Stadt des aufsteigenden Drachen
Hanoi bereitet sich auf seinen tausendsten Geburtstag vor von Xavier Monthéard
In seinem himmelblauen Büro hängen futuristische Architekturzeichnungen, Fotos von fertigen Bauten und ein schicker Videomonitor. Der Architekt Hoang Huu Phe hat ein Ziel, das er mit großer Leidenschaft verfolgt: Er will aus Hanoi eine vollkommen andere Stadt machen: „Manche Regierungsvertreter halten die Stadt immer noch für eine reine Verwaltungseinheit. Aber diese altmodische Einstellung teilen zum Glück nur noch wenige. Wir brauchen eine attraktive, technologisch avancierte, internationale Hauptstadt. Die Amerikaner haben Las Vegas ja auch aus der Wüste gestampft!“
Der kleine, energiegeladene Phe ist ein einflussreicher Mann. Der Sechzigjährige leitet die Forschungs- und Entwicklungsabteilung bei Vinaconex, dem staatlichen Baukonzern der Sozialistischen Republik Vietnam. Die Immobilienblase lässt ihn kalt. „Die Spekulation müssen wir eher wie eine unterirdische Triebkraft nutzen. Es liegt in unserer Hand, Hanoi davor zu bewahren, dass hier jeder machen kann, was er will, so wie in Bangkok oder Manila. Das ist doch nur eine Verwestlichung der Verhältnisse, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich versuche dagegen die Marktmechanismen so einzusetzen, dass mein Traum wahr wird.“1
Das Online-Reisemagazin Smart Travel Asia hat im Sommer 2009 eine Liste der besten Shoppingstädte Asiens veröffentlicht. Hanoi kam auf Platz sechs, hinter Hongkong und Singapur, aber noch vor Bali, Schanghai, Tokio, Peking und Seoul. Vietnam ist angesagt.
2008 flossen mehr als 28 Milliarden Dollar in Immobilienprojekte, knapp die Hälfte der gesamten ausländischen Direktinvestitionen.2 In den Großstädten sind die Grundstückspreise explodiert. Ist das noch das vom Krieg gezeichnete Vietnam, von dem Noam Chomsky in den 1990er-Jahren schrieb, es habe „ein Schicksal erlitten, für das es in der europäischen Geschichte seit dem Schwarzen Tod nichts Vergleichbares gibt“, und brauche daher „hundert Jahre, um sich davon zu erholen, wenn das überhaupt möglich ist“.3
Im Mai 2008 verkündete Premierminister Nguyen Tan Dung nach einer sechsmonatigen Beschlussphase die Eingemeindung der westlich von Hanoi gelegenen Provinz Ha Tay sowie einiger Grenzgemeinden. Seit August 2008 hat sich die Fläche der Hauptstadt verdreifacht. Der Großraum umfasst jetzt mehr als 3 300 Quadratkilometer. Laurent Pandolfi vom Stadtentwicklungszentrum Hanoi meint dazu: „Die Entscheidung war zwar politisch motiviert und kam auch sehr schnell zustande. Aber sie ist einfach die folgerichtige Antwort auf die zunehmende Verstädterung, und man darf hoffen, dass sie große Infrastrukturprojekte wie etwa die geplante U-Bahn nach sich ziehen wird.“
Der Master Plan für 2010 samt Visionen für 2050
Wenig später beauftragte die Regierung das amerikanisch-koreanische Konsortium Perkins Eastman-Posco Engineering and Construction-Jina (PPJ) mit der Ausarbeitung eines neuen Stadtentwicklungsplans, dem „Hanoi Master Plan to 2010 and Vision to 2050“.4 Im Laufe des Jahres 2010 sollen 700 Planungsvorhaben, sowohl für den Wohnungsbau als auch für den Industriesektor, unter Dach und Fach gebracht werden. „Die Frist ist der absolute Wahnsinn“, meint ein Architekt aus dem Bauministerium. „Für so etwas braucht man normalerweise mindestens drei Jahre. Mehr als 500 Sitzungen sind geplant. Und wir haben keinen richtigen Ablaufplan, bloß eine Liste mit völlig unkoordinierten Einzelvorschlägen.“
