09.04.2010

Kotau vor Netanjahu

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Kotau vor Netanjahu

Nicht nur Frankreich lässt sich alles bieten von Alain Gresh

Die Regierung Netanjahu legt sich nicht nur mit der Obama-Administration in Washington an. Auch Frankreich wird, trotz der relativ proisraelischen Politik von Präsident Sarkozy, seit einiger Zeit recht rüde behandelt.

Am 17. Dezember 2009 umstellte die israelische Polizei das französische Kulturzentrum in Jerusalem, wo ein Festival palästinensischer Kultur stattfand. Angeblich wollte sie einen palästinensischen Aktivisten festnehmen, der die Veranstaltung besucht hatte.

Am 22. Juni 2009 wurde die Leiterin des französischen Kulturzentrums in Nablus von israelischen Soldaten aus ihrem mit einem CC-Schild gekennzeichneten Wagen gezerrt, zu Boden geworfen und verprügelt. Einer der Soldaten schrie sie an: „Ich kann dich töten!“

Im Januar 2009 verwüsteten israelische Soldaten im Zuge ihres Angriffs auf den Gazastreifen das Haus von Majdy Shakkura, dem französischen Konsularbeauftragten und Leiter des Kulturzentrums, wobei sie Geld und Schmuck mitgehen ließen. Shakkura war schon in den Monaten davor mehrfach belästigt und einmal sogar beschossen worden.

Schon im Juni 2008 hatte die französische Vizekonsulin in Jerusalem, Catherine Hyver, unter entwürdigenden Bedingungen 17 Stunden lang an einem Grenzübergang zum Gazastreifen verbringen müssen.

Und obwohl Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinem „Freund“ Nicolas Sarkozy zugesagt hat, den Wiederaufbau des Al-Quds-Krankenhauses in Gaza zu ermöglichen, hat sich nichts getan. Die Israelis verhindern die Einfuhr von Baumaterial – aus Sicherheitsgründen. Das könnte man sogar positiv sehen: Immerhin kann das Krankenhaus bei der nächsten israelischen Offensive nicht zerstört werden. Das gilt auch für die Gebäude und Infrastrukturanlagen in Gaza, die von der EU finanziert wurden (etwa der internationale Flughafen) und gegen deren Zerstörung die Union protestiert hat. Wobei von Schadenersatzforderungen, die Brüssel angekündigt hat, schon lange nichts mehr zu hören war.

Auf die Übergriffe gegen Repräsentanten Frankreichs hat das Außenministerium in Paris in keinem der Fälle entschieden reagiert. Erst als der Mossad bei seiner Aktion gegen den Hamas-Funktionärs Mahmud al-Mabhu, der am 19. Januar 2010 in Dubai ermordet wurde, auch französische Pässe benutzte, bat man den israelischer Botschafter zu einem Gespräch an den Quai d’Orsay. Die Ausweisung eines israelischen Diplomaten, wie sie von der britischen Regierung verfügt wurde, traut man sich offenbar nicht zu.

Die französische Regierung hat sich angewöhnt, alle Zumutungen seitens Israels kommentarlos zu schlucken. Außenminister Bernard Kouchner traf bei seinem Besuch in Israel im vergangenen November auch mit seinem israelischen Amtskollegen Avigdor Lieberman zusammen – einem Mann, dessen politische Äußerungen, wenn er Italiener oder Österreicher wäre, vermutlich als rassistisch oder faschistisch kritisiert würden. Kouchner ließ dabei auch verlauten, der Bau von 900 Wohneinheiten in Gilo (Ostjerusalem) sei „nicht politisch und sollte der Wiederaufnahme von Verhandlungen nicht im Weg stehen“.1 Unerwähnt ließ der Außenminister dagegen die israelische Einfuhrsperre für das Material zum Wiederaufbau des Krankenhauses in Gaza, der von Frankreich betreut wird. Auch erhob er keinen Protest dagegen, dass Studenten aus dem Gazastreifen nicht ausreisen dürfen, wenn sie ein Stipendium in Frankreich bekommen haben. Kein Wort auch zu der neuen israelischen Visapolitik, die den Mitarbeitern internationaler Nichtregierungsorganisationen die Einreise in die Palästinensergebiete erschwert. Am Ende beugte sich Kouchner auch noch dem Druck der Besatzungsbehörden, indem er auf einen Besuch in Gaza verzichtete.

Mehr Courage zeigte im März dieses Jahres Kouchners irischer Amtskollege Micheál Martin: Er umging das israelische Verbot und reiste über Ägypten nach Gaza ein. Nach diesem Besuch formulierte er eine „klare Botschaft“ an seine EU-Kollegen: „Die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft müssen schlicht mehr Druck ausüben, damit die Blockade aufgehoben wird und sich normale wirtschaftliche und humanitäre Austauschbeziehungen über die Grenzübergänge entwickeln können.“2

Blockade gilt als heikler Begriff

„Druck auf Israel“ – eine solche Vokabel hat Präsident Sarkozy nicht in seinem Repertoire. Gaza nach wie vor abgeriegelt, der Siedlungsbau in voller Blüte, die Friedensverhandlungen in der Sackgasse? Egal, man muss Netanjahu nur genügend umwerben, dann wird aus ihm noch ein Pazifist. In diesem Sinne beschloss die EU im Dezember 2008, während der französischen Ratspräsidentschaft und auf Initiative von Paris, die Beziehungen zu Israel zu „stärken“. Keine drei Wochen später begannen die israelischen Streitkräfte ihren Angriff auf den Gazastreifen.

Sarkozy unterstützte die Operation damals mit der Begründung, die Hamas habe den Waffenstillstand gebrochen. Schon ein Blick auf die Website des israelischen Außenministeriums, wo die palästinensischen Raketenangriffe aufgelistet sind, hätte ihm gezeigt, dass das Abkommen bis zum 4. November 2008 eingehalten wurde. Erst an diesem Tag wurde es durch die israelische Armee verletzt, mit einer tödlichen Kommandoaktion gegen die Hamas.

Während in Gaza die zerbombten Schulen und tausende zerstörter Wohnhäuser nicht wiederaufgebaut werden können, weil Israel die Einfuhr von Zement untersagt, zerbricht sich Christophe Bigot, der französische Botschafter in Israel, den Kopf über den korrekten Gebrauch des Begriffs „Blockade“. Den müsse man „eigentlich in Anführungszeichen setzen“, meint Bigot, weil ja eben doch Waren nach Gaza gelangen, „teils aus Israel, teils durch die Tunnel“.3

Im Dezember 2009 blies Bigot, bei dem man oft nicht weiß, wann er Frankreich in Israel und wann er Israel in Frankreich vertritt, zum Angriff auf den kühnen Entwurf einer EU-Erklärung zu Jerusalem, den die schwedische Ratspräsidentschaft vorgelegt hatte. Dem könne Paris nicht zustimmen, befand er in einem Interview: „Vor allem muss die Erklärung die positive (sic!) Entscheidung Benjamin Netanjahus für einen partiellen Siedlungsstopp berücksichtigen. Wir sollten diese Entscheidung begrüßen, auch wenn sie nicht alle unsere Erwartungen erfüllt.“4

Inzwischen geht nicht nur in Jerusalem der Siedlungsbau weiter, auch im Westjordanland wurde er nur (für sechs Monate) „eingeschränkt“, und auch dort sind 3 000 neue Wohnungen geplant. 2009 ist die Zahl der Siedler um 10 000 auf mehr als 300 000 angewachsen. Zudem unternimmt Frankreich nichts gegen die illegale Einfuhr von Erzeugnissen, die aus diesen Siedlungen stammen, und missachtet damit europäische Rechtsvorschriften, die erst am 25. Februar 2010 vom Europäischen Gerichtshof bestätigt wurden.

Stattdessen nimmt die Regierung die Organisatoren der Kampagne „Boykott, Desinvestition, Sanktionen“ (BSD) ins Visier: Am 12. Februar ermahnte die Strafrechtsabteilung des Justizministeriums in einer „Mitteilung“ die Staatsanwälte zu einem „konsequenten und entschiedenen Vorgehen gegen diese Machenschaften“.5 Das versteht man unter Unabhängigkeit der Justiz.

Die schwedische Initiative in der Jerusalemfrage charakterisierte das französische Außenministerium als „gefährlich und unausgewogen“. Und tatsächlich setzte Paris dann noch eine „Entschärfung“ der Erklärung durch. In der Endfassung wurde Jerusalem nun nicht mehr explizit als künftige Hauptstadt eines Palästinenserstaats benannt, sondern als „Hauptstadt zweier Staaten“, und statt von der „Souveränität“ der Palästinenser war nur noch von „territorialer Kontinuität“ die Rede.

Über die israelischen Regierungen der 1970er-Jahre hat der damalige US-Außenminister Henry Kissinger einmal ironisch angemerkt: „Wenn man ihnen nur zu 95 Prozent zustimmt, gilt man schon als gefährlicher Antisemit.“

So ergeht es jetzt auch Präsident Barack Obama, der zwar keine neue Israelpolitik betreibt, aber immerhin neue Töne anschlägt. Als sein Vizepräsident Joe Biden (der gern betont, man müsse nicht Jude sein, um Zionist zu sein) am 9. März 2010 nach Israel reiste, bekam er gleich eine diplomatische Ohrfeige ab: Am Tag seiner Ankunft verkündete Israel den Bau von 1 600 weiteren Wohnungen in Ostjerusalem. In der darauffolgende Krise zwischen beiden Ländern wurde deutlich, wie die Regierung Netanjahu mit ihrem amerikanischen Patron umspringt.

Zu diesem Verhältnis hat sich General David Petraeus – als Chef des Central Command auch für die Militärpolitik im Nahen und Mittleren Osten zuständig – am 16. März vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats wie folgt geäußert: Die Feindseligkeit zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn schüre die antiamerikanischen Gefühle in der Region, die von al-Qaida und dem iranischen Regime ausgebeutet würden.6 Und nach Presseberichten soll Vizepräsident Biden dem israelischen Ministerpräsidenten unmissverständlich erklärt haben, die israelische Politik sei Wasser auf die Mühlen der Dschihadisten und gefährde damit das Leben von US-Bürgern im Irak und in Afghanistan.

Weder die Demütigungen durch Netanjahu noch die Haltung führender Militärs konnten bislang eine Veränderung der Nahostpolitik Washingtons bewirken. Auch die Wiederaufnahme indirekter Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern dürfte zu keinen konkreten Ergebnissen führen. Angesichts dessen kommentiert Robert Satloff, Direktor des proisraelischen Thinktanks Washington Institute for Near East Policy (Winep), die Politik der Obama-Regierung mit einigem Zynismus: „Kein ernsthafter Beobachter glaubt an einen Durchbruch in naher Zukunft, aber diese aktive und dynamische Diplomatie nimmt den Kritikern und Skeptikern die Möglichkeit, neuen Unfrieden zu stiften. Zudem erlaubt es diese Politik der Regierung, das Iranproblem mit neuem Nachdruck auf die internationale Tagesordnung zu setzen.“7

Das bedeutet einfacher formuliert: Für das große Publikum inszeniert man einen „Friedensprozess“, während der Krieg gegen den Iran vorbereitet wird – erst danach ist an eine Einigung mit den Palästinensern zu denken. Nach diesem Rezept sind die israelischen Regierungen seit Jahrzehnten verfahren, allerdings angesichts wechselnder Feinde: anfangs Ägypten, dann dem Irak und heute dem Iran gegenüber. Nun ist allerdings Präsident Obama weit mehr als der israelischen Regierung daran gelegen, eine Lösung für das Palästinaproblem zu finden. Für Frankreich und die Europäische Union stellt sich daher die Frage, welchen Beitrag sie dazu leisten könnten.

Im Juni 1980 unterzeichneten die Mitglieder der damaligen Europäischen Gemeinschaft die Erklärung von Venedig, die nicht zuletzt auf Betreiben Frankreichs zustande kam. Darin forderte die Gemeinschaft die Anerkennung der Rechte der Palästinenser und bekräftigte ihre Ablehnung der Siedlungspolitik und aller Versuche, den Status von Jerusalem zu ändern. Zudem forderte sie erstmals, die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO in die Verhandlungen einzubeziehen. Von Washington wurde diese Erklärung ebenso umgehend zurückgewiesen wie von der israelischen Regierung, die den Europäern besonders vorwarf, dass sie die „arabische SS“ in den Friedensprozess einbinden wollte. 13 Jahre später wurde die PLO von Israel anerkannt – die Europäer hatten dazu den Weg bereitet. Doch das waren noch andere Zeiten. Und ein Frankreich, das noch den Mut zu einer Außenpolitik hatte.

Fußnoten: 1 Zitiert in „Les couleuvres de M. Obama et M. Kouchner“, Blog Nouvelles d’Orient, blog.monde-diplo.net, 19. November 2009. 2 „Gaza a year later“, International Herald Tribune, Paris, 5. März 2010. 3 Le Canard enchaîné, 21. Oktober 2009. 4 „Paris comes out against Swedish plan“, The Jerusalem Post, 3. Dezember 2009. 5 Über die „Durchführung dieser Anweisungen“ müssen die Staatsanwaltschaften dem Ministerium Bericht erstatten. Siehe Nouvelles d’Orient vom 18. März 2010. 6 Siehe Paul Woodward, Blog „War in Context“, 16. März 2010, und Mark Perry auf der Website von Foreign Policy, 13. März 2010. 7 „Biden’s Israel Visit and Its Aftermath“, Policy Watch, Nr. 1642, The Washington Institute for Near East Policy, 15. März 2010.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 09.04.2010, von Alain Gresh