Die Bombe bleibt
Widerstände gegen Obamas Abrüstungspläne von Selig S. Harrison
„Am 8. April haben die Präsidenten Obama und Medjejew in Prag den sogenannten New-Start unterschrieben: Ein neues Abkommen über die Begrenzung der strategischen Atomwaffen, die Russland und die USA noch aus der Zeit des „Gleichgewichts des Schreckens“ in ihrem Arsenal haben. Zwei Tage zuvor wurde in Washington die neue Nuclear Posture Review (NPR) veröffentlicht, mit der die Obama-Administration die Funktion der US-Atomwaffen innerhalb ihrer globalen Militärstrategie neu definiert.
Der Wortlaut der NPR war dem Autor unserer Analyse noch nicht bekannt, ihr Inhalt bestätigt aber seine Einschätzung, dass die Experten des Pentagon und des US-Außenministeriums nur eine vorsichtige Korrektur der “Erstschlags-Doktrin“ zulassen. Nach der neuen Doktrin will Washington zwar auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen generell verzichten, sieht aber explizit zwei Ausnahmen vor:
Erstens: Gegenüber Staaten, die nicht dem Atomwaffensperrvertrag (NPT) beigetreten sind oder sich nicht an dessen Kontrollvorschriften halten, gilt der Verzicht auf einen Erstschlag nicht.
Zweitens: Auf die wichtige Frage, ob ein atomarer Ersteinsatz als Antwort auf einen Angriff mit biologischen oder chemischen Waffen möglich sein soll, bleibt der Text der NPR eine klare Antwort schuldig. Auch nach der neuen Strategie herrscht also eine gewollte Unklarheit, die US-Außenministerin Hillary Clinton (The Guardian vom 8. April) so beschrieben hat: „Die USA werden den Einsatz von atomaren Waffen nur in einer Extremsituation in Erwägung ziehen, um die vitalen Interessen der USA oder ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen.“
Des weiteren bleibt die Frage offen, ob beide Seiten eine neue Generation von nuklearen Sprengköpfen entwickeln dürfen. Sie ist unter den Militärexperten in den USA ebenso umstritten wie die weitere Entwicklung der Trägersysteme. Der Streit um diese Fragen, und um die Ratifikation des neuen Start-Vertrags im Kongress, ist also noch nicht beendet. Worum es dabei geht, analysiert unser Autor Selig Harrison im folgenden Artikel.“
Am 24. März haben Russland und die USA angekündigt, dass sie am 8. April in Prag ein neues Abkommen über die Verringerung der strategischen Atomwaffen (START) unterzeichnen werden.1 Der Ort ist insbesondere für Barack Obama von hoher Symbolik. Hier hat er am 5. April 2009 eine Rede gehalten, die ihn zum Helden der atomaren Abrüstung und zum Buhmann für alle Kernwaffengläubigen macht – wie auch zum Kandidaten für den Friedensnobelpreis. Obamas Prager Rede war eine Kampfansage an gleich drei mächtige Gegner: an die Verteidigungsbürokraten im Pentagon; an die Politiker und Militärs in Japan und anderen Staaten, die sich an den „atomaren Schutzschirm“ der Amerikaner gewöhnt haben; und an die heimischen Rüstungskonzerne, deren Lobbyarbeit darauf gerichtet ist, die Produktion und Entwicklung von US-Kernwaffen auf demselben Niveau zu halten oder gar auszubauen.
Das Versprechen des Präsidenten, das mit Russland geschlossene START-Abkommen zu erneuern und auszuweiten, war keine Überraschung. Obama hat es am 24. März eingelöst, als er zusammen mit dem russischen Präsidenten Medwedjew ein neues Abkommen über die atomaren Arsenale beider Seiten vorstellte, das eine maßvolle Reduzierung von je 2 200 auf je 1 550 Sprengköpfe vorsieht. Aber es war ein anderer Satz in der Prager Rede, der die Kernwaffengläubigen viel heftiger gegen Obama aufbrachte: Die Ankündigung, dass „wir die Bedeutung der Kernwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren werden“.
Der tiefere Grund für die Aufregung war, dass Obama gerade – wie jeder neu gewählte Präsident – eine Überprüfung der geltenden Nuklearstrategie in Auftrag gegeben hatte. Als er am 23. September 2009 seine Prager Aussage wortwörtlich vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen wiederholte, geriet die orthodoxe Fraktion vollends in Panik. Wobei sie sich vor allem fragte, welche Antworten eine neue Nukleardoktrin auf vier entscheidende Fragen geben würde.
Erstens: Würde sie auf den Ersteinsatz von Kernwaffen durch die USA verzichten, was China und Indien bereits getan hatten und was die Clinton-Regierung in der umstrittenen Vereinbarung mit Pjöngjang über das Einfrieren des nordkoreanischen Nuklearprogramms 1994 gegenüber diesem Land zugesagt hatte (wobei diese Vereinbarung später von der Bush-Regierung aufgekündigt wurde)?
Zweitens: Würden die USA künftig ausschließen, einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen mit dem Einsatz von Atomwaffen zu beantworten, und sich stattdessen auf das konventionelle Arsenal beschränken?
Drittens: Würde Obama angesichts der deutschen Forderung, alle dem Nato-Befehl unterstehenden US-Atomwaffen binnen vier Jahren vom Boden der Bundesrepublik abzuziehen, die taktischen Kernwaffen gleich aus allen sieben europäischen Stationierungsländern abziehen?
Die vierte Frage war für die Militärindustrie die wichtigste: Will der Präsident die Anzahl der Trägersysteme für Atomwaffen reduzieren, also die Zahl der luftgestützten (strategischen Bomber), der seegestützten (U-Boote mit Trident-Raketen) oder der landgestützten Systeme (Interkontinentalraketen)?
Das norwegische Nobelpreiskomitee hatte offenbar gehofft und damit gerechnet, dass sich Obama in den meisten dieser vier entscheidenden Fragen auf die Seite der Abrüstungsbefürworter schlagen werde. Das kann man jedenfalls aus der Begründung des Komitees herauslesen, dass man „der Vision und dem Wirken Obamas für eine Welt ohne Atomwaffen besonders große Bedeutung beigemessen“ habe. Doch wenn man sich mit Beamten und Beratern unterhält, die in die Überarbeitung der Nuklearstrategie involviert sind, zeichnet sich bereits deutlich ab, dass Obama den Kernwaffengläubigen bis zur Veröffentlichung der neuen Strategie am 1. April sehr weit entgegenkommen wird. Über die Details der künftigen Stärke der nuklearen Waffensysteme, die sich direkt auf die US-Position in den laufenden START-Verhandlungen auswirkt, wird innerhalb der Regierung heftig gestritten. Aber schon jetzt steht fest, dass die Rolle der Kernwaffen für die Militärstrategie der USA nicht wesentlich reduziert wird.
Zur Zeit des Kalten Krieges, als der Warschauer Pakt die Nato an Truppenstärke und konventioneller Bewaffnung weit übertraf, nahmen die Vereinigten Staaten erstmals das Recht für sich in Anspruch, einen konventionellen Angriff mit Atomwaffen zu beantworten. Die Nato warnte damals vor einer nicht aufzuhaltenden „Angriffswelle“ von zahlenmäßig überlegenen sowjetischen Streitkräften; das gleiche Argument wurde auch in Bezug auf die nordkoreanische Bedrohung des südlichen Nachbarn vorgebracht.
Verzicht auf den Ersteinsatz: nicht naiv, sondern realistisch
Doch schon der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer stellte fest, „dass keine Panzerdivisionen mehr an unserer Grenze stehen, die innerhalb von 48 Stunden durchbrechen könnten. Die Politik des Ersteinsatzes war die Antwort auf eine Situation, die sich inzwischen grundlegend gewandelt hat.“2 Und was Korea anbelangt, so hätte die früher beeindruckende Armee des Nordens heute keine Chance mehr gegen die technologisch hochgerüsteten Streitkräfte, die der Süden in den letzten Jahrzehnten mit US-amerikanischer Hilfe aufgebaut hat.
