Venezuelas verlorene Jahre
von Marc Weisbrot
Als US-Außenministerin Hillary Clinton im März ihre Aufwartung in Brasília machte, äußerte sie die Hoffnung, Venezuela werde wieder zur Marktwirtschaft zurückkehren und das Privateigentum wiederherstellen.1
Seit Anfang 2003, als die Wirtschaft Venezuelas rekordverdächtig expandierte, konnten die Gegner von Präsident Hugo Chávez – also auch die meisten internationalen Medien und die Regierung in Washington – nur „heulen, warten und hoffen“, wie die Rock-’n’-Roll-Legende Buddy Holly einst sang. Sie alle wähnten das Ende des Ölbooms gleich um die Ecke. Doch seit dem ersten Quartal 2003, als die venezolanische Regierung die Kontrolle über den staatlichen Ölkonzern erlangte, wuchs die Wirtschaft um 95 Prozent. Innerhalb von fünfeinhalb Jahren wurde die Zahl der Armen halbiert, die extreme Armut sank um 70 Prozent, die Sozialausgaben stiegen auf das Dreifache. 2006 wurde Chávez von 63 Prozent der Wähler erneut zum Präsidenten gewählt, das beste Ergebnis seiner Karriere.
Als jedoch Ende 2007 die US-Wirtschaft in die Rezession abrutschte, brach auch die Konjunktur in Venezuela ein. Ab dem vierten Quartal 2008 stürzten die Weltmarktpreise für Rohöl in nur sechs Monaten von 137 auf 41 US-Dollar ab. 2009 schrumpfte die venezolanische Volkswirtschaft um 3,3 Prozent. Die Wünsche der Chávez-Gegner schienen in Erfüllung zu gehen: Der Ölboom war zu Ende, der wirtschaftliche Zusammenbruch stand vor der Tür.
Wenn man sich aber den Verlauf der Rezession in Venezuela genauer ansieht, erscheint sie als durchaus vermeidbar. Die privaten Konsumausgaben, die bereits seit Anfang 2008 zurückgegangen waren, brachen noch weiter ein, als im letzten Quartal 2008 der Ölpreis abstürzte. Damals hätte die Regierung ein massives Konjunkturpaket schnüren und die öffentlichen Ausgaben erhöhen sollen, um den Rückgang der privaten Nachfrage auszugleichen. Aber sie tat es nicht. Stattdessen ging das Wachstum der Staatsausgaben stark zurück und legte 2009 nur noch um 0,9 Prozent zu; 2008 waren es noch 16,3 Prozent gewesen.
Seit langem gibt es hinsichtlich der Haushaltspolitik eine Doppelmoral, die lange vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen multilateralen Kreditgebern verfochten wurde. Sie besagt, dass reiche Länder wie die USA oder Großbritannien große Haushaltsdefizite in Kauf nehmen dürfen, um einen wirtschaftlichen Abschwung zu verhindern – Entwicklungsländer aber dürften das nicht. Sie sollen vielmehr das genaue Gegenteil tun: die Staatsausgaben drosseln und damit die Haushaltsdefizite verringern.
Tatsächlich aber können auch Entwicklungsländer im Kampf gegen die Rezession eine expansive Fiskalpolitik betreiben. China zum Beispiel kam dank eines gigantischen Konjunkturprogramms inmitten der globalen Krise auf eine Wachstumsrate von 8,7 Prozent. Geholfen hat dabei natürlich, dass die chinesische Regierung die Banken zur Kreditvergabe verpflichten kann und das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ohnehin zu 20 Prozent aus öffentlichen Investitionen besteht.
Aber selbst Bolivien versuchte es rechtzeitig mit einem umfangreichen Programm – relativ zur Wirtschaft gesehen um ein Vielfaches größer als das der USA – und kam 2009 auf ein Wachstum von 3 Prozent. Das war der beste Wert auf dem amerikanischen Kontinent während die meisten anderen Volkswirtschaften schrumpften.
Die Voraussetzung, unter der Entwicklungsländer sich eine expansive Ausgabenpolitik leisten können, sind ausreichende Devisenreserven, damit sie eine Zahlungsbilanzkrise vermeiden können. Das unterscheidet sie von den USA, die ihre Importe in eigener Währung bezahlen können.
Venezuela erzielte 2008 durch seine Ölexporte einen hohen Zahlungsbilanzüberschuss, erhöhte also seine Dollarreserven. Als der Ölpreis abstürzte, verwandelte sich dieser Devisenüberschuss rasch in ein Defizit, jedoch nur für sechs Monate. Zur Bezahlung der Importe musste die Regierung ihre Devisenreserven anzapfen. Auf diese Weise brauchte die Wirtschaft nicht zu schrumpfen. Man hätte auch noch mehr Reserven auflösen können als die benötigten 10 Milliarden Dollar, denn man hatte immer noch 30 Milliarden auf der hohen Kante. Zudem hätte die Regierung die Kapitalflucht bekämpfen oder sich auch das nötige Geld auf dem internationalen Kapitalmarkt besorgen können. Die Auslandsverschuldung Venezuelas ist mit 11 Prozent des BIP relativ niedrig; die gesamte Staatsverschuldung entspricht nur 20 Prozent des BIP (zum Vergleich: die USA sind bei über 80 Prozent angelangt). Die Regierung hätte, wohlgemerkt, ihre Devisenreserven nicht für ein Konjunkturprogramm strapazieren müssen, sondern nur zur Bezahlung der Importe, die in einer expandierenden Wirtschaft zunehmen. Und sie hätte natürlich darauf achten müssen, dass eine ausreichende Grundreserve an Devisen erhalten bleibt.
