Eine Reise von Ramallah nach At-Tuwani
Zwischen den Zonen des Westjordanlandes liegen Welten von Sandy Tolan
In einem schmalen Streifen des besetzten Westjordanlands lässt sich erahnen, wie sich die Freiheit anfühlen würde. Die größten Sperranlagen und Checkpoints wurden abgebaut. Nun können die Palästinenser mit dem Auto fast ungehindert von Jericho nach Ramallah und weiter Richtung Norden nach Nablus durchfahren. Innerhalb dieses Bruchstücks eines Bruchstücks vom Heiligen Land geht es wirtschaftlich voran, denn Produkte wie Seife, Olivenöl, Gemüse, Getränke und selbst das lokal produzierte Bier können wieder ins gesamte Westjordanland ausgeliefert werden. Sieben Prozent Wachstum meldete kürzlich die Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg.
In Jenin und Nablus sind Einkaufszentren aus dem Boden geschossen. Und in Ramallah, dem politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Westjordanlands, zeigen sich die ersten Vorboten von Wohlstand und entspanntem Alltag in neuen Geschäften und trendigen Bars. „Abends fette Beats der Spitzenklasse und jederzeit gepflegtes Essen“, wirbt die neue Lounge „Orjuwan“ auf ihrer Facebook-Seite: „Klassische Gerichte aus der Mittelmeerküche in neuen Kreationen auf Gourmet-Niveau“.
Willkommen in der Liberty-Enklave, wo zwar nur ein kleiner, aber wichtiger Teil der palästinensischen Gesellschaft einen Vorgeschmack davon bekommt, wie es wäre, das bessere Leben. Unbelastet von den demütigenden Straßensperren und ärgerlichen Verzögerungen durch die willkürlichen Entscheidungen von uniformierten Teenagern, schöpfen die Palästinenser aus Ramallah den minimalen Freiraum aus.
Vergiftete Schafe, Gülle im Olivenhain
Es lag auch an der „Professionalisierung“ der palästinensischen Sicherheitskräfte, ausgebildet unter Anleitung von US-Beratern, dass Israel die Besetzung des Westjordanlands zum Teil aufgehoben hat. Seitdem kann der palästinensische Präsident Mahmud Abbas darauf verweisen, dass sich der Alltag für einen Teil seines Volks spürbar verbessert hat. Und Israel hat die seltene Chance, sich ein großzügigeres Image zu verpassen, zu einem Zeitpunkt, als es wegen des Gazakriegs von allen Seiten Kritik hagelt.
Die Verbesserungen sind allerdings auf die „Zone A“ beschränkt, die im Rahmen des Oslo-Prozesses festgelegt worden war und in der die Palästinenser über eine begrenzte lokale Autonomie verfügen. Diese Entwicklung verstärkt freilich die seit langem brodelnden Ressentiments bei denjenigen Palästinensern, die in der „Zone C“ eingepfercht sind, denn die steht noch immer unter voller israelischer Kontrolle. Die Kluft zwischen beiden Gruppen ist offenbar das Nebenprodukt einer Strategie des „Teile und herrsche“, die einem Teil der palästinensischen Bevölkerung Vorteile bringt, den anderen Teil aber verbittert und demoralisiert.
„Klar, es gibt jetzt mehr Bewegungsfreiheit“, sagt Jeff Halper, Gründer des Israeli Committee Against Housing Demolitions (ICAHD). „Aber es ist nur Freiheit innerhalb des Käfigs.“ Die Beseitigung der Straßensperren in einem Teil des Westjordanlands bei gleichzeitiger Zerstückelung des größeren Teils des Territoriums in einzelne militärisch kontrollierte Gebietsfetzen entspricht genau den Plänen und Landkarten, die in den letzten Jahren von israelischen Generälen und Politikern der Rechten und des Zentrums propagiert wurden.1
Im Detail mögen diese Pläne voneinander abweichen, aber in allen wird der Zentralregion der Palästinensergebiete eine begrenzte Freiheit gewährt, während im Umkreis der meisten jüdischen Siedlungen und an den Grenzen – im Jordantal sowie entlang des Trennzauns zu Israel – das strikte Besatzungsregime aufrechterhalten bleiben soll.
