Die Ölsande von Alberta
von Emmanuel Raoul
Zwischen Mitte Dezember und Mitte März führt eine Straße in die Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta: Die „Eisstraße“ überquert fünf zugefrorene Flüsse und ist im Winter der einzige Landweg nach Fort Chipewyan, 700 Kilometer nördlich von Edmonton. In der übrigen Zeit des Jahres macht man die Reise ohnehin in einem kleinen Flugzeug.
„Fort Chip“, 1788 als Niederlassung für den Pelzhandel gegründet, war die erste britische Kolonie in Alberta. Trotz des atemberaubenden Blicks auf den Athabascasee und seine bewaldeten Inseln steht das einzige Hotel seit Jahren zum Verkauf – der Tourismus ist hier nie in Gang gekommen. Doch die Journalisten, die Atlanta besuchen, interessieren sich ohnehin nicht für die Geschichte oder die Schönheit der Landschaft, sondern nur für die alarmierende Krebsrate, die 30 Prozent über dem Durchschnitt liegt.1 Die Ursache könnte, so vermuten hier viele, 230 Kilometer stromaufwärts liegen, wo sich der Fluss Athabasca zwischen den riesigen Abbaustätten und Klärbecken der Erdölindustrie hindurchschlängelt. Allein die Klärbecken bedecken eine Fläche von 130 Quadratkilometern.
Hier wittert derzeit die Ölindustrie das große Geschäft: Mehr als 170 Milliarden Barrel Erdöl – das zweitgrößte Vorkommen der Welt – lagern im Sand unter den nordischen Wäldern, auf einer Fläche, die doppelt so groß ist wie Bayern. Die Gewinnung und Verarbeitung dieses Ölsands2 erfordern Unmengen Wasser (für einen Barrel Erdöl wird die fünffache Menge Wasser verbraucht) und verursachen irreparable Umweltschäden.
„Ein oder zwei Tote pro Jahr waren vor fünfzig Jahren schon viel für unsere Gemeinde. 2009 haben wir allein im April sieben Leute begraben. Was ist hier los?“ Alec Bruno kratzt auf seinen Rubbellosen herum und klingt fatalistisch: „Ich weiß nicht, was hier in ein paar Jahrzehnten für die nachfolgenden Generationen noch übrig bleiben soll. Unser Volk lebt von der Erde, und das alles verschwindet gerade.“ Er räumt die Scheine weg; der Hauptgewinn wird ein andermal gezogen.
Bruno sitzt als Vertreter des Indianerstamms Chipewyan Athabasca3 in den Beiräten, die die Erdölkonzerne eingerichtet haben, und macht sich keine Illusionen: „Wenn sie zu uns kommen, haben sie doch schon ihre Genehmigungen. Wir können sie nicht aufhalten, wir versuchen nur, sie dazu zu bringen, dass sie anders arbeiten, um die Auswirkungen auf die Umwelt zu begrenzen und die Risiken für uns, die wir flussabwärts leben, so gering wie möglich zu halten.“
Vor gut zehn Jahren fingen die Einwohner von Fort Chipewyan zum ersten Mal missgebildete Fische, die nach Öl schmeckten. Dann diagnostizierte der örtliche Arzt gleich bei mehreren Patienten einen äußerst seltenen Gallenkrebs, an dem normalerweise einer von hunderttausend Menschen erkrankt – in einer Gegend, in der knapp tausend Menschen leben. Im Frühjahr 2006 stellte Doktor John O’Connor öffentlich die Frage nach der Verantwortung der Erdölindustrie. Daraufhin leitete das kanadische Gesundheitsministerium Ermittlungen gegen ihn ein, wegen „unprofessionellen Verhaltens“, mit dem er „grundlose Beunruhigung“ auslöse. Die Vorwürfe trafen ihn so sehr, dass er die Gegend 2007 verließ.
Unliebsame Resultate einer Gesundheitsstudie
Nach jahrelangem Abstreiten ließ die Gesundheitsbehörde von Alberta eine Studie durchführen, die Anfang 20094 zu dem Ergebnis kam, dass es sich hier tatsächlich um eine erhöhte Krebsrate handelt. Allerdings sei diese Aussage nur von begrenztem Wert, weil sie „auf einer geringen Anzahl von Fällen“ beruhe. Kein Grund zur Beunruhigung also.
Zu möglichen Ursachen für die erhöhte Krebsrate äußerte sich die Studie nicht. Diese sei womöglich „dem Zufall, verbesserten Untersuchungsmethoden, Veränderungen in der Lebensweise oder der Umwelt“ zuzuschreiben. Im November 2009 kehrte Doktor O’Connor – offiziell rehabilitiert – in die Region zurück: „Ich hatte mein Ziel erreicht, die Aufmerksamkeit zu wecken, die Fort Chip seit Jahren einforderte. Ich behaupte nicht, dass der Ölsand Krebs verursacht, ich werfe nur die Frage auf.“
Krebserkrankungen sind von vielen Faktoren abhängig, meist lässt sich keine alleinige Ursache erkennen. „Die Frage ist aber, ob die Menschen über die Luft, das Wasser, die Fische und andere Tiere so viele Giftstoffe aufnehmen, dass die ihre Gesundheit angreifen“, erklärt Kevin Timoney. Er wurde von der Gemeinde Fort Chip beauftragt, die Verschmutzung im Fluss unterhalb der Lagerstätten zu untersuchen. Bei manchen Fischen hat er Quecksilberwerte gefunden, die um das Zehn- bis Fünfzigfache erhöht waren, außerdem unterhalb der Abbaustellen einen deutlich erhöhten Anteil an Kohlenwasserstoffen.5
Für die Behörden haben die erhöhten Kohlenwasserstoff- und Quecksilberwerte eine natürliche Ursache: Sie stammen aus den Ölsanden, die an manchen Stellen bis ans Flussufer heranreichen. Dies wollte eine Gruppe renommierter Forscher überprüfen. Am 6. Dezember 2009 stellten sie in Fort Chipewyan ihre Ergebnisse vor: Die Industrie bläst große Mengen sogenannter polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAK, von denen einige die Atemwege angreifen und andere nachweislich krebserregend sind) in die Atmosphäre – und zwar so viel, als gäbe es hier jedes Jahr eine Ölpest.6
Im Umkreis von 50 Kilometern um die Anlagen, die das Öl aus dem Sand extrahieren und anschließend in Schweröl verwandeln – eine notwendige Zwischenstufe vor der eigentlichen Raffinierung –, findet man Bitumen im Schnee. Im Athabasca und seinen Nebenflüssen beträgt die PAK-Konzentration das bis zu Fünfzigfache der Norm, was die Fehlbildungen der Fische erklären könnte. Schwangeren und Kindern wurde empfohlen, nur einmal in der Woche Fisch zu essen, obwohl die traditionelle Ernährung der Indianer auf Fischfang und Jagd beruht.
„Diese seltenen Formen von Krebs sind für uns wie ein Angriff der Monsterbakterien“, schimpft Mike Mercredi, auf dessen Mütze ein Abbild von Che Guevara prangt. „Die lassen zu, dass die Krankheit mein Volk tötet.“ Gleich nach dem Abitur hat Mercredi angefangen, für die Ölfirmen zu arbeiten. Für 5 000 kanadische Dollar (3 500 Euro) im Monat fuhr er die dicksten Lastwagen der Welt.7 „Als meine Tante, mein Onkel und ein 27-jähriger Freund an Krebs gestorben sind, dachte ich mir: ‚Deine Arbeit bringt sie um!‘ Ich bin aus meinem Laster gestiegen und habe gekündigt.“ Im Februar 2007 hat ihn sein Stamm Chipewyan Athabasca eingestellt: „Sie befürchteten, dass hier eines Tages kein Leben mehr möglich sein wird. Ich sollte also das traditionelle Wissen zusammentragen, um zukünftigen Generationen zu zeigen, wie das Leben vor der industriellen Entwicklung hier aussah. Dann habe ich überlegt: Wie können wir den Untergang meines Volks und die Zerstörung dieses Landstrichs verhindern? Die Ausbeutung des Ölsands muss aufhören!“ Seither verkündet Mercredi diese Botschaft auf vielen Konferenzen im ganzen Land.
Während Mercredi mit seiner Stimme kämpft, klagt sein Stamm gegen die Provinz Alberta, die Pachtgrundstücke um einen alten Friedhof herum vergeben hat. „Die Regierung muss uns zu Rate ziehen, bevor sie so etwas macht. Das ist gesetzlich so geregelt“, erklärt der Stammesvertreter John Rigney.8 „Unsere Klage wurde abgewiesen, aber wir haben Berufung eingelegt und sind entschlossen, bis in die höchste Instanz zu gehen. Das wird ein verdammt schwerer Kampf. David gegen Goliath, und wir haben so wenig Geld.“
Mit ihren Milliarden Dollar sowie der Unterstützung von Provinz- und Bundesregierung scheint die Erdölindustrie unangreifbar zu sein. Um sich sozialen Frieden zu erkaufen, verteilen manche Firmen Brosamen: Der weltweit größte Produzent von Öl aus Ölsanden Syncrude Canada Ltd. finanzierte beispielsweise die Ausstattung des Jugendzentrums mit 500 000 Dollar. Im November 2009 lud der Konzern die Chipewyans zu einem prächtigen Weihnachtsessen ein. Der ehemalige Häuptling Archie Cyprien verteidigt die großzügigen Spender: „Syncrude tut viel für die Gemeinschaft, sie subventionieren uns und schaffen Arbeitsplätze. Die Erdölindustrie wird für einige Zeit hier bleiben. Damit sollten wir uns abfinden.“ Am Ende des Abends bekam jede Familie eine Pute, die Kinder Pralinen. „Das ist die angenehme Seite meiner Arbeit“, erklärt Steven Gaudet von Syncrude strahlend. „Die kanadischen Indianer begegnen uns mit unterschiedlichen Einstellungen, aber wir brauchen sie und wollen, dass ihre Gemeinschaften mit uns wachsen. Wir bieten ihnen Ausbildungs- und Arbeitsplätze: zwischen 8 und 10 Prozent unserer Beschäftigten sind Ureinwohner.“
Mercredi beeindruckt das kaum, er will sich nicht zum Narren halten lassen. „Die Verantwortlichen von Syncrude sorgen sich vor allem um das Image des Unternehmens“, sagt er. „Sie wissen genau, welchen Schaden sie anrichten, und um ihr Gewissen zu erleichtern, sagen sie der Welt: Dieses Dorf ist dem Untergang geweiht, aber seine Bewohner freuen sich sehr über unsere Puten.“
Syncrude behauptet, seit 1992 mehr als 1,2 Milliarden Dollar an Subunternehmen der Ureinwohner gezahlt zu haben. Fort Chipewyan hat nur wenige Verträge mit der Industrie geschlossen und steht damit allein. Im flussaufwärts gelegenen Fort McKay sieht es ganz anders aus. Mit sechs Lagerstätten in einem Umkreis von 30 Kilometern ist das Dorf, das einst inmitten von Sümpfen und Wäldern lag, heute umzingelt von Mondlandschaften aus grauem Sand. Künstliche Seen, in denen 720 Millionen Kubikmeter giftiger Brühe vor sich hin dümpeln, bieten den Vögeln eine ölige Friedhofsruhe. Neben schweflig-gelben Hügeln spucken Fabrikschlote Flammen und Rauchschwaden aus. „Es ist eine schwierige Entscheidung“, gesteht Häuptling Jim Boucher, „aber wir versuchen dafür zu sorgen, dass unsere Gemeinschaft die Fähigkeit entwickelt, aus diesen Möglichkeiten etwas zu machen.“
Fort McKay Group of Companies ist ein Konsortium, das zu 100 Prozent den Ureinwohnern gehört. 2007 machte es mit verschiedenen Dienstleistungen für die Industrie 85 Millionen Dollar Umsatz. Es hat auch mit dem britisch-niederländischen Shell-Konzern einen Vertrag abgeschlossen, um gemeinsam 33 Quadratkilometer Ölsand auszubeuten. Die Bewohner haben sich an die Abbauverfahren und an den Ölgeruch in der Luft gewöhnt. Der Häuptling zählt stolz auf, wie der Ort davon profitiert hat: weniger als 5 Prozent Arbeitslosigkeit, ein Krankenhaus, ein Jugendzentrum, 170 neue Wohnungen.
