13.09.2013

Mit Schiefergas wird alles anders

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Mit Schiefergas wird alles anders

von Régis Genté

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Wer hätte das gedacht? Vor nicht einmal zehn Jahren waren die Erdgasimporte der USA der wesentliche Faktor für den internationalen Markt. Heute sind die USA dabei, selbst Erdgasexporteur zu werden. Für die Geopolitik des Energiesektors bedeutet dies eine tief greifende Veränderung. Da sich Schiefergasvorkommen theoretisch in vielen Regionen der Welt – insbesondere in Europa und China – erschließen lassen, könnten bald weitere wichtige Akteure auf den Markt drängen. Das hieße, dass andere Länder und Regionen wie Russland und der Nahen Osten an Einfluss verlieren. Allerdings gibt es im Hinblick auf die Zukunft des nicht konventionell gewonnenen Erdgases1 noch viele finanzielle, technische und ökologische Fragezeichen. Zudem gehört das Bluffen bei der Erdöl- und Erdgasindustrie nachgerade zum Geschäft.2

Bis vor wenigen Jahren wurde der Markt für (konventionell gewonnenes) Erdgas von den Exporten aus den Förderregionen der ehemaligen Sowjetunion und dem Nahen Osten geprägt, Abnehmer waren die USA, Europa und neuerdings vor allem China. Dieses System mit seinem Netz von Gaspipelines und politisch-finanziellen Abkommen war durch hohe Investitionssummen und lange Projektlaufzeiten gekennzeichnet. Es garantierte zwar eine stabile und relativ verlässliche Versorgung, doch die Einrichtung und Sicherung globaler Versorgungskorridore führte zu Abhängigkeiten zwischen einzelnen Ländern, zur Bildung von Allianzen und auch zur Einmischung in nationale Angelegenheiten der belieferten Länder.

Doch jetzt wird, was niemand vorhergesehen hat, der Energiemarkt völlig aufgemischt. Noch 2007 hatte der russische Erdgasriese Gazprom seine ausländischen Partner (den französischen Konzern Total und die norwegische Statoil) mit dem Ziel ausgesucht, die Erdgasvorkommen von Shtokman in der Barentssee auszubeuten. Für die Erschließung dieses Felds, in dem 2 Prozent der weltweiten Reserven an konventionellem Erdgas lagern sollen, war eine Investitionssumme von 30 Milliarden Dollar veranschlagt. Drei Jahre später legte Moskau das Projekt auf Eis, weil das Erdgas aus Shtokman nicht mehr auf dem US-Markt abgesetzt werden kann. Das lag zum einen am rezessionsbedingten Rückgang des Energieverbrauchs, zum anderen an der Konkurrenz durch die nicht konventionelle Erdöl- und Erdgasförderung. Dieser zweite Faktor wurde im Januar 2013 im „Energy Outlook 2030“ von British Petroleum (BP) als energiepolitische „Renaissance“ der USA gefeiert.

In der Tat hat alles in den USA begonnen. Ende der 1990er Jahre gelang es dem texanischen Ingenieur George Mitchell, die Technik der hydraulischen Frakturierung (siehe nebenstehenden Artikel) im Mergelgestein einzusetzen. Bis 2005 entwickelte das US-Unternehmen Devon Energy die Horizontalbohrung zur vollen Reife, womit die Förderung des seit Langem bekannten Schiefergases möglich wurde. Dieser technologische Durchbruch erlaubte es, Gasreserven in besonders dichten und undurchlässigen Gesteinsschichten („Tight Gas“) zu erschließen sowie Schieferöl zu fördern. Damit konnten Länder wie Brasilien, Kanada und Australien auf dem Energiemarkt mitmischen.

