symbolträchtige Lager Bando, heute eingemeindet in die Stadt Naruto, ist mittlerweile eine viel besuchte Gedenkstätte. Im Dokumentationszentrum „Deutsches Haus“ läuft Beethovens Neunte mit Männerchor als Endlosschleife.
Die deutsch-japanische Freundschaft wird überall hoch gelobt; es ist viel von der Verbrüderung zwischen Kriegsgefangenen, Wärtern und Einheimischen die Rede und von der guten Stimmung dank der humanen Lagerleitung.5 Ein sehr idyllisches und ziemlich überzeichnetes Bild, das einen anderen, viel schlimmeren Abschnitt der Geschichte verdrängt: Mit der dominierenden Darstellung von den vorbildlichen Lagern im Ersten Weltkrieg werden die Horrorzustände in den Lagern des Zweiten Weltkriegs als „bedauerlicher Zwischenfall der Geschichte“6 abgetan.
Ein anderer, verkannter Teil aus der Geschichte des Ersten Weltkriegs betrifft die japanisch-französischen Beziehungen. Seit 1907 bestanden zwischen Japan und Frankreich zwei Abkommen, das eine betraf Handel und Finanzen, das andere regelte die diplomatischen Beziehungen beider Länder. Letzteres garantierte beiden Seiten im Zuge einer „Break-up of China“-Strategie jeweilige Besitzanteile bei der geplanten Aufteilung des Reichs der Mitte. Tokio erkannte die drei Südprovinzen Chinas (Guangdong, Guanxi und Yunnan) als Einflussgebiet von Paris an und verpflichtete sich, den französischen Interessen in Indochina nicht in die Quere zu kommen; im Gegenzug respektierte Frankreich das japanische Einflussgebiet, insbesondere im Süden der Mandschurei und in der Mongolei. Für Frankreich war das Abkommen auch ein nützliches Mittel, um Deutschland zu isolieren.
Frankreich war sichtlich beeindruckt von der neuen japanischen Stärke. In den ersten Wochen nach Ausbruch des Kriegs startete Paris mehrere Anläufe, um von Tokio militärische Unterstützung zu bekommen. Japan sollte Truppen an die europäische Front schicken, wie Raymond Poincaré, Staatspräsident von 1913 bis 1920, in seinen Erinnerungen berichtet.7 Frankreichs Militärattaché in Tokio ließ dem damaligen Ministerpräsidenten René Viviani ausrichten, dass Japan bereit sei, „mehrere Armeekorps“ zu entsenden, worüber Viviani sogleich den Ministerrat in Kenntnis setzte. Anfang Dezember 1914 war Viviani höchst beunruhigt über die schlechten Nachrichten von der russischen Front und erklärte vor dem Ministerrat, man müsse, „koste es, was es wolle, die Japaner nach Europa holen und dafür jeden Preis zahlen, den sie verlangen, wie hoch er auch sein mag: notfalls Indochina“.8
Bereits am 16. August 1914 schrieb Georges Clemenceau, der zu diesem Zeitpunkt kein Regierungsamt bekleidete und rein publizistisch tätig war, in seiner Tageszeitung L’Homme libre: „Dass die japanische Armee auf unserem Schlachtfeld auftauchen könnte, halte ich für höchst unwahrscheinlich.“9 Schließlich dämpfte Außenminister Théophile Delcassé jeglichen Optimismus, indem er auf die schwierigen Verhandlungen mit den zögerlichen Japanern hinwies. „Japan hat es überhaupt nicht auf Indochina abgesehen“, erklärte er, „sondern wünscht lediglich, dass für den Handel mit unserer Kolonie die gleichen Zollbestimmungen gelten wie für Frankreich selbst.“10 Daraufhin, schreibt Poincaré, ermächtigte der Ministerrat Außenminister Delcassé, Japan in dieser Sache entgegenzukommen.11
Keine Truppen für Europa
Doch wie vorherzusehen war, landete kein einziger japanischer Soldat an Frankreichs Küste. Und was die Zollfrage betrifft, so wurde sie schließlich im Zweiten Weltkrieg gelöst – mit dem Einmarsch der japanischen Truppen im September 1940 in Indochina und dem Handstreich vom 9. März 1945, als die Japaner die französischen Garnisonen angriffen, die Kolonialtruppen entwaffneten und Frankreichs Herrschaft über Indochina vorerst beendeten.
Der Appell an Tokio zeugt nicht nur von einer gewissen Naivität in Paris, sondern auch vom tiefen Pessimismus in der Anfangsphase des Krieges. Viele Mitglieder der französischen Regierung glaubten nicht an einen Sieg über Deutschland. Tokio wiederum wollte in erster Linie von dem Konflikt profitieren, ohne in ihn hineingezogen zu werden. Das gelang auch. Japan bekam nicht nur Beethovens Neunte, sondern dank des Versailler Vertrags auch die deutschen Besitzungen in China.
Aus dem Französischen von Barbara Schaden
Christian Kessler ist Historiker und Gastdozent am französischen Athenäum in Tokio.