All dies zeigt, dass das venezolanische Wirtschaftswachstum nicht so direkt vom Ölpreis abhängig ist, wie gemeinhin unterstellt wird. Die Regierung wäre in der Lage, auch bei schwankenden Ölpreisen ein stetiges Wirtschaftswachstum zu gewährleisten, zumal bei einer so günstigen Kombination aus niedriger Auslandsverschuldung und hohen Devisenreserven.
Das zweite große Problem für die Wirtschaft ist die Währungsparität: Der Bolívar ist seit sieben Jahren überbewertet. 2003 hatte die Regierung den Wechselkurs zum US-Dollar auf 1 600 : 1 festgelegt (das entspricht 1,6 neuen Bolívares). Seitdem wurde der Bolívar zweimal abgewertet, und zwar erstmals im Jahr 2005 auf 2,15 Dollar.
Aufgrund dieser starren Dollarbindung war die venezolanische Währung zunehmend überbewertet. Denn die Inflationsrate des Landes liegt mit 21 Prozent im Durchschnitt der letzten sieben Jahre weit höher als die ihrer Handelspartner. Nimmt man den Kurs von 2003 als angemessenen Wert, hätte der Wechselkurs bei Berücksichtigung der Inflation Anfang dieses Jahres 5,13 Bolívares für den Dollar betragen. Der fixe Wechselkurs bedeutete also, dass der Bolivar Anfang 2010 um mindestens 130 Prozent überbewertet war.
Die Regierung hat nichts für eine Diversifizierung getan
Die Folge war, dass sich alle venezolanischen Exporte verteuerten, mit Ausnahme des Öls, das in Dollar abgerechnet wird. Wenn eine Ware für 1 000 Bolívares verkauft werden soll, kostet sie auf dem Weltmarkt bei einem fixen Wechselkurs von 2,15 rund 465 Dollar; bei einem freien Wechselkurs wären es nur 195 Dollar. Umgekehrt werden Importe künstlich verbilligt, was für die einheimischen Produzenten ein Handicap ist. Das macht es schwer, wenn nicht unmöglich, die Volkswirtschaft zu diversifizieren und vom Öl unabhängiger zu machen. Und tatsächlich hat die Regierung in den letzten sieben Jahren nichts in Richtung einer Diversifizierung unternommen.
Am 9. Januar 2010 wurde der Bolívar endlich abgewertet. Sein Kurs steht jetzt bei 4,3 : 1 zum Dollar, der allerdings nicht für alle Importe gilt. Für Produkte in wichtigen Bereichen wie Nahrungsmittel, Bildung, Wissenschaft und Technik, Gesundheit, Maschinen und Ausrüstungen, Rücküberweisungen von Arbeitsemigranten und Auslandsstipendien venezolanischer Studenten ist der Wechselkurs 2,6 : 1.
Diese Abwertung des Bolívar macht venezolanische Produkte zwar konkurrenzfähiger, dürfte aber noch nicht ausreichen. Weil zugleich die Inflation schnell ansteigt, wird sich die reale Überbewertung zügig fortsetzen. Die Inflationsrate als solche ist dabei ein nachrangiges Problem. Sie ging von 2008 auf 2009 zwar von 30,9 Prozent auf 25,1 Prozent zurück, muss aber noch weiter fallen. Immerhin bewegt sie sich auf die 20-Prozent-Grenze zu, unterhalb derer sie nach Meinung vieler Volkswirte das Wirtschaftswachstum nicht mehr beeinträchtigt (die These ist allerdings unter Ökonomen stark umstritten).
Venezuela würde mit einer flexibleren, aber immer noch kontrollierten Währungspolitik wahrscheinlich besser fahren. Das Land sollte also – unter Beibehaltung der Kapitalverkehrskontrollen – an einem wettbewerbsfreundlichen Wechselkurs festhalten, um von der reinen Ölökonomie wegzukommen. Das würde zumindest die Voraussetzungen für eine ökonomische Entwicklungsstrategie schaffen, die in der westlichen Welt – nach Jahrzehnten des Neoliberalismus – noch kein Staat systematisch verfolgt hat.
Inzwischen liegt der Ölpreis wieder bei 80 Dollar pro Barrel. Der venezolanischen Regierung sollte es also nicht schwerfallen, 2010 wieder ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum zu erzielen – wenn sie das will. Die US-amerikanische Energy Information Administration geht von einem stetigen Anstieg der Ölpreise auf 98 Dollar per Barrel bis zum Jahr 2020 aus. Venezuela sitzt nach eigenen Schätzungen auf den größten Ölreserven der Welt. Von den geschätzten 500 Milliarden Barrel (doppelt so viel wie Saudi-Arabien) fördert das Land weniger als eine Milliarde pro Jahr.
Die Chávez-Regierung hat damit eigentlich einen beträchtlichen Spielraum, neue ökonomische und politische Strategien zu erproben und von den Fehlern wie den Erfolgen der Vergangenheit zu lernen. Voraussetzung ist, dass sie die Kontrolle über die Ölvorkommen behält und die Weichen für die weitere Entwicklung der Volkswirtschaft richtig stellt.
Aus dem Englischen von Dietmar Bartz Marc Weisbrot ist einer der Stellvertretenden Direktoren des Center for Economic and Policy Research, Washington, D.C. (www.cepr.net).