Um zu begreifen, wie es zu dem Kuddelmuddel um „Groß-Hanoi“ kommen konnte, muss man 20 Jahre zurückgehen. Seit 1986 verfolgt Vietnam ähnlich wie China eine Politik der wirtschaftlichen Öffnung (Doi Moi: Erneuerung). 1990 beschloss die Partei, dass Familien Unternehmen gründen dürfen und auch ihr eigenes Land zugewiesen bekommen sollten. Das war der Beginn der Entkollektivierung. 1993 verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das Privatpersonen das Recht zur Landnutzung über verlängerbare Pachtverträge mit langer Laufzeit (ursprünglich 15 Jahre) verleiht: Die Grundstücke dürfen vermietet, verkauft und vererbt werden. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein Eigentumsrecht im üblichen Sinne: Der Staat behält sich die Möglichkeit der Enteignung vor, offiziell, um gegebenenfalls die Landnahme durch die städtische Bourgeoisie verhindern zu können. Außerdem verbleiben weite Teile des Grund und Bodens im Besitz von Partei, Armee und kommunistischen Massenorganisationen (Vaterlandsfront, Gewerkschaften und so weiter).
Im Jahr 1993 waren die Grundstückspreise noch recht niedrig. Doch in den letzten 15 Jahren, in denen sich Vietnams Exportvolumen vervierfacht hat, die Wachstumsrate gestiegen ist und 10 000 ausländische Firmen ins Land kamen, haben sich die ehemaligen Reisfelder in Goldminen verwandelt. Schon schielen Spekulanten auf die riesigen Ländereien der Armee oder die großzügigen Kolonialvillen der Veteranen, die ihnen zum Dank für ihren Einsatz im Krieg gegen die USA überlassen worden waren. Und die Immobilienentwickler fordern Bauland, denn das dicht bevölkerte Hanoi platzt aus allen Nähten.
Architekt Phe und seine Kollegen haben die Vorstellung, dass sich Groß-Hanoi durch die Integration eines ganzen Netzes von Satellitenstädten entwickelt. So könnte man die Bergregionen im Westen besser anbinden und die Bevölkerungsdichte in der Stadt Hanoi auflockern. Der Großraum Hanoi würde an die internationalen Handelsnetze angeschlossen werden, mit modernen attraktiven Wohngebieten, wie zum Beispiel „Splendora“5 , das gerade in An Khanh Nord in der ehemaligen Provinz Ha Tay entsteht.
Eine Autobahn soll Splendora mit dem geplanten Technologiepark Hoa Lac verbinden, dem 30 Kilometer von der Stadt entfernten vietnamesischen Silicon Valley. Die Nationaluniversität von Hanoi wird nach Hoa Lac verlegt und bekommt einen neuen Campus. Weitere, vor allem „grüne“ Hightech-Unternehmen sollen sich hier ansiedeln.
Gerade ist Erntezeit. Rund um die Autobahnbaustelle schneiden Bauern mit Handsicheln den Reis, Kinder treiben Wasserbüffel mit Gerten vor sich her, und zwischen den Betonblöcken grasen Pferde und Ziegen. Auf Bautafeln sind die künftigen Wohnkomplexe abgebildet: Neben Splendora sind das noch die Tricon Towers6 von einem Investor aus Singapur – drei ultramoderne, 44 Stockwerke hohe Türme samt Swimmingpool und Spa-Bereich. Insgesamt 732 Eigentumswohnungen werden hier demnächst zum Verkauf stehen. Immerhin hat bislang noch niemand gewagt, die Dorffriedhöfe mit ihren Grabsteinen anzutasten, die hier und da als ein Memento mori aus dem grünen Feldermeer hervorblitzen. Sie stehen noch für die alten Traditionen, die nach und nach verschwinden, ebenso wie die Reisfelder und auch die weit verbreitete Armut.