Auf dem Gebiet der Zone C, das 60 Prozent des Westjordanlands umfasst, ist der freie Verkehr wegen der Straßensperren und Militärpatrouillen stark eingeschränkt. Dorfbewohner, die ihre Häuser ausbauen wollen, müssen mit israelischen Bulldozern rechnen. In nächtlichen Razzien dringen israelische Soldaten in die UN-Flüchtlingslager ein.2 Die Bewohner jüdischer Siedlungen schikanieren ihre palästinensischen Nachbarn: Sie vergiften deren Schafe, kippen Gülle in Olivenhaine und greifen Kinder auf dem Schulweg an. Aus Sicht dieser Palästinenser sind die halb befreiten Enklaven um Ramallah tatsächlich ein anderes Land.
„Ramallah ist nicht Palästina“, erklärt Muhammad Abdullah Ahmad Wahdan. Seine Stimme zischt vor Verachtung für die Palästinensische Autonomiebehörde und den Lifestyle ihrer Klientel, als er hinzufügt: „Das sind doch nur fünf Prozent der Palästinenser, die große Mehrheit leidet.“ Wir unterhalten uns in seinem blitzsauberen Wohnzimmer. Muhammads Familie lebt in einem Betonwohnblock des Flüchtlingslagers Qalandia nördlich von Jerusalem. Von hier ist man mit dem Auto in ein paar Minuten in Ramallah, aber die Stadt scheint so weit entfernt wie der Mars. Um das Lager herum zieht sich die israelische Trennmauer. Neuerdings heißt es sogar, die Israelis würden die Mauer verlegen, so dass sie mitten durch das Lager verläuft. Und Wahdan meint, die Autonomiebehörde könne nichts dagegen tun, in der Zone C sei sie vollkommen machtlos.
Wahdan hat den Traum längst aufgegeben, dass die Autonomiebehörde ihm wieder zu seinem Land mit den Oliven- und Zitrusbäumen verhelfen könnte, von dem seine Familie bei der Gründung des Staates Israel vor sechzig Jahren vertrieben wurde. „Diese Führung gibt uns nichts: keine Arbeit, kein Heimatland, keine Sicherheit.“ Er selbst hat einen Sohn während der Intifada verloren, jetzt will er für die Führung der Palästinenser nicht noch mehr Opfer bringen. Wahdans Frau, die den Tee hereinbringt, ist derselben Meinung: „Das sind die Leute, die unsere Kinder als Kanonenfutter benutzt haben.“
Wahdans 15-jähriger Enkel Anas mischt sich ein, der unter einem großen sepiafarbenen Foto seines gefallenen Onkels sitzt: „Sie wollten, dass wir für sie sterben, und das ohne Waffen“, regt er sich auf. „Ihre Kinder haben Autos und Villen. Ihnen gehören sogar Telefongesellschaften. Es gibt keine Gleichheit zwischen diesen Leuten und einem wie mir, der in einer Bruchbude wohnt und dessen Vater vielleicht nicht einmal genug Geld für Brot oder Kleidung hat.“ Auf die Frage, ob die jungen Leute in den Lagern ihre Unzufriedenheit nicht klarer artikulieren sollten, schaltet sich Anas’ Freund Munir ein: „Dann wird man uns sagen: Ihr seid doch bloß Kids aus dem Flüchtlingslager.“ Aber Munir hat Pläne. Er will später einmal Augenarzt werden.
Onlinespiele im Flüchtlingslager
Er beklagt sich über die Langeweile im Lager. Deshalb spielen er und seine Freunde oft Onlinespiele: „Was anderes kann man hier nicht tun. Gleich nebenan ist eine Militärbasis, dazu der Checkpoint, und nachts kommt die israelische Armee hier vorbei. Du bist schon froh, wenn du wenigstens ins Internetcafé gehen kannst.“ Früher waren Flüchtlingskinder wie Munir die Seele des Widerstands gegen die Besatzung, aber das ist heute vorbei: „Die ganze Wut wird von der depressiven Stimmung erstickt.“ Anas könnte sich vorstellen, dass sich das auch wieder ändern könnte, obwohl die Leute heute sagten, dass sie zu müde seien und Steine werfen auch keine Freiheit bringen würde.
Weder die Wut auf die eigene Führung noch die tiefe Verbitterung über die Klassengegensätze innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft sind etwas Neues. Diese Erfahrung haben die Leute im Gazastreifen, die in der ersten Intifada ihr Leben riskiert hatten, schon 1994 gemacht, als ihre „Befreier“, die PLO-Führer, aus ihrem Exil in Tunis eintrafen. Auf einmal wurden sie von Leuten regiert, die in Villen wohnten und in schwarzen Limousinen durch die Straßen von Gaza brausten. Dieselben Gefühle erzeugt jetzt die wachsende Kluft zwischen den Palästinensern aus Zone A und Zone C.
Es gibt nicht viele Palästinenser, die in beiden Welten zu Hause sind. „Für mich ist das eine vollkommen schizophrene Situation“, sagt Naela Khalil, die ihre Wochenenden bei ihrer Familie im Flüchtlingslager Balata bei Nablus verbringt und wochentags in der Redaktion der Tageszeitung al-Ayyam in Ramallah arbeitet. Die Journalistin hat vor kurzem aufgedeckt, wie die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) bei der Behandlung von Hamas-Aktivisten, die im Westjordanland im Gefängnis sitzen, gegen die Menschenrechte verstößt. Wir unterhalten uns in Ramallah im Café de la Paix. „Wenn ich mit meinen Freunden in Ramallah rede, ist das größte Problem, wie man abnimmt“, erzählt Naela Khalil. „Im Balata-Lager ist das größte Problem, wie man überlebt.“
Die Journalistin wundert sich über all die neuen Glaspaläste von Ramallah, die von naivem Zutrauen zeugen, dass sie intakt bleiben werden. „Die Leute in den Lagern stocken ihre Häuser nicht einmal auf. Sie wissen, wie es ist, wenn man in einer einzigen finsteren Nacht sein Haus verliert.“ Auch im Balata-Lager „haben die jungen Leute das Gefühl, von der Regierung benutzt zu werden. Sie dienen nur als Zunder für den nächsten Konflikt.“
Viele Palästinenser vertreten inzwischen schon die Ansicht, dass die PA den Interessen der USA und Israels dient, also „eine Vichy-Regierung“ ist, wie ein politischer Aktivist in Bethlehem lästert. Zum Jahresende 2008, in den ersten Tagen des israelischen Gaza-Feldzugs, kochte die Wut über. Naela Khalil erinnert sich: „Hier in Ramallah feierten die Leute in den Restaurants ihre Silvesterpartys, während Gaza bombardiert wurde. Zu dem Protestmarsch kamen nur 50 bis 60 Demonstranten, auf jeden kamen zwei Sicherheitsleute. Man kam sich richtig bedeutend vor, wie ein VIP!“
Über das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten kann sie sich noch heute aufregen: „Sie haben auf die Demonstranten eingeprügelt und Tränengas eingesetzt, sie wollten verhindern, dass sie zu den Checkpoints ziehen. Die haben uns einfach verprügelt.“ „Da staut sich langsam etwas auf“, meint sie zum Schluss.
In den entfernteren Regionen von Zone C regt man sich über die Autonomiebehörde weniger auf, sie scheint den Leuten fast egal zu sein. In den Hügeln um Hebron, 50 Kilometer südlich von Ramallah und doch Lichtjahre von den „pulsierenden Beats“ entfernt, ist der Alltag ein einziger Kampf gegen israelische Siedler und Soldaten. Es geht um jeden Fußbreit Boden und vor allem um die sich an den Hängen entlangwindenden staubigen Verbindungsstraßen zwischen den Wohnorten und Schulen.
„Die Siedler kamen immer mit Hunden, die sie auf uns hetzten“, erzählt die 13-jährige Manar, die in die achte Klasse geht. Manar lebt im Hügelland südlich von Hebron, das wegen seiner Grenznähe zur Zone C gehört. Ihr Zuhause ist ein „Dorf“, wo die Leute in Zelten und Höhlenwohnungen leben. Zur Schule in al-Fakheit braucht sie zu Fuß zwei Stunden.