Experten prognostizieren, dass die USA 2030 99 Prozent ihres Energiebedarfs selbst produzieren werden, während sie 2005 lediglich zu 70 Prozent energieautark waren. Angesichts der zentralen Bedeutung, die der Energie in der US-Außenpolitik der letzten Jahrzehnte zukam,3 lässt sich erahnen, welche politischen Veränderungen das bringen wird. Schon jetzt haben die USA die Russen als weltweit größter Erdgasproduzent überholt. Der „World Energy Outlook“ von 2012, publiziert von der International Energy Agency (IEA), geht davon aus, dass die USA innerhalb der nächsten drei Jahre auch Saudi-Arabien als größten Erdölproduzenten der Welt von der Spitze verdrängen werden. In 15 Jahren könnte sich der einstmals größte Energieimporteur zum Erdöl- und Erdgasexporteur entwickelt haben.

Diese Entwicklung habe bereits einen Dominoeffekt ausgelöst, schreibt der Energieexperte Thierry Bros. Das Schiefergas der USA kostete Ende 2012 auf dem Binnenmarkt 4 Dollar pro BBTU (British Thermal Unit), gegenüber 18 Dollar in Asien und 10 in Europa. Die Amerikaner produzierten ihren Strom inzwischen mit Gas statt mit Kohle. „Resultat: Die USA exportieren ihre Kohle nach Europa.“4

Wegen der preisgünstigen Kohle hat etwa GDF Suez in Frankreich drei seiner vier Gaskraftwerke stillgelegt. Die durchschnittliche Auslastung ist von 2011 auf 2012 von 42 auf 33 Prozent gesunken. Sollte sich die Zusammensetzung des Energiemix langfristig ändern, ist ein Schneeballeffekt zu erwarten. Das dürfte sich etwa auch auf die Beziehungen zwischen Europa und Russland auswirken.

Auf dem Energiemarkt werden die Karten neu gemischt

Die Tatsache, dass die EU auf Initiative einiger Länder wie Deutschland in zahlreichen wichtigen politischen und sicherheitspolitischen Fragen erhebliche Zugeständnisse an Moskau gemacht hat, hängt auch damit zusammen, dass 40 Prozent der europäischen Erdgasimporte von Gazprom stammten. Die künftige Energieunabhängigkeit der USA wird diese Konstellation auf indirektem Wege erheblich beeinflussen. Eine besonders wichtige Rolle wird dabei dem Emirat Katar zukommen, das der weltweit führende Exporteur von Flüssiggas (LNG) ist. LNG wird per Schiff und nicht über Pipelines zum Bestimmungsort transportiert und dort in den gasförmigen Zustand zurückverwandelt.

Ein Teil der LNG-Produktion von Katar war für die US-Terminals bestimmt. Weil aber Washington immer weniger Flüssiggas nachfragt, werden wohl große Mengen nach Asien und insbesondere nach Europa umgeleitet werden. Damit wird die Abhängigkeit der EU vom russischen Erdgas reduziert. Mehrere LNG-Terminals sind bereits entstanden oder in Planung (so in Griechenland, Italien und Polen). Vor allem Polen will sich für das aus Katar oder anderen Ländern stammende LNG als Eingangstor nach Europa anbieten.

Wird Russland also zum großen Verlierer der Schiefergasrevolution werden? „In gewisser Hinsicht ja“, meint Tatjana Mitrowa vom Energieforschungsinstitut in Moskau. „Gazprom muss die Idee von langfristigen, sehr einträglichen Verträgen aufgeben und sich auf die Marktlogik einlassen. Das heißt, dass die Gaspreise nicht mehr an den Erdölkurs gekoppelt sein werden.“ Der bis vor Kurzem noch einträgliche europäische Markt wird für Gazprom weniger attraktiv. Dabei lieferte der Konzern 2008 noch 30 Prozent seiner Gesamtabsatzmenge nach Europa – und erwirtschaftete damit 60 Prozent seiner Erträge.

Künftig dürfte sich Russland primär auf die asiatischen Märkte China, Südkorea und Japan konzentrieren, wo seit der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 die Nachfrage nach nichtatomaren Energien deutlich gestiegen ist. Angesichts dieser Wende wird Russland künftig nicht mehr auf Pipelines setzen, deren geografischer Verlauf stets weitreichende geopolitische Folgen hat und langfristige Abhängigkeiten schafft, und sich stattdessen stärker auf das flexibler einsetzbare und anpassungsfähigere LNG verlegen.