Der Verzicht auf den „Ersteinsatz“ von Atomwaffen wird oft als naive Träumerei weltfremder Gutmenschen abgetan, die von der rauen Wirklichkeit internationaler Politik keine Ahnung haben. In Wahrheit ist es umgekehrt: Das Festhalten am Recht auf einen atomaren „Ersteinsatz“ ist realitätsfremd, weil mit den Zielen des Atomwaffensperrvertrags unvereinbar. „Wenn wir es mit der Nichtverbreitung von Kernwaffen ernst meinen,“ sagte Fischer, „müssen die bestehenden Atommächte ein Klima der Abrüstung schaffen; denn nur so lässt sich der Anreiz für andere verringern, ebenfalls zu Atommächten aufzusteigen.“
In der Tat sieht Artikel 6 des Atomwaffensperrvertrags im Gegenzug für den Verzicht nichtatomarer Mächte auf Kernwaffen die Reduzierung der vorhandenen Atomwaffenarsenale vor. Solange jedoch die Atommächte mit einem „Ersteinsatz“ ihrer Kernwaffen drohen, deren Reduktion seit Jahrzehnten nur im Schneckentempo vorankommt, kann man von den Nichtatomwaffenmächten kaum erwarten, dass sie sich ewig an ihr Versprechen halten.
Im Fall Nordkoreas, das ich in den letzten Jahren insgesamt elfmal besucht habe, sieht die raue Wirklichkeit so aus, dass die egozentrische Strategie Washingtons schlicht nicht aufgehen wird. Obwohl die USA ihre taktischen Atomwaffen einseitig aus Südkorea abgezogen haben, sind auf den Flugzeugträgern ihrer Pazifikflotte weiterhin Interkontinentalraketen und atomwaffenfähige Flugzeuge stationiert, die Nordkorea jederzeit erreichen können. Das war der Grund, warum Pjöngjang 1994 das Aussetzen seines Atomwaffenprogramms von der Zusage der Clinton-Regierung abhängig machte, parallel zu der im Vertrag vorgesehenen atomaren Abrüstung Nordkoreas „förmliche Garantien gegen die Bedrohung durch und den Einsatz von Atomwaffen abzugeben“ (Artikel 3 des Abkommens).
Neben weiteren Schritten zur Normalisierung der Beziehungen wäre heute eine ähnliche Verpflichtung seitens der USA vonnöten, um eine neue Abrüstungsvereinbarung mit Pjöngjang zu erreichen. Doch eine solche Zusage wird von der Arbeitsgruppe des Pentagons, die in Absprache mit dem Weißen Haus und externen Expertengremien die Überarbeitung der US-Kernwaffenstrategie vorgenommen hat, ausdrücklich ausgeschlossen. Wenn der Präsident nicht in letzter Minute interveniert, wird auch die neue Nuklearstrategie an der alten Prämisse des Pentagons festhalten, dass jede Einschränkung des Rechts auf einen atomaren „Erstschlag“ zur Aufgabe jenes Überraschungsmoments führen würde, das die US-Generäle im Hinblick auf den möglichen Einsatz nordkoreanischer Chemiewaffen für unverzichtbar halten.
Auch die Militärmanöver unter dem Namen „Nimble Dancer“ (Wendiger Tänzer), die das Pentagon in Südkorea abhält, basieren auf dieser Doktrin, sehen also für den Fall eines nordkoreanischen Angriffs mit Chemiewaffen ausdrücklich einen atomaren Vergeltungsschlag vor. Bezeichnenderweise wurden die Argumente, die der frühere Verteidigungsminister William Perry und eine Expertenkommission der Brookings Institution gegen diese Doktrin vorgebracht haben, von dem Ausschuss zur Überarbeitung der Nuklearwaffenstrategie komplett in den Wind geschlagen. Perry hatte argumentiert, die USA könnten „bei einem Angriff mit chemischen Waffen auch ohne den Einsatz von Nuklearwaffen einen vernichtenden Gegenschlag führen“; die Brookings-Kommission war zu dem Schluss gekommen, dass „Produktions- und Lagerstätten und fahrbare Abschussanlagen“ von Chemiewaffen in einem Krieg mit Nordkorea auch durch konventionelle Waffen „präventiv zerstört“ werden könnten. Aber selbst wenn damit nicht alle chemischen oder biologischen Waffen auszuschalten wären, könne man „die Auswirkungen chemischer und biologischer Angriffe durch massive konventionelle Angriffe gegen militärische Ziele begrenzt halten, ohne auf Kernwaffen zurückzugreifen.“
Dieser Disput zwischen dem Pentagon und den Befürwortern eines Erstschlagverzichts ist Teil eines größeren ungelösten Konflikts über die Zweckbestimmung von Atomwaffen ganz allgemein. Das Pentagon möchte durchsetzen, dass der „Zweck von Nuklearwaffen“ definiert wird als Abschreckung von und Reaktion auf „den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die Vereinigten Staaten oder ihre Verbündeten“, wobei das entscheidende Wort „Massenvernichtungswaffen“ ist, weil es chemische, biologische und atomare Waffen in einer Kategorie zusammenfasst. Das Weiße Haus dagegen befürwortet eine Formulierung, die Raum lässt, um eine verminderte Rolle von Kernwaffen ins Auge zu fassen, wie Obama sie in Prag versprochen hat. Das Resultat ist eine haarspalterische Debatte über die Formulierung eines Kompromisses zwischen Befürwortern und Gegnern des atomaren Ersteinsatzes.
Die Gegner arbeiten auf eine Aussage hin, wonach „der einzige Zweck von Kernwaffen darin besteht, den Einsatz von Kernwaffen gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zu vergelten“. Das Wort „vergelten“ macht diese Formulierung praktisch zu einem verbindlichen „Erstschlagsverzicht“. Darüber hinaus schließt sie den Einsatz von Kernwaffen als Reaktion auf einen Angriff mit konventionellen und chemischen Waffen eindeutig aus. Das aber würde die verteidigungspolitischen Falken in Japan schockieren, die davon ausgehen, dass der „atomare Schutzschirm“ der USA auch gegen chemische und konventionelle Angriffe aus Nordkorea oder China wirksam sein sollte.
Eine Kompromissformel könnte sein, dass eine atomare Antwort auf einen konventionellen oder chemischen Angriff nur dann erlaubt ist, wenn der Angreifer den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, also etwa im Fall Nordkorea. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, das Wort „vergelten“ durch „beantworten“ zu ersetzen. Diese Definition wäre für die Falken in Washington und Tokio eher akzeptabel, weil sie die Möglichkeit abdeckt, dass eine „Antwort“ der USA bereits dann erfolgen kann, wenn man gegnerische Vorbereitungen für einen atomaren Angriff entdeckt.
Die Erstschlagsfalken in Tokio werden nervös
Nach Obamas Prager Rede reiste eine Delegation aus dem japanischen Verteidigungsministerium nach Washington. Sie wollte gegenüber Kongress und Regierung die warnende Botschaft absetzen, dass Japan seine eigenen Atomwaffen entwickeln werde, falls die USA einen „Ersteinsatz“ gegen China oder Nordkorea grundsätzlich ausschließen und keine – aus japanischer Sicht – ausreichende nukleare Streitmacht im Pazifik stationieren sollte.
Die japanische Delegation drängte insbesondere darauf, an den seegestützten Tomahawk-Marschflugkörpern mit Atomsprengköpfen festzuhalten, die nach derzeitiger Planung im Jahr 2013 ausgemustert werden sollen. Die Führung der US-Navy hält diese Tomahawks für entbehrlich, weil die Schlagkraft der auf Trident-U-Booten mitgeführten Raketen und der Langstreckenbomber zum Schutz Japans ausreichen. Acht solcher Trident-U-Boote patrouillieren ständig im Nordpazifik in Reichweite ausgewählter Ziele, sieben davon befinden sich in permanenter Gefechtsbereitschaft und können binnen 12 Minuten reagieren.
Nach Auffassung der Erstschlagsfalken in Washington und Tokio muss jeder amerikanische Schutzschirm über Japan auf dem Prinzip der „extended deterrence“ (erweiterten Abschreckung) beruhen. Das heißt, dass die US-Streitkräfte jeden Angriff, egal ob mit atomaren, chemischen, biologischen oder konventionellen Waffen, mit einem atomaren Schlag beantworten dürfen. Für das Gegenkonzept, also den Einsatz von Atomwaffen nur als Reaktion auf atomare Angriffe, steht der Begriff „core deterrence“ (Kernabschreckung).
„Erweiterte Abschreckung“ ist ein Fantasiename für die Hardliner-Politik gegenüber China und Nordkorea, die fünfzig Jahre lang von allen Regierungen der japanischen Liberaldemokratischen Partei verfolgt wurde, bis die Wahl vom August 2009 erstmals eine Regierung der Demokratischen Partei (DPJ) an die Macht brachte. Diese neue Regierung unterstützt die Prager Vision Obamas sehr entschieden, sodass die Regierung in Washington die Lobbyarbeit der japanischen Falken nicht mehr ganz so ernst nehmen muss.
In Rheinland-Pfalz lagern noch zehn bis zwanzig Atombomben
Der neue japanische Außenminister Katsuya Okada hat Obama wiederholt und unmissverständlich seine Unterstützung zugesichert. Bei der Vereidigung des neuen DPJ-Kabinetts am 16. September 2009 sprach er Ländern, die zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen bereit sind, „jegliches Recht ab, über die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu sprechen“. Als US-Verteidigungsminister Robert Gates einen Monat später Tokio besuchte, wollte Okada die Frage des „Ersteinsatzes“ zur Sprache bringen. Nach japanischen Presseberichten hat Gates dann dieses Thema zwar gemieden, betonte aber nach dem Gespräch auf einer Pressekonferenz die Notwendigkeit einer „flexiblen Abschreckung“. Am selben Tag verwies Okada bei einer Rede in Kioto auf die Widersprüche in der Atomwaffenpolitik seiner Vorgänger: „Bisher sagte die japanische Regierung zu den Vereinigten Staaten: ,Wir wollen nicht, dass ihr auf den Ersteinsatz verzichtet, weil dies die nukleare Abschreckung schwächen würde.‘ Es ist jedoch keine besonders konsistente Haltung, wenn Japan zu einer globalen atomaren Abrüstung aufruft, zugleich aber im eigenen Fall auf dem Recht auf einen Ersteinsatz besteht.“3
Seinen Kritikern hält Okada entgegen, der Verzicht auf den Ersteinsatz seitens der USA bedeute keineswegs, dass sich der atomare Schutzschirm nicht mehr auf Japan erstreckt: „Für den unseligen Fall eines Atomangriffs auf Japan schließen wir eine gleichartige Reaktion nicht aus.“
Der Konflikt zwischen Tokio und Washington in der Frage des Ersteinsatzes wurde auch beim Besuch des US-Generalstabschefs Admiral Mike Mullen deutlich. Wie Gates betonte Mullen im Hinblick auf den Ersteinsatz zunächst die Notwendigkeit einer flexiblen Position, stellte dann aber klar: „In einer Region, in der die Gefahr beständig wächst, sollten wir mit dieser Frage sehr vorsichtig umgehen.“
Nachdem Okada die Falken in Tokio und Washington mit seiner ketzerischen Auffassung zum „Ersteinsatz“ geärgert hatte, ließ er noch schockierendere Aussagen folgen: Japan brauche nicht unbedingt einen nuklearen Schutzschirm gegen Nordkorea, zur Abwehr dieser Gefahr seien konventionelle Waffen ausreichend. Auch sei es durchaus wünschenswert, eine „kernwaffenfreie Zone in Nordostasien“ anzustreben, die wahrscheinlich die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen ausschließen würde.
Für viele Falken in Washington ist Okada aber so wenig ernst zu nehmen wie sein deutscher Kollege Guido Westerwelle, der wiederholt den Abzug aller taktischen US-Nuklearwaffen aus Deutschland gefordert hat. Von beiden Außenministern glaubt man, dass sie früher oder später durch eine proamerikanische Fraktion überstimmt werden. Morton H. Halperin, der in der Clinton-Regierung Vorsitzender des Planungsausschusses im Außenministerium war, erzählte mir damals, wie ein „hochrangiger Beamter“ in der Europa-Abteilung des State Department auf atomwaffenkritische Äußerungen der deutschen Regierung mit den Worten reagierte: „Das ist nicht wirklich die Stimme der deutschen Regierung.“ Ähnliche Äußerungen hört man im heutigen Washington häufig über die neue DPJ-Regierung in Tokio.
Hans Kristensen von der Federation of American Scientists geht in seiner Analyse davon aus, dass auch heute noch „10 bis 20“ Atombomben des Typs B-61 auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz einlagern und dass die USA in Europa noch insgesamt 150 bis 240 dieser Kernwaffen haben (in Deutschland, Belgien, Italien, den Niederlanden und der Türkei). Gegen die Forderung nach dem Abzug dieser Waffen dürfte die neue Nuklearstrategie zwei Argumente ins Feld führen: Zum einen will die Türkei sie auf ihrem Territorium behalten, um einen iranischen Atomangriff abzuschrecken; zum anderen wird das Pentagon einen unilateralen Abzug mit Hinweis auf die 2011 anstehende Revision der Nato-Strategie für „voreilig“ erklären.