Die computeranimierten Werbefilmchen der Immobilienfirmen führen in 3-D große Wohnanlagen inmitten von Parks und künstlichen Seen vor. Schnellstraßen sorgen für einen flüssigen Verkehr, der den Betrachter in gemischte Siedlungen führt mit Wolkenkratzern und dazwischen Mehr- oder Einfamilienhäusern. Über die Mattscheibe flimmern friedliche Einkaufsszenen in geräumigen Supermärkten, weit weg vom Chaos des Stadtzentrums oder der Ärmlichkeit der Vorstädte.
Keine Orte für normale Leute
„Aber sehen Sie in den Videos Kindergärten, Schulen oder Krankenhäuser?“, fragt der Geograf Pham Van Cu von der Nationaluniverstität Hanoi.7 „Wo sind die ganz normalen Leute, wo wird gearbeitet? In diesen Projekten zählt nur das Interesse der Investoren. Der Staat verschleudert den öffentlichen Besitz, die kommunalen Dienste werden privatisiert, und die einfachen Leute sind dann von diesen Dienstleistern abhängig. In einer solchen Dienstleistungsgesellschaft bezahlen Reiche andere Reiche: Dabei verdienen nur die etwas, die schon Geld haben.“
All diese mehr oder weniger teuren Immobilienprojekte zielen in der Tat auf eine wohlhabende Schicht, auf die 10 Prozent der vietnamesischen Haushalte, die über 30 Prozent des Nationaleinkommens verfügen. An den Sonntagen sieht man sie auf der 17 Kilometer langen Promenade um den großen Westsee flanieren. Die Makler spekulieren darauf, dass sie an den ruhigeren Stadtrand ziehen werden, um in größeren Wohnungen zu leben.
Das Problem dabei: Die verbliebenen Reisfelder werden ohne Zugang zu Bewässerungsquellen zwischen Wohnvierteln, Autobahnen und Industriekomplexen eingemauert. Die neuen Gebäude entstehen zudem auf Aufschüttungen, die höher liegen als die Dörfer, was weiter unten zu einem erhöhten Überschwemmungsrisiko führen wird. In dieser Monsunregion regnet es oft besonders stark, und die Überschwemmungsgebiete sind dicht besiedelt.
Die neuen Vorschriften verpflichten die Investoren zwar, Drainagesysteme anzulegen. Doch wer soll auf die Einhaltung achten, wenn der Staat auf dem Rückzug ist und den Investoren die Erschließung des Baulands selbst überlässt? So überschreibt er ihnen beispielsweise als Gegenleistung für den Bau von Straßen die angrenzenden Grundstücke, und die Baufirmen dürfen sogar die Enteignung der bisherigen Nutzer durchführen.
So geschah es etwa in Hoa Muc, einem Dorf, das näher am Stadtzentrum von Hanoi liegt und daher von der Flächenneuordnung schon vorher betroffen war. Als dieser alte Agrarbezirk 1997 zum neuen Stadtteil ernannt wurde, schossen die Bodenpreise in die Höhe. Drei Jahre später begann der Staat über die Vinaconex mit dem Bau des Wohnviertels Nuong Chin/Truong Hoa. „Hoa Muc war eines der vielen vietnamesischen Dörfer, in denen neben der Landwirtschaft auch Handwerk betrieben wurde. Hier waren es Ziegeleien“, berichtet die kanadische Soziologin Danièle Labbé. Als der Staat beschloss, Nuong Chin/Truong Hoa zu bauen, enteignete er die Bauern und ließ ihnen nur ihr Haus und ein kleines Stück Land.