Eine Studie über die russischen Perspektiven bis 2040, die unter Leitung von Tatjana Mitrowa entstanden ist, kommt gleichwohl zu einer relativ optimistischen Prognose: „Die Gewinnung von Schiefergas hat die Gefahr, dass die Welt irgendwann über keine erschließbaren und bezahlbaren Erdöl- und Erdgasreserven mehr verfügt, um zwanzig bis dreißig Jahre in die Zukunft aufgeschoben.“ Zugleich sei die Vorherrschaft der Kohlenwasserstoffverbindungen im weltweiten Energiesektor durch den Schiefergasboom bestätigt worden: „Der Erdöl- und Erdgasanteil am weltweiten Primärenergieverbrauch wird sich so gut wie nicht verändern. Er lag 2010 bei 53,6 Prozent und wird 2040 immer noch 51,4 Prozent betragen.“5

Mitrowas Studie prognostiziert den Eintritt in ein globales „Gaszeitalter“, auch weil Gas weniger klimaschädlich ist als andere Energieträger. Die Internationale Energieagentur rechnet bis 2035 mit einer Zunahme des Gasverbrauchs um 50 Prozent. Demnach dürfte der Anteil sämtlicher gasförmiger Energieträger am weltweiten Energiemix in den nächsten Jahren von 21 auf mehr als 25 Prozent steigen.

Und was bedeutet das alles für den Nahen Osten und ganz allgemein für die Mitgliedstaaten der Organisation erdölexportierender Länder (Opec)? Können wir für die Zukunft mit einer geopolitischen Demobilisierung Washingtons rechnen? „Ich glaube nicht“, meint Daniel Yergin, der Präsident von Cambridge Energy Research Associates (Cera).6 „Erstens werden heute weniger als 10 Prozent der Produktion aus dem Persischen Golf in die USA exportiert. Was das reine Volumen betrifft, sind die USA nicht stark von den Golfländern abhängig. Dennoch haben sie ihr Engagement in der Region nicht abgebaut. Für sie zählt, dass das Öl der Weltwirtschaft zur Verfügung steht und zu ihrem Wachstum beiträgt.“

Die Erdöl- und Erdgaslieferungen aus der Golfregion gehen zunehmend nach Asien. „Dies könnte China dazu bewegen, beispielsweise im Nahen Osten sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen, um die Sicherheit seiner Energieversorgung nicht aufs Spiel zu setzen“, meint Michal Meidan, die bei der US-Consultingfirma Eurasia Group auf den chinesischen Energiesektor spezialisiert ist. Zwar habe man in Peking noch große Vorbehalte, aber es sei nicht ausgeschlossen, dass die Chinesen dies angesichts der neuen Realitäten auf dem Erdöl- und Erdgasmarkt und der geopolitischen Implikationen doch tun werden. Derzeit kann sich Peking jedenfalls darauf verlassen, dass die USA, die keinerlei Interesse am Zusammenbruch der chinesischen Wirtschaft haben, die Rolle des Weltpolizisten weiterspielen.

In einem derart unsicheren und sich ständig verändernden Umfeld setzt auch China auf Schiefergas. Das Potenzial ist nach Einschätzung der US-Energiebehörde durchaus vorhanden: Bei den „technisch erschließbaren“ Vorkommen belegt China vor den 40 anderen untersuchten Ländern den ersten Platz.7 Allerdings unterscheiden sich die geologischen Gegebenheiten Chinas stark von denen in den USA. Dies könnte die Förderung erschweren und auf die Rentabilität drücken.

Nach Meidan hat die Energiesicherheit für China absolute Priorität: „Momentan bezieht das Land noch mehr als die Hälfte seiner Rohölimporte aus dem Nahen Osten. Aber angesichts der Revolten in der arabischen Welt treibt es seine Schiefergasproduktion entschieden voran. Deswegen haben die Chinesen auch im Ausland in diese Branche investiert, um sich die erforderliche Technologie zu beschaffen.“

Was Russland betrifft, so muss es nicht nur mit den neuen chinesischen Ressourcen rechnen, sondern auch mit der Konkurrenz der zentralasiatischen Staaten und Australiens, die ebenfalls als Gaslieferanten an China infrage kommen. Deshalb wird es Moskau kaum gelingen, als Energieanbieter gegenüber Peking ebenso dominant aufzutreten wie gegenüber den Europäern in den nuller Jahren.8

Das Spiel ist offen und von vielen Faktoren abhängig. Selbst kurzfristige Prognosen scheinen nichts als Widersprüche hervorzubringen. Die Produktion oder der Transport eines Energieträgers werden zu teuer? Dann muss eben ein anderer Energieträger her oder der Verbrauch gesenkt, die Effizienz erhöht, am Preisbildungsmechanismus geschraubt werden. Kaum wird eine Veränderung verkündet, steht schon die nächste ins Haus „Die Schiefergasrevolution ist bereits überholt“, erklärt Thierry Bros. „In den USA geht es jetzt um das Schieferöl. Bis 2015 wird die Erdölproduktion laut US-Energieministerium um 23 Prozent ansteigen.“

Eine weitere Unbekannte ist die Menge der weltweiten Schiefergasreserven. „Sie lassen sich nur sehr schwer schätzen“, sagt Bruno Courme, der bei Total für den Bereich Schiefergas verantwortlich ist. Das sei der Unterschied zu den Vorkommen an konventionellem Erdgas. „In Europa wird nur wenig Erdöl und Erdgas aus Quellen zu Lande gewonnen. Unsere Kenntnisse des Untergrunds sind somit beschränkt. Um ihn zu erforschen, müssen Bohrungen niedergebracht und Produktionstests durchgeführt werden. In Polen etwa haben unsere amerikanischen Partner von Exxon entschieden, das Abenteuer nicht weiter zu verfolgen – nachdem die ersten Resultate enttäuschend ausfielen. Allerdings hatten sie nur rund dreißig Bohrungen ausgeführt.“

Die Interessen Polens sind klar: Man träumt davon, die Abhängigkeit von Gazprom zu reduzieren – und damit von Russland, das historisch immer ein schwieriger Nachbar war.9

Die wichtigsten Akteure auf den globalen Energiemärkten – die USA, China, die Europäische Union, Russland und die Golfstaaten – haben auf die „Schiefergasrevolution“ bereits reagiert, sei es gezwungenermaßen, sei es aus eigenem Antrieb. Sie alle müssen sich auf die neue Situation einstellen, ohne jedoch die langfristigen Folgen dieser Umwälzungen wirklich voraussehen zu können.

Fußnoten: 1 Das konventionelle Gas ist in porösen, durchlässigen Gesteinsschichten (Sand, Sandstein) eingelagert. Nicht konventionell gefördert werden muss das Gas, das sich in wenig durchlässigem Gestein befindet. Es ist nur mit aufwendigen Methoden freizusetzen. 2 Siehe Nafeez Mosaddeq Ahmed, „Die nächste Blase. Fracking löst das Energieproblem nicht“, Le Monde diplomatique, März 2013. 3 Vgl. Jean-Pierre Séréni, „Bagdad, Basra, Kirkuk. Amerikas Krieg ums Öl und warum ihn bislang niemand gewonnen hat“, Le Monde diplomatique, März 2013. 4 Thierry Bros, „After the US Shale Gas Revolution“, Paris (Technip) 2012. 5 „Global and Russia Energy Outlook up to 2040“: www.eriras.ru. 6 Verfasser von „The Quest: Energy, Security and the Remaking of the Modern World“, London (Penguin) 2012. 7 US Energy Information Administration, 10. Juni 2013: www.eia.gov. 8 Neil Buckley, „Resource-rich Russia’s energy pivot to the East has limit“, Financial Times, London, 28. Juni 2013. 9 Siehe Dominique Vidal, „Der neue polnische Realismus“, Le Monde diplomatique, Dezember 2012.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Régis Genté ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2013, von Régis Genté