Die verschwundene Welt der Chipewyan
Von den Behördenvertretern will keiner mit Journalisten reden. Die 71-jährige Celina Harpe dagegen schon. Sie ist in Fort McKay zu Hause. In ihrem Häuschen am Athabasca erinnert sie sich an eine verschwundene Welt: „Mein Leben lang habe ich das Wasser aus diesem Fluss getrunken. Aber seit es diese Fabriken gibt, geht das nicht mehr. Es ist bräunlich geworden, man braucht kein Wissenschaftler zu sein, um zu sehen, dass man es nicht trinken kann. Also müssen wir Wasser in Flaschen kaufen.“ Ihr Mann schwenkt eine Halbliterflasche: „Sie kostet im nächsten Laden zwei Dollar. Ganz schön teuer für Wasser, finden Sie nicht?“
Vor einigen Jahren hat Celina Harpe von den Vertretern von Suncor und Syncrude Ersatz verlangt: „Ihr habt das Wasser vergiftet, jetzt müsst ihr uns welches geben!“ Ihr Mann erzählt: „Jetzt liefern sie zweimal im Monat Wasser gratis, aber nur den Alteinwohnern, die anderen müssen zahlen.“ Celina Harpe holt die Mokassins aus echtem Leder und Biberfell, die sie in Handarbeit herstellt. „Ich bin in Fort McKay die Letzte, die noch näht. Unsere ganze Kultur ist verschwunden, unsere traditionelle Lebensweise existiert nicht mehr.“
45 Kilometer weiter südlich kann man sehen, was an die Stelle der traditionellen Lebensweise getreten ist. Pick-ups und Schwerlaster brettern über die Autobahn 63 nach Fort McMurray. Mitten im Wald auf einmal eine Festung der westlichen Konsumgesellschaft: Supermärkte, Shopping Mall, Fast-Food-Restaurants und Spirituosengeschäfte an jeder Straßenecke, Kasino und Striptease-Bars, Drogen aller Art und verstörte Obdachlose. Über lange Zeit musste sich das Trapper- und Holzfällerdorf den Spitznamen „Pelzfabrik“ gefallen lassen. Heute nennen die Leute den Ort „Fort McMoney“, weil das Erdöl vor allem für junge Arbeitssuchende nach Geld riecht. Die Einwohnerzahl hat sich seit dem Ölsandboom verdreifacht: von 34 000 (1994) auf 101 000 (2009).