Der Duft von Ingwer, Zimt und frisch geschnittenem Stahl
Die Verhandlungen über die Enteignungen haben zunächst das Volkskomitee beziehungsweise die Gemeinde sowie die Massenorganisationen geführt. Die Leute wussten, dass Dorfbewohner, die sich gegen neue Wohngebiete gewehrt hatten, schlecht behandelt wurden, also gaben sie nach. Ab 2003 hat der Staat die Enteignungen den privaten Bauherrn übertragen. Den Bauern wurden Arbeitsplätze und Umschulungen versprochen, doch das blieben leere Versprechen. In Hoa Muc waren die Entschädigungen noch relativ anständig, obwohl sie weit unter dem Marktwert lagen. Anderswo kam es zu massiven Konflikten bis hin zu Blockaden.
Das Volkskomitee von Hanoi muss sich jetzt mit den Anliegen der Landbevölkerung beschäftigen. „Man kann eine ländliche Region nicht einfach so urbanisieren, vor allem, wenn es so schnell geht und die Leute gar nicht einbezogen werden“, meint Danièle Labbé. „Es ist sehr schwierig für sie, eine neue Arbeit zu finden. Wir sprechen hier immerhin über ein Dorf, das nur vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt und seit Jahrhunderten mit Hanoi verbunden ist. Wie mag es da in den abgelegeneren Ortschaften aussehen?“
Die Destabilisierung der städtischen Randgebiete droht auch auf Hanoi selbst überzugreifen, dessen wirtschaftliche Entwicklung spätestens seit dem 17. Jahrhundert auf dem ständigen Austausch mit dem dicht besiedelten Speckgürtel beruhte, wo Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende lebten und die Stadt versorgten.8 Erst der Wiederaufbau dieser von Krieg und Kommunismus zerstörten Struktur seit Ende der 1980er-Jahre machte den Aufschwung von Hanoi möglich.
Im sogenannten 36-Gassen-Viertel in der Altstadt ist die traditionelle Beziehung zwischen Stadt und Umland immer noch lebendig. Hier blüht der Handel. Aus den bunt verzierten und verschnörkelten Tunnelhäusern mit ihren zahllosen Innenhöfen und verborgenen Geschossen quillen die unterschiedlichsten Waren hervor. Jede Ladenzeile hat ihre Spezialität, in der einen gibt es nur Kaffeestuben und Röstereien, in der anderen nur Schreibwarengeschäfte, in der nächsten wieder nur traditionelle Drogerien, in denen es nach einem Gemisch aus allerlei Gewürzen – Zimt, Anis, Ingwer – und Arzneimitteln riecht. In der nächsten Straße steigt einem der Geruch von Altkleidern oder frisch geschnittenem Stahl in die Nase.
Zwischen den Geschäften liegen die Gaststätten. In den zahllosen „Staubrestaurants“ essen alle draußen, ganz gleich, wie viel Lärm und Gedränge drumherum herrscht. Alle sitzen auf winzigen Hockern, möglichst nah am Boden. Und auf der Straße brummt das Leben. Wo der Bürgersteig beginnt oder die Fahrbahn endet, ist kaum zu erkennen. Noch wird der Verkehr von tausenden von Mopeds dominiert, die mit ein paar Autos um jeden Meter kämpfen.
In den letzten 20 Jahren sind viele kleine Familienunternehmen gegründet worden, die jetzt – anstelle der früheren Beamten und Bauern – Dienstleistungen anbieten oder als kleine Händler arbeiten. Ihr monatliches Durchschnittseinkommen liegt bei 2,4 Millionen Dong (etwa 90 Euro). Eine Umfrage in mehreren tausend Haushalten in Hanoi ergab, dass 30 Prozent der Leute im informellen Sektor arbeiten, „der wie eine Inselwirtschaft funktioniert, die vom offiziellen Handel weitgehend abgeschnitten ist“.9
Die alte Straßenverkäuferin, die unter dem Gewicht ihrer Tragestangen fast zusammenbricht, gehört zum Beispiel dazu, oder die beiden Frauen, die kerzengerade auf ihren mit Stern- und Cherimoya-Früchten beladenen Fahrrädern thronen, oder der Motorrad-Taxifahrer Quyen, der in Hanoi unentbehrlich ist, weil es hier keine vernünftigen öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Zehn Stunden am Tag braust der junge Mann durch den Smog, eine lebensgefährliche Arbeit, denn an die Verkehrsregeln hält sich hier fast niemand.
