Zerstören durch Bauen
Wie Prishtina sein Stadtbild verliert von Kai Vöckler
In Südosteuropa setzte nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft und dem Kriegsende im ehemaligen Jugoslawien eine raumgreifende Bautätigkeit ein. Im Zuge dieser Tranformationsprozesse entstanden in Prishtina, Belgrad, Tirana oder Bukarest vollkommen neue Stadtstrukturen. Diese haben – jenseits regionaler Besonderheiten und unterschiedlicher Entwicklungsverläufe – eines gemeinsam: Sie resultieren aus informeller Bautätigkeit, weil fehlende oder schwache Institutionen eine offizielle Regulierung verhindert haben.
Ein drastisches Beispiel bietet Prishtina, die Hauptstadt der ehemaligen jugoslawischen Provinz Kosovo, die 2008 ihre Unabhängigkeit erklärte. Nach dem Einmarsch der internationalen KFOR-Truppen, die 1999 den Krieg zwischen dem serbischen Militär und der kosovo-albanischen Befreiungsarmee beendeten, setzte ein heftiger Bauboom ein, als Binnenmigranten und Flüchtlinge, die aus den westeuropäischen Aufnahmeländern zurückgeschickt wurden, in die Stadt strömten. Damit entstand eine starke Nachfrage nach Wohnraum, und entsprechend wurde der Immobilienhandel rasch zu einem profitablen Geschäftszweig. Die Folge war ein rasanter Umbau der Stadt. Obwohl Prishtina den Krieg selbst fast unversehrt überstanden hatte, wurden danach rund 75 Prozent der bestehenden Stadtstruktur und der historische Kern bis auf wenige Reste zerstört.
Die gesamte Bautätigkeit war illegal und musste es sein: Bis 2005 war es faktisch unmöglich, eine Baugenehmigung zu bekommen. Wohlgemerkt: Dies alles geschah unter der Verwaltung der Vereinten Nationen (Unmik), die ihre Hauptaufgabe darin sah, marktwirtschaftliche Strukturen einzuführen, und nicht etwa darin, die Stadtentwicklung im Sinne des Gemeinwohls zu regulieren. Dass die Unmik in den ersten zwei Jahren von dem „Special Representative“ Bernard Kouchner, Mitbegründer von Ärzte ohne Grenzen und heutiger französischer Außenminister, geleitet wurde, hatte zur Folge, dass im Kosovo vorzugsweise französische Unternehmen ins Geschäft kamen.1
Der Aufbau institutionellen Strukturen war natürlich schwierig und langwierig, zumal wichtige Unterlagen – wie ein Kataster – fehlten. Dennoch stellt sich die Frage, warum die internationale Gemeinschaft in Gestalt der UN-Mission, die auch über das Gewaltmonopol verfügte, nicht in der Lage war, die minimalsten Baustandards durchzusetzen.
Die tragischen Folgen sind unübersehbar: Das alte Prishtina ist weitgehend verschwunden, öffentliche Plätze verwahrlosen, die Infrastruktur ist völlig überlastet, zumal sich die Einwohnerzahl der Stadt in den letzten zehn Jahren verdreifacht hat. Eklatant sind auch die Sicherheitsmängel: zugebaute oder keine Rettungswege, unzureichende und überlastete Gebäudekonstruktionen. Da wurden zum Beispiel – aus Unwissenheit – tragende Wände abgerissen, um ein Zimmer zu vergrößern. Oder auf mehrgeschossige Häuser wurden dreistöckige Einfamilienhäuser aufgepfropft.
Natürlich kam es häufig auch zu heftigen Streitereien zwischen Nachbarn, die sich gegenseitig Zugänge verbaut oder eine Handbreit vom Wohnzimmerfenster des anderen entfernt einen Neubau hochgezogen haben. Wer besichtigen will, was der praktische Sinn stadtplanerischen Handelns ist, sollte das heutige Prishtina besuchen.
Mit dem eigentümlichen Stil dieser neuen Bauten zeigen Auftraggeber und Bauherren, dass sie sich einer globalen Stadtkultur zugehörig fühlen, die sie aus dem Fernsehen kennen und mit der Vorstellung vom „guten Leben“ verbinden. So wird das Altstadtviertel Pejton, das durch mehrgeschossige, ausladende Büro- und Geschäftshäuser, Cafés und Restaurants völlig überformt ist, von den Einwohnern Prishtinas auch „Pejton Place“ genannt (nach der US-Soap „Peyton Place“).
Mit moderner Architektur haben diese imitierten Bauformen nichts zu tun, die wird sogar explizit abgelehnt, weil sie unter anderem für das sozialistische Jugoslawien und eine vergangene historische Epoche steht. Die neue „Turbo-Architektur“2 , die den gesamten westlichen Balkan prägt, knüpft vielmehr an eine Tradition an, die nichts mit dem eigenen Land zu tun hat. Gerade die Ablehnung der eigenen Tradition gilt als Ausweis von Internationalität und Weltläufigkeit. Entsprechend finden sich keine Bezüge zu einer althergebrachten regionalen Architektur. Dagegen sieht man überall historisierende Dekorelemente, die in jedem Baumarkt zu haben sind und als Versatzstücke zu einem wilden Stilmix mit selbst entwickelten Bauweisen kombiniert werden. Auffällig ist die Vorliebe für blau oder grün verspiegelte Fenster und geschwungene Fassaden. Das Gesamtresultat ist eine Architektur im viktorianisch-klassizistisch-orientalisch-amerikanischen Freistil, die sich selbstverständlich moderner Bautechniken wie etwa tragender Stahlbaukonstruktionen bedient.
Eine neue Wand vor dem Fenster
Das Wort „Turbo“ im Sinne von Beschleunigung und Steigerung verweist im Begriff „Turbo-Kultur“ auf die Übertreibungen und Exzesse wie auf die Regellosigkeit, mit der regionale und globale Versatzstück verwendet und vermischt werden. In einem solchen architektonischen Stilmix materialisiert sich eine weltweit zu beobachtende Entwicklung: die Zunahme des informellen auf Kosten des formellen Sektors.3
In den westlichen Industrieländern wurde das arbeits- und sozialrechtlich gesicherte „Normalarbeitsverhältnis“ als dominierendes Modell bereits in den 1970er-Jahren abgelöst, als eine Vielzahl ungesicherter Beschäftigungsverhältnissen entstanden. Die negativen Folgen – zeitweilige Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne – wurden allerdings im Westen durch ein immer noch vorhandenes soziales Sicherungsnetz aufgefangen, das es in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas nach dem Kollaps des real existierenden Sozialismus nicht gab.
Diese Gesellschaften waren den zerstörerischen Nebenwirkungen des globalen Turbo-Kapitalismus4 , der nur noch auf Effizienz und Profitmaximierung ausgerichtet ist, weitgehend ungeschützt ausgesetzt. Die zügige Privatisierung und Liberalisierung des Marktes nach den 1990er-Jahren ging einher mit dem Abbau staatlicher Regelungen, was bis zum völligen Verzicht auf staatliche Steuerung gehen konnte. Da man nur noch auf die Kräfte des Markts setzte, gerieten die nichtökonomischen Faktoren, die für ein funktionierendes Gemeinwesen ebenso wichtig sind, völlig aus dem Blick.
Ein unübersehbares Ergebnis dieser Entwicklung war ein „Turbo-Urbanismus“. Überall entstanden Neubauten: von fragwürdigen Investorenprojekten in den Innenstädten bis zu den zahlreichen, von privaten Bauherrn zumeist am Rand der Städte errichteten informellen Siedlungen. Überall in Osteuropa (mit Ausnahme Ostdeutschlands) wurde das kommunale Eigentum privatisiert, darunter auch die ehemaligen sozialistischen „Kollektivbauten“, die in Fertigbauweise errichteten Großsiedlungen. Dabei blieben die neuen Wohnungseigentümer weitgehend sich selbst überlassen: Der Staat hat sich seiner sozialen Verantwortung einfach entledigt.
Verstärkt und überlagert wurde diese Entwicklung durch die Aussicht auf Assoziation mit der EU oder sogar (wie im Fall von Slowenien, Bulgarien und Rumänien) einen Beitritt zur Union. Auch das hat die Konstellationen in den urbanen Zentren stark verändert, denn die Integrationsvereinbarungen betonten sehr stark die ungehinderte Mobilität von Menschen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen. Großen Einfluss auf die lokale Stadtentwicklung hatte auch die Migration, deren Auswirkungen bislang zu wenig beachtet wurden. Das gilt für die Binnenbewegungen in die Städte, vor allem aber für die Rückwanderung der Migranten, die zum Arbeiten nach Westeuropa gegangen waren.
Das Kosovo ist dafür ein gutes Beispiel. Das Land hat 1,9 Millionen Einwohner, von denen aber 400 000 Kosovaren legal in OECD-Ländern leben, dazu kommen noch zwischen 200 000 und 400 000 Illegale (Schätzung je nach Quelle). Damit lebt mehr als ein Drittel der Kosovaren außer Landes. Nach Kriegsende im Jahr 1999 wurden zwar etwa 100 000 kosovarische Flüchtlinge zur Rückkehr gezwungen. Doch die Verflechtung mit Gesamteuropa ist nach wie vor sehr stark.
Bei einer Arbeitslosigkeit von mehr als 40 Prozent, der höchsten Geburtenrate Europas und einer katastrophalen volkswirtschaftlichen Lage machen die Rücküberweisungen der Auslandskosovaren, die vor allem in den Wohnungsbau fließen, einen erheblichen Anteil des Nationaleinkommens aus. Die Gesamtheit der Haushaltseinkommen besteht zu 50 Prozent aus Rücküberweisungen von Familienmitgliedern. Das Land kann also ohne Arbeitsmigration nicht überleben.
Angesichts dessen ist die Politik der EU höchst problematisch: Einerseits schließt man die Grenzen für kosovarische Migranten, andererseits überweist man hohe Summen an Entwicklungshilfe, die durchaus von Arbeitsmigranten erwirtschaftet werden könnten. Die Weltbank hat ermittelt, dass kosovarische Arbeitsmigranten im Zeitraum von 2004 bis 2008 etwa 2,4 Milliarden Euro nach Hause überwiesen haben. Die gesamte internationale Entwicklungshilfe für das Kosovo belief sich im gleichen Zeitraum auf rund 2 Milliarden Euro.
Der ungesteuerte und ungehemmte Städtebau in Prishtina ist Ausdruck einer politischen und gesellschaftlichen Krise, die für Transformations- und Krisensituationen typisch ist. Die geschilderten negativen Aspekte sind aber nicht nur dem Versagen der lokalen (und internationalen) Verwaltung und der politischen Klasse anzulasten. Stadtentwicklung ist auch ein gesellschaftlicher Prozess, an dem die unterschiedlichsten Gruppen mit verschiedenen Interessen und Einflussmöglichkeiten mitwirken.
Nun könnte man annehmen, dass uns der Fall Prishtina die Zukunft der westeuropäischen Stadt vor Augen führt, etwa im Hinblick auf die beschleunigte Abschaffung kommunaler Steuerungsmechanismen oder die wachsende Bedeutung sogenannter Public Private Partnerships. Diese Annahme ist verfehlt. Das Beispiel Prishtina lässt sich nur sehr eingeschränkt mit den Verhältnissen in westeuropäischen Städten vergleichen. Die Stadtentwicklung im Westen wird im Wesentlichen durch ökonomische Interessen und kommunale Planung in einem hochformalisierten Rahmen strukturiert, in Südosteuropa wird sie dagegen weitgehend von Familienverbänden getragen und durch Klientelwirtschaft geprägt. Das gilt zum Beispiel auch für die Entwicklung der Millionenmetropole Athen.5 Hier wirken ganz andere Werte und Normen, die sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen.
Das Beispiel sollte aber ein Anstoß sein, über eine neue Kombination von staatlicher und gesellschaftlicher Regulierung nachzudenken. Stadtplanung muss also noch eine eigene, ihr gemäße Form finden. Letztlich müssen sich die Bewohner einer Stadt jenseits autokratischer oder bürokratischer Methoden eigenständig über die Zukunft ihres Gemeinwesens verständigen können.
Kai Vöckler ist Urbanist und Publizist in Berlin und Mitgründer und Programmdirektor von Archis Interventions, einer NGO, die zusammen mit lokalen Initiativen an der Lösung von Problemen der Stadtentwicklung arbeitet. Archis Interventions wird unterstützt durch die ERSTE Stiftung. www.seenetwork.org. Zuletzt erschien von ihm: „Prishtina is everywhere. Turbo-Urbanismus als Resultat einer Krise“, Berlin (Parthas Verlag) 2008. © Le Monde diplomatique, Berlin