Wie bewältigt die Stadt diesen Wandel? „Nicht sehr gut“, gesteht Melissa Blake mit einem Lächeln. Sie lenkt seit 2004 als Bürgermeisterin die Geschicke einer der flächenmäßig größten Kommunen der Welt: Die Regionalgemeinde von Wood Buffalo hat knapp die Größe von Irland. In ihren mehr als 63 000 Quadratkilometern Wald liegen verstreute Bergbau- und Industriestandorte. Fort McMurray ist hier die einzige Stadt. „Unsere Infrastruktur war nicht auf ein so massives Wachstum vorbereitet.“ Wegen des Bevölkerungswachstums – jährlich 8 Prozent – sind Immobilien hier landesweit am teuersten: ein Haus mit vier Zimmern kostet mehr als 620 000 Dollar. Krank sollte man besser nicht werden: Auf zehntausend Einwohner kommen 1,7 Ärzte, ein Notarzt muss in zwölf Stunden bis zu 156 Patienten versorgen.9
„Ich hasse diese Stadt. Ich habe sie schon siebenmal verlassen, aber ich komme immer wieder zurück, weil ich nur hier so viel Geld verdienen kann“, gesteht ein junger Mann in einer Bar. Als Arbeiter verdient er hier 32 Dollar pro Stunde, das Vierfache des Mindestlohns in seiner Heimatprovinz British Columbia. Allerdings haben 98 Prozent der Einwohner von Fort McMurray nicht vor, hier ihren Lebensabend zu verbringen10 . Deshalb ist ihnen auch ziemlich egal, dass die Erdölindustrie hier sowohl die natürliche Umwelt als auch die Zukunft der Indianer zerstört.
In einer Familie des Chipewyan-Stamms sitzen mehrere Generationen vor dem Fernseher und verdrücken Pizza und chinesisches Essen. Alle haben für die Erdölindustrie gearbeitet oder tun es noch. „Schon in der Schule bereiten sie uns darauf vor, mit Malheften oder Spielzeug. Es ist die reinste Gehirnwäsche“, erinnert sich eine junge Frau. „Wir haben keine andere Wahl: Wer nicht arm sein will, muss für sie schuften“, erzählt der 41-jährige Herman, der bei Suncor, Syncrude und Shell Baumaschinenführer war. „Früher lebten wir von der Jagd, jetzt bin ich ein ‚Sobeys boy‘11 geworden“. Herman war krank, will seine Arbeit aber bald wieder aufnehmen: „Ich hasse es, aber ich muss wieder hingehen, der Platz für meinen Wohnwagen kostet 1 400 Dollar im Monat.“ Auf den Stamm von Fort McKay sind sie hier schlecht zu sprechen: „Das Streben nach individuellem Erfolg hat unser Volk korrumpiert“, klagt einer. „Die Industrie hat uns gespalten.“
Beim Rat der Stämme des Athabasca kann man diese Spaltung beobachten. Der Rat vertritt die fünf indigenen Stämme der Region – etwa fünftausend Menschen – und steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Aber er hat keine politische Macht, da sich jeder Stamm selbst verwaltet. Der Vorsitzende Roy Vermillion äußert sich vorsichtig zum Thema Ölsand: „Die Stämme haben unterschiedliche Ansätze. Sie sorgen sich zwar alle um die Umwelt, haben aber, je nach Standort, nicht die gleichen Möglichkeiten. Ihre Stellung ist schwierig: Wie die meisten indigenen Völker fühlen sie sich als Beschützer von ‚Mutter Natur‘. Gleichzeitig gibt es aber eine weltweite Nachfrage nach Erdöl, die unsere Region bedienen kann. Wir bemühen uns um ein Gleichgewicht.“
Im Jahr 2003 haben die Indianer zusammen mit der Industrie und der Politik eine Vereinbarung ausgearbeitet, um auf die Entwicklung in ihren Territorien Einfluss nehmen zu können. Aber es wurde nichts daraus: „Die Beteiligten haben sich am Ende darauf geeinigt, dass sie nicht mehr zusammenarbeiten wollen“, sagt Vermillion. Die Partnerschaft wurde unlängst beendet und durch sogenannte Industry Relation Corporations (IRC) ersetzt, die das Verhältnis zwischen den Stämmen und der Industrie regeln sollen.
Tony Boschmann ist der IRC-Mann für die Chipewyan Prairie, 130 Kilometer südlich von Fort McMurray. „Die Entwicklung ist wie ein großes Tier“, sagt er, „das man nicht aufhalten kann. Wir helfen den Indigenen, mit diesem Monster zu überleben, damit sie mit ihren geschützten Traditionen in fünfzig Jahren noch existieren.“ Boschmanns Mitarbeiter Shannon Crawley, englischsprachiger Kanadier, ergänzt: „Sie mussten in sehr kurzer Zeit eine industrielle Revolution von etwa dreihundert Jahren nachholen. Häuptling Vern Janvier hatte vor fünfunddreißig Jahren den ersten Kontakt mit Weißen.“
Die Gemeinde ist von Erdölprojekten umringt. Da der Ölsand zu tief liegt, um im Tagebau gefördert zu werden, kommt hier vor allem die dampfunterstützte Schwerkraftdrainage (Steam Assisted Gravity Drainage, SAGD) zum Einsatz. Dabei werden zwei parallele Schächte in den Boden gebohrt. In den einen wird unter hohem Druck Dampf gepresst, der das Bitumen verflüssigt, und dann durch den anderen Schacht an die Oberfläche gepumpt. „Das ist eine nachhaltige Technik“, behaupten die Vertreter der Erdölindustrie allen Ernstes: Die SAGD verursache keine so schwerwiegende Umweltzerstörung wie die Zechen und verwende außerdem mehr und mehr Brackwasser.
Das Erste Gesetz der Erdölpolitik
Die Technik wurde in Alberta entwickelt und mit 55 Millionen Dollar vom Staat subventioniert – und sie ist immer noch nicht ausgereift: Im Mai 2006 verursachte der Dampf im Joslyn-Projekt des Energieriesen Total eine Oberflächenexplosion, die Felsen, Bäume und Bitumen in die Luft schleuderte und einen zwanzig Meter breiten Krater hinterließ. „Es fehlt einfach an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Auswirkungen der SADG“, sagt Boschmann mit Bedauern in der Stimme. „Wir wissen nicht, wie die Schichten unterirdisch zusammenhängen.“ Die SADG könnte die größte Grundwasserschicht Kanadas verseuchen, wenn sie Mini-Erdbeben auslöst und sich der Boden absenkt.12
Alberta hat keine Studien zu derartigen Techniken durchgeführt. Die zuständige Behörde genehmigt 95 Prozent der Projekte, ohne deren Auswirkungen zu untersuchen. Mehr als die Hälfte der 140 000 Quadratkilometer Ölsandfläche wurden bereits vergeben – ohne Studie. Boschmann warnt: „Die Investitionen sind riskant, denn die indigenen Völker haben ihre Rechte. Und sie werden dafür kämpfen.“
200 Kilometer südlich verklagen die Cri von Beaver Lake bereits die Provinz- wie auch die Bundesregierung wegen Verletzungen ihrer Rechte in immerhin 16 000 Fällen. Diese Rechte sind seit 1982 in der Verfassung verankert und stützen sich auf Verträge mit der britischen Krone vom Ende des 19. Jahrhunderts. Damals überließen die indianischen Völker den Briten riesige Territorien und erhielten im Gegenzug die Garantie, dort für immer in ihrer traditionellen Weise leben zu können.