Schlaglöcher auffüllen ist auch verboten
Die internationale Organisation Christian Peacemaker Teams (CPT), die mit einer Anlaufstelle im Dorf At-Tuwani vertreten ist, hat zahlreiche Zwischenfälle mit israelischen Siedlern dokumentiert. Da wurden palästinensische Schulkinder mit Steinen beworfen oder verprügelt, oder man hat ihnen die Schulranzen abgenommen. Wegen dieser Übergriffe ist die israelische Armee verpflichtet, die palästinensischen Kinder in die Schule zu eskortieren. Aber manchmal kommen die Soldaten nicht rechtzeitig, berichtet Manar, und dann geht sie nicht zur Schule: „Manchmal tragen die Siedler schwarze Kapuzen über ihren Gesichtern, da kriegt man wirklich Angst.“
Am 10. Dezember 2009 wanderten wir mit vielleicht 75 Kindern und ihren Lehrern zu Manars Schule. Es war ein Solidaritätsmarsch, den die Bewohner von At-Tuwani organisiert hatten. Die Straße ist in so schlechtem Zustand, dass nur Traktoren oder Autos mit Vierradantrieb durchkommen. Die Besatzungsmacht hat sogar das Auffüllen der tiefen Schlaglöcher untersagt.
Während die palästinensischen Schüler unter Gesang und dem Gedröhn einer Trommel die Staubstraße entlangziehen, erzählt Manar von ihren Ängsten: „Wenn ich mit meinem Vater im Auto nach Hebron fahre und wir dort drüben vorbeikommen“ – sie zeigt auf die israelische Siedlung Ma’on –, „fange ich vor Angst an zu schreien.“ Nach einer Weile verabschiedet sie sich höflich und reiht sich wieder bei ihrer Schulklasse ein.
Die Leute in den umliegenden Dörfern leiden nicht nur unter der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Sie fürchten auch, dass man ihre Häuser zerstört und ihr Land konfisziert. Einige Bauern bleiben Tag und Nacht bei ihren Schafen: aus Angst, dass man ihnen ihr Land wegnimmt, wenn sie ihre Herden aufgeben. Joshua Hough von den Christian Peacemakers hält diese Angst durchaus für berechtigt: „Wenn sie noch mehr von ihrem Land verlieren, geht es an ihre Existenz – sie können dann ihre Herden nicht mehr durchbringen“, meint Joshua Hough von den Christian Peacemakers. Der Amerikaner lebt zum Teil in At-Tuwani und hat mitbekommen, wie man den Palästinensern das Land scheibchenweise weggenommen hat.
Nach einem einstündigen Marsch kommen wir bei der Al-Fakheit-Schule an. Sie besteht aus Stahlgerüsten, die auf Betonplatten verankert und mit Segeltuch abgedeckt sind. Einige Lokalpolitiker halten Reden, in denen sie Bewegungsfreiheit und besseren Zugang zu den Schulen fordern. Dann verteilen die Lehrer Kugelschreiber.
Auf dem Rückweg nimmt mich Naim al-Adarah mit. Sein klappriger roter Toyota-Pick-up dient seit langem als provisorischer Schulbus.3 „Von der Autonomiebehörde kommt hier fast nie jemand vorbei“, sagt Naim. Und dann erzählt er vom einzigen Besuch eines Ministerialbeamten. Er hatte sich geweigert, in seinem kostbaren PA-Auto zu kommen, also mussten sie ihn auf eigene Kosten aus Ramallah abholen. Er war entsetzt über die Lebensbedingungen in dieser Gegend: „Der hatte überhaupt zum ersten Mal erfahren, dass dieser Landstrich zu uns gehört. Ich sagte ihm: ‚Wie kommt es, dass einer wie Sie – vom Ministerium – das nicht weiß?‘ “
Naim al-Adarah lacht leise und kann es immer noch nicht fassen: „Man hatte den Eindruck, der wusste wirklich nicht, was in seinem Land passiert.“ Er späht durch die zerkratzte Windschutzscheibe auf die tiefen Straßenfurchen vor uns und murmelt: „Man hat uns vergessen, leider.“
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Sandy Tolan lehrt an der USC Annenberg School for Communication & Journalism und ist Autor von „The Lemon Tree: An Arab, a Jew, and the Heart of the Middle East“, London (Bloomsbury) 2006. Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Lubna Takruri.