In den Pausen zieht Quyen einmal tief an seiner 50 Zentimeter langen, kunstvoll gearbeiteten Pfeife. Ein Päckchen schlechter Tabak kostet nur 3 000 Dong.10 Doch wie alles andere ist auch der Tabak teurer geworden. „Ich kann mir zwar noch zweimal am Tag etwas zu essen kaufen, aber ich muss sparsam sein. Meine Freundin ist Maniküre, sie verdient auch nicht viel. Eine Hochzeit konnten wir uns bisher noch nicht leisten, deshalb rauche und trinke ich weniger. Aber es wird noch Jahre dauern, bis ich das Geld dafür zusammenhabe.“
Mehr noch als unter den hohen Lebensmittelpreisen leidet Quyen unter seiner Wohnsituation. Für das zehn Quadratmeter große Zimmer muss er inklusive Wasser und Strom fast eine Million Dong (rund 40 Euro) im Monat berappen. Da er aus der Provinz stammt und keine Beziehungen hat, die er spielen lassen kann, wird er wohl nichts Besseres finden – die Alteingesessenen teilen alles unter sich auf.
Lon geht es ähnlich. Beschämt senkt sie den Kopf, wenn sie spricht. Obwohl sie gerade ihre Doktorarbeit in Soziologie abgeschlossen hat, wohnt sie immer noch in einem Wohnheim mit Toilette und Dusche auf dem Flur. „Ich habe zehn Jahre studiert, in einem renommierten Institut geforscht, aber ich finde einfach keine Wohnung. Ich suche jetzt schon seit zwei Jahren. Die Studentenwohnheime sind vollkommen überfüllt. Ich finde es unmöglich, dass die Regierung die Studenten nicht besser unterstützt.“
Wenn aus Bauern Vermieter werden
Nguyen Thi Thieng, die stellvertretende Leiterin am Fachbereich Demografie der Hochschule für Wirtschaft, meint: „Unsere Untersuchungen zeigen einen deutlichen Trend: Die Zuwanderer, die sich bis 2007 in den innerstädtischen Vierteln Ba Dinh und Hoan Kiem niedergelassen hatten, ziehen jetzt in die Außenbezirke. Dort, wo sie arbeiten, finden sie einfach keine Wohnungen mehr.“
Ironie des Schicksals: Von den im Zuge der Industrialisierung Vietnams enteigneten Bauern können einige jetzt als Vermieter ein kleines Vermögen verdienen. „Die Dorfbewohner von Hoa Muc“, so die Soziologin Danièle Labbé, „haben auf dem Stückchen Land, das ihnen noch geblieben ist, einfache Häuser gebaut, und die vermieten sie an Studenten und Arbeiter, die sich im Stadtzentrum keine Wohnung leisten können. Das ist ein großer Markt.“
Die Nachfrage wächst zu einem Zeitpunkt, zu dem die Immobilienprojekte die Preise für Bauland in unerschwingliche Höhen getrieben haben. Und das Ende ist noch nicht erreicht. Im Großraum Hanoi leben laut Volkszählung vom April 2009 fast 6,5 Millionen Menschen – genauso viele wie im benachbarten Laos. Auch wenn eine Durchschnittsfamilie heute nur noch aus vier Personen11 besteht, rechnen die Demografen für die nächsten Jahre mit einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von etwa einer Million. Und die meisten werden in den Städten leben.
„Vietnam macht bei der Armutsbekämpfung sensationelle Fortschritte. Es kommt darin weltweit am schnellsten voran, noch schneller als China“, erklärte Martin Rama, Chefökonom der Weltbank, bei einem Symposium in Hanoi im September 2009.12 „1993 lebten 58 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 2006 nur noch 16 Prozent, inzwischen sind es noch weniger.“
Die Einschätzung von Nguyen Nga – sie leitet heute die Galerie Maison des Arts und hat 20 Jahre lang in Entwicklungsprojekten mitgearbeitet – fällt weniger enthusiastisch aus: „Um Hanoi zu verstehen, muss man sich an das Elend der 1980er-Jahre erinnern. Als ich damals die Kinder sah, dachte ich, der Hunger ist für sie wie eine Einübung in die Ungleichheit. Genauso ist es gekommen. Heute sind diese Kinder 20 Jahre alt und leben nach dem Motto ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘. Sie wollen auch etwas vom Kuchen abhaben, aber ihr Gefühlsleben ist verkümmert, ihre Träume sind armselig.“
Im Alltag gilt in Vietnam natürlich auch der gregorianische Kalender, aber Riten und Traditionen richten sich immer noch nach dem Mondkalender. So beginnt etwa die Hochzeitssaison im September, weil da der Mond, das traditionelle Fruchtbarkeitssymbol, besonders hell strahlt. Als Geste der Freundschaft werden zu allen möglichen Anlässen kleine Küchlein, rund wie der Vollmond, verschenkt. Der Ursprung dieses Brauchs verliert sich im Dunkel der Geschichte, doch heute, im Jahr 4646, sind die Mondkuchen des Sheraton-Hotels die begehrtesten. Haben die Amerikaner es 35 Jahre nach Kriegsende doch noch geschafft, die Herzen und Köpfe der Vietnamesen zu erobern? Die Zeit der ideologischen Grabenkämpfe ist jedenfalls lange vorbei.
Der Nationalismus hat seine kommunistische Färbung abgestreift und greift nun auf ältere Quellen zurück. Nach Ansicht des Historikers Nguyen The Anh „ist das Land gewissermaßen in die Zeiten vor der französischen Kolonisierung zurückgefallen, insbesondere was die Machtstrukturen angeht. Die Führungsschicht, welches Etikett auch immer sie sich anheften mag, hat etwas von einer selbst ernannten Kaste von Mandarinen, allerdings ohne die konfuzianischen Tugenden. Und die Bevölkerung besinnt sich neuerdings auch wieder der alten Riten.“
Im Zentrum, in der Nähe des Hoan Kiem-Sees, zählt eine beleuchtete Anzeigetafel die Tage bis zum 10. Oktober 2010. Dann feiert Hanoi offiziell sein tausendjähriges Bestehen. Die Zeremonien werden bestimmt fantastisch: Zwei riesige grüne Drachen – in Erinnerung an den ersten Namen der Stadt, Thang Long („Stadt des aufsteigenden Drachen“) – flankieren die Statue von Ly Thai To (974–1028), dem Stadtgründer von Hanoi und ersten Kaiser der Ly-Dynastie. Mit solchen symbolischen Auftritten will die kommunistische Parteiführung die älteste Stadt des Landes in die gemeinsame nationale Geschichte einbetten und ihre historische Bedeutung unterstreichen.
Nebenan restaurieren Arbeiter aus der Provinz seit einigen Wochen einen Tempel aus dem 17. Jahrhundert. Der Dreck und der ständige Lärm der Hauptstadt stören sie nicht. Sie haben ihr improvisiertes Lager neben der Statue des zum Gott aufgestiegenen Volkshelden aufgeschlagen. Zu seinen Füßen liegen Blumen, Obst, gekochte Speisen und Räucherstäbchen.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Xavier Monthéard ist Journalist.