Da es die Provinz Alberta zum Zeitpunkt der Unterzeichnung noch nicht gab, erkennt die Regierung die Verträge nicht an und meint, dass sie die Indianer nicht einzubeziehen brauche. Das tut stattdessen die Industrie, und zwar auf ihre Weise. Der Stammesvertreter Gerald Whitford zeigt auf zwei Regale voller Ordner. „Das alles bezieht sich auf ein einziges Erweiterungsprojekt für eine Ölgewinnungsanlage. Sie schicken uns das, und zwei Tage später rufen sie an und fragen: ‚Habt ihr Fragen?‘ Das nennen sie Konsultation.“
Die Umweltorganisation Pembina Institute hält die Klagen für die „letzte Bastion“, um die Natur zu bewahren. Denn die Provinz- und die Bundesregierung überlassen den Umweltschutz Organisationen, die von der Industrie finanziert werden und mit unzähligen beschwichtigenden Berichten alle Glaubwürdigkeit verspielt haben. Unabhängige Experten kritisieren auch das Regional Aquatic Monitoring Program, das die Wasserqualität kontrollieren soll – und die alljährliche Ölpest nicht bemerkt haben will.
Die Cumulative Environmental Management Association (Cema) schließlich soll die ökologischen Auswirkungen des Ölsandabbaus unter Kontrolle halten. Doch Ökologen und Ureinwohner haben die Sitzungen unter Türenknallen verlassen, weil für eine Entscheidung Einstimmigkeit verlangt wird – und die Industrie so jede wirksame Maßnahme blockieren kann. So hat eine Arbeitsgruppe acht Jahre gebraucht, um einen Plan auszuarbeiten, der bis zu 40 Prozent der Fläche der Regionalgemeinde Wood Buffalo bewahren sollte. Als er vorlag, waren die meisten Grundstücke längst vergeben.
Blindes Vertrauen und unerschütterlicher Technikoptimismus sind in Alberta normal. „Hier kontrollieren sich die Unternehmen selbst, und manche übertreiben es sogar mit den Zwischenfällen, die sie uns berichten“, erklärt Preston McEachern von der Umweltbehörde Alberta Environment. Als im April 2008 1 600 Vögel in einem Klärbecken von Syncrude verendeten, kam der Alarm allerdings von einem anonymen Informanten. Und als 2006 eine Schwefeldioxidwolke auf Fort McKay niederging, hatten die Stationen zur Kontrolle der Luftqualität nichts Auffälliges registriert. Erst als der Wind den Gestank zur mehrheitlich weißen Bevölkerung trug, wurde die betreffende Anlage geschlossen. Und wenn aus einem der künstlichen Giftseen wieder einmal Flüssigkeit in die Umgebung entweicht – manche sprechen von elf Millionen Litern pro Tag – dann ist das sowieso nicht der Rede wert.
In den Augen des Provinzjournalisten Andrew Nikiforuk wird Alberta vom „Ersten Gesetz der Erdölpolitik“ regiert: „Je höher die Einnahmen, desto schwächer die Demokratie.“ Die Konservativen regieren Atlanta seit neununddreißig Jahren und sind der Erdgas- und Öllobby ergeben. Nichtregierungsorganisationen fordern die Bundesregierung auf, endlich die Wasserressourcen und die auf sie angewiesenen Menschen zu schützen: 445 Millionen Kubikmeter Wasser werden dem Athabasca jährlich entnommen – das reicht normalerweise für eine Drei-Millionen-Einwohner-Stadt.13 Zahlt die Industrie eigentlich für dieses Wasser? Die Vertreter von Alberta Environment und der Erdölindustrie antworten erstaunt: „Nein.“
Im fernen Ottawa profiliert sich derweil hinter Ministerpräsident Harper der ärgste Feind der Ureinwohner: Tom Flanagan. Dieser ultrakonservative Präsidentenberater macht ihnen die Bezeichnung „Ureinwohner“ streitig – mit der Begründung, sie seien Immigranten, die den Europäern lediglich ein paar tausend Jahre zuvorgekommen seien. Er erklärt ihre Forderungen folglich für unbegründet und plädiert dafür, ihre Sonderrechte abzuschaffen. Kanada hat die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker nicht unterzeichnet. Würde Flanagans These sich durchsetzen, hätten die Klagen der Indigenen wohl keine Aussicht mehr auf Erfolg.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Emmanuel Raoul ist Journalist.