In Washington wird die weitere Stationierung von taktischen US-Kernwaffen in Europa mit einem dritten Argument begründet. Die Verhandlungen mit Russland über die START-Verträge betrifft nur die strategischen Kernwaffenarsenale beider Seiten. Russland habe aber weiterhin ein Übergewicht bei den taktischen Kernwaffen (mit einer Reichweite von 500 bis 650 Kilometern für die bodengestützte Variante). Die entsprechenden Schätzungen gehen für die USA von 500 und 1200 aus, während Russland etwa 2 000 taktische Atomwaffen einsatzbereit und weitere 6 000 in Reserve habe.
Atomare Abrüstung entscheidet sich bei den Trägerwaffen
Die Entscheidung der Regierung Obama, die strategischen Atomsprengköpfe im Rahmen der START-Verhandlungen auf 1 550 zu reduzieren, war für die Befürworter von Rüstungskontrollen enttäuschend. Russland hat seine Bereitschaft signalisiert, auf 1 000 Sprengköpfe herunterzugehen, weil es seine Verteidigungsausgaben reduzieren will. Auch in Washington gilt diese Zahl als sicherheitspolitisch vertretbar. Und selbst ein Hardliner wie John Deutch drängte auf eine Beschränkung auf 1 000 Sprengköpfe.
Wichtiger als die Zahl der Gefechtsköpfe oder Trägersysteme ist in den Augen der meisten Experten allerdings die Balance innerhalb der nuklearen Triade, das heißt die Anzahl an strategischen Bombern sowie den boden- und seegestützten Raketen, aus denen sich die nuklearen Arsenale beider Seiten zusammensetzen. Das Mischungsverhältnis, das die neu formulierte Nuklearstrategie empfiehlt, muss mit dem Ergebnis der START-Verhandlungen harmonisiert werden. Und die Entscheidung über die Einschnitte bei den Trägerwaffen (Bomberflotte, Interkontinentalraketen und Trident-U-Boote) ist heftig umstritten. Das ist neben den geschilderten tieferen Differenzen zwischen Pentagon und Weißem Haus ein weiterer Grund dafür, dass sich der Abschlussbericht des Überprüfungskommission ein ums andere Mal verzögert hat.
Zur allgemeinen Überraschung hat selbst die Air Force Association, die sich normalerweise für die Interessen der Luftwaffe starkmacht, in einer neuen Studie empfohlen, die 114 atomwaffenbestückten B-52- und B-2-Bomber nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen und die Abschreckungsmacht hauptsächlich auf Interkontinentalraketen und kernwaffentragende U-Boote zu verlagern, weil die einen Erstschlag eher überleben würden als Bombergeschwader. Ein so grundsätzlicher Strategiewechsel erscheint derzeit zwar unwahrscheinlich, doch im Rahmen der START-Verhandlungen dürfte auch die Zahl von derzeit 450 Interkontinentalraketen verringert werden. Nur die 13 U-Boote, von denen jedes als Träger für 24 atomar bestückte Trident-Raketen dient, werden vermutlich ungeschoren davonkommen.
Die Anhänger der harten Pentagon-Linie im US-Kongress sind mit den Resultaten der START-Überarbeitung nicht zufrieden. Sie würden eine quantitative und qualitative Aufrüstung des US-Kernwaffenarsenal vorziehen und haben angedroht, die Ratifizierung eines neuen START-Abkommens zu blockieren. Als Gegenleistung fordern sie ein Gesetz zur „Modernisierung“ der bestehenden US-Nuklearwaffen. Die Bush-Regierung hatte erfolglos versucht, ein umstrittenes „Reliable Replacement Warhead Programm“ durchzuboxen, wobei die „zuverlässige Auswechslung der Gefechtsköpfe“ faktisch eine qualitative Weiterentwicklung des vorhandenen Arsenals gewesen wäre.
Obama dagegen behauptet, mit seinem „Stockpile Management Program“ würden die bestehenden Atomwaffenarsenale lediglich „renoviert“, um sie sicherer und zuverlässiger zu machen. Es handle sich also um keine technologische Weiterentwicklung. Der Teufel steckt hier allerdings, wie so oft, im Detail: Sämtliche 40 republikanischen Senatoren sowie der Unabhängige Joseph Lieberman haben Obama am 17. Dezember 2009 einen Brief geschrieben, in dem sie feststellen: „Wir glauben nicht, dass ein weiterer zahlenmäßiger Abbau bei den START-Verhandlungen den nationalen Sicherheitsinteressen der USA dient, solange es kein ernsthaftes Programm zur Modernisierung unserer nuklearen Abschreckung gibt.“ In dem Schreiben drängen sie insbesondere auf eine „vollständige und rechtzeitige“ Modernisierung des Bombentyps B-61 und des thermonuklearen Gefechtskopfs W-76.
Nach einem Bericht der renommierten Arms Control Association drängt sowohl das für die Kontrolle der Nuklearwaffen zuständige Einsatzkommando Stratcom wie auch die nationale Behörde für nukleare Sicherheit NNSA darauf, die Entwicklung neuer Gefechtsköpfe zu ermöglichen. Nach demselben Bericht ist zu dieser Frage im Ausschuss zur Überprüfung der Nuklearstrategie noch keine Entscheidung gefallen. Aus der NNSA ist aber im letzten Jahr die Information nach außen gedrungen, dass hier ein detaillierter Plan Die Bombe bleibt
zur Ausweitung der Plutoniumproduktionskapazitäten in Los Alamos (New Mexico), Oak Ridge (Tennessee) und Kansas City (Missouri) ausgearbeitet wurde. Die NNSA soll im Kongress bereits um Unterstützung für ein Gesetz werben, das dieses Programm auf den Weg bringen würde.
Obama hat seine Gegner wieder einmal unterschätzt
Die Umsetzung dieses Vorhabens würde bedeuten, dass die USA ihre jährliche Produktion von Plutoniumsprengköpfen von 20 auf 80 Stück hochfahren. Bislang ist der Plan der NNSA im Kongress noch nicht offiziell zur Sprache gekommen. Doch seine bloße Existenz zeugt von der Stärke der institutionellen Interessen, gegen die sich Obama durchsetzen müsste, wenn seine Vision der nuklearen Abrüstung eine ernsthafte Chance haben soll.
Die Bombe bleibt
Damit zeigt sich ganz deutlich, dass der Präsident seine Widersacher im militärisch-industriellen Komplex ebenso unterschätzt hat wie das Bündnis von Pharmaindustrie und Versicherungen bei der Reform des Gesundheitssystems oder die Macht der Banken bei der Bewältigung der Finanzkrise. Obama hat nicht nur Gates als Verteidigungsminister übernommen, er hat es darüber hinaus versäumt, wichtige Positionen im Pentagon mit glaubwürdigen Anhängern einer atomaren Abrüstung zu besetzen. Somit konnten die Falken auch die Kontrolle über das Komitte zur Überarbeitung der Nuklearstrategie behalten. Und der von der Bush-Regierung berufene Direktor der NNSA blieb ebenso im Amt wie die Experten, die für den Plan zur Vervierfachung der Plutoniumkapazitäten verantwortlich sind. Auch im Beraterstab des Weißen Hauses kam der profilierteste Befürworter der nuklearen Abrüstung, Ivo Daal, nicht zum Zuge. Er wurde mit Obamas Zustimmung auf einen gut gepolsterten Nato-Posten wegkomplimentiert. Im Weißen Haus zogen stattdessen glattgebügelte Leute aus dem Nationalen Sicherheitsrat ein, die den Segen des Pentagons hatten.
Als Präsident Obama begann, sich öffentlich über die Notwendigkeit auszulassen, „eine starke nukleare Abschreckung aufrechtzuerhalten, solange noch Kernwaffen existieren“, hatte er die Schlacht um die atomare Abrüstung verloren. Das Kommando ging auf den aggressiven Stratcom-Befehlshaber General Kevin Chilton über. Der Chef des United States Strategic Command, der auch für die US-Atomwaffen zuständig ist, verkündete am 11. November 2009, die Vereinigten Staaten würden „noch in 40 Jahren atomare Waffen benötigen“. Eine noch kühnere Prognose wagte Chilton am 15. Dezember. Auf einer Tagung in Omaha, Nebraska, die vom Programm für Nukleare Information und damit indirekt von Stratcom finanziert wurde, erklärte er vor 105 Militär- und Waffenkontrollexperten: „Wir werden Nuklearwaffen benötigen, solange es die Vereinigten Staaten gibt.“
Aus dem Amerikanischen von Robin Cackett
Selig S. Harrison leitet das Asienprogramm beim Center for International Policy, Washington, D.C.