13.09.2013

Selbstgebaute Städte

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Selbstgebaute Städte

Wie sich in Limas einstigen Vorzeigesiedlungen für Arme die Spekulation breitmacht von Elizabeth Rush

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An diesem Samstagabend versammeln sich Hunderte von Menschen in Los Alamos zum zweiten Geburtstag dieses pueblo joven („junges Dorf“). In anderen Weltgegenden nennt man Orte wie Los Alamos Shanty Towns oder Slums. Der Ausdruck Pueblo joven, der in Lima benutzt wird, hat jedoch einen anderen Klang. Er verweist auf die lange Tradition der peruanischen Hauptstadt, derartige Besetzungen von städtischem Gebiet als notwendigen, wenn auch informellen und ungeregelten Teil der Urbanisierung zu unterstützen. Im Lauf der Jahre haben sich viele von Limas „jungen Dörfern“ zu den lebendigsten Vierteln der Stadt entwickelt.

Auch in Los Alamos herrscht zum Jahrestag festliche Stimmung. Auf einer wackligen Bühne spielt eine Salsaband, die Festgäste tanzen oder trinken in der lauen Sommerluft ein warmes Bier. Am nächsten Morgen ist das Pueblo joven jedoch völlig ausgestorben. Auf den Sperrholzhütten, die sich an den steilen und schrundigen Abhängen der Schlucht zu stapeln scheinen, flattern noch die Wimpel vom Fest. Aber es ist niemand zu Hause, die Türen sind mit Vorhängeschlössern versperrt. Magere Wachhunde liegen träge in der Sonne. Wo immer ich anklopfe, es ist keiner daheim – keiner außer Leonarda, einer stämmigen Frau, der man ansieht, dass sie aus den Bergen stammt.

„Nach dem Fest gestern Abend waren die Leute so müde, dass sie in ihre alten Häuser zurückgekehrt sind, ins Untere Huaycán, in Zone C und D“, erklärt sie uns. Ihre zwei kleinen Kinder klammern sich an ihre Beine. Ihr Mann, der unten in der Stadt als Schuhputzer arbeitet, wird erst nach Sonnenuntergang heimkommen. Im Augenblick ist Leonarda die einzige Erwachsene auf dem Berg. „Du kannst mich fragen“, sagte sie, „aber viel kann ich dir nicht sagen.“ Leonardas Familie ist eine von drei Familien, die dauerhaft in Los Alamos leben. Früher wurden Landbesetzungen in Peru gemeinschaftlich unternommen von Familien, die vom Land in die Stadt zogen. Heute durchlaufen die meisten den mühsamen Prozess der Neuansiedlung mehr oder weniger isoliert.

Leonardas Veranda liegt sechzehn Kilometer östlich des Zentrums von Lima auf dem Berg am Ende des Huaycán-Tals. Wenn man ins Tal hinunterschaut, sieht man eine robuste und vitale Stadt mit schnurgeraden Straßen und öffentlichen Parks. Es gibt Fleischer und Schneider, Lehrer und Ingenieure, Internetcafés, Hähnchengrillrestaurants, Schulen, Gemeinschaftsgärten und Fußballplätze, unheimlich viele Fußballplätze.

Vor vierzig Jahren war das Tal noch Wüste. In den 1980er Jahren spaltete der Krieg gegen die maoistischen Guerillagruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) das Land. Die Wirtschaft brach zusammen, und eine Welle von Migranten überflutete Lima, so dass selbst an diesem abgelegenen Ende der Stadt plötzlich Hütten errichtet wurden. Statt die Flüchtlinge, die sich auf öffentlichem Grund behelfsmäßige Unterkünfte errichteten, zu ignorieren oder zu vertreiben, bot ihnen die Stadtverwaltung Lima Hilfe an. Die Regierung ließ Untersuchungen durchführen und entwickelte einen Flächenplan für das Gebiet. Die Zugewanderten bauten die von der Gemeinde vorgeschriebene Infrastruktur und erhielten im Gegenzug von der Stadt Zugang zu elementarer Infrastruktur wie Wasserversorgung, Strom und Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Auf diese Weise wurde praktisch über Nacht ein neues Pueblo joven geboren.

Auf internationalen Stadtplanungstagungen werden die Pueblos jóvenes von Lima oft als Vorzeigeprojekte einer positiven informellen Stadtentwicklung gepriesen. Und tatsächlich, die Vorstädte aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren sind genau dies: dynamische, vergleichsweise sichere Gemeinden, mit denen sich die Einwohner identifizieren. Doch in den frühen 1990ern wurde unter dem neoliberalen Autokraten Alberto Fujimori diese Politik der Aufwertung wilder Barackensiedlungen mithilfe einer Partnerschaft zwischen Landbesetzern und Regierung durch eine Politik des verbrieften Grundeigentums ersetzt.

Obwohl die Vergabe von Eigentumstiteln an Besitzlose zunächst als ein wohltätiges Unterfangen erscheint, war die Einbindung der Armen in die Marktwirtschaft keineswegs förderlich für die Stadtentwicklung. Menschen, die in den neueren Pueblos jóvenes leben, kämpfen zum Teil seit Jahrzehnten mit privaten Dienstleistungsunternehmen um eine Anbindung an die grundlegendste Versorgung. Der Ankauf und Verkauf von Parzellen ist mittlerweile zum einträglichen Geschäft für bereits etablierte Limeños geworden, wie sich die Einwohner der Hauptstadt nennen. Für Neuankömmlinge ist dieses Land längst unerschwinglich geworden.

Direkt hinter Leonardas Haus begegne ich einer gut gekleideten jungen Frau mit einem Smartphone am Gürtel ihrer hautengen Jeans. „Meine Mutter gehört zu den Gründern von Huaycán, sie hat das ganze Land hier 2008 von den Collanac [einer lokalen ethnischen Gruppe] gekauft“, erzählt sie und weist auf die oberen Hänge des Tals. Ihre Mutter ist damit nicht allein. Rund um Lima kaufen einflussreiche Ansässige illegal Randgrundstücke von den indigenen Eigentümern und verlangen dann von jedem, der auf ihrem „Eigentum“ bauen will, eine Ablösesumme. Oft zahlen die längst in der Stadt etablierten Migranten aus den unteren Teilen des Tals diese Gebühr, bauen dort provisorische Unterkünfte, um dann in ihr eigentliches Haus zurückzukehren und auf Zuzüglinge wie Leonarda zu warten. In einem Land, in dem es nur wenige Möglichkeiten zum Immobilienerwerb gibt, ist der An- und Verkauf von Landparzellen für viele Familien aus der Arbeiterklasse eine der wenigen realistischen Möglichkeiten, die nötigen Mittel zusammenzubekommen.

Kein Wasser, keine Kanalisation, keine Straßen

„Wir wollten nur ein Stückchen Land, das uns gehört, wo wir Gemüse anpflanzen können. Und ich wollte, dass die Kinder zur Schule gehen können“, erklärt Leonarda. Vor einem Jahr sind sie und ihr Mann von der knapp tausend Kilometer entfernten Grenze zu Ecuador in die Hauptstadt gezogen, um dort ein neues Leben anzufangen. Wären sie vor vierzig Jahren nach Huaycán gekommen, hätten sie mit anderen Zuwanderern zusammen das Land einfach in Besitz genommen. Heute mussten Leonarda und ihr Mann für ihre Hütte 2 800 US-Dollar (ungefähr vier Jahresgehälter) an jemanden aus dem Unteren Huaycán abdrücken. „Wir haben kein Wasser, keine Kanalisation, keine Straßen. Wir haben Licht, aber es ist nicht offiziell und sehr teuer“, sagt Leonarda.

Auf dem Hang hinter ihrem Haus liegen verstreut leere konfettifarbene Hütten, rosa, schieferblau, senfgelb oder lila. Viele sind unfertig und bestehen nur aus Holzwänden ohne Dach. Viele informelle Stadtviertel haben so angefangen – ein paar Spanplatten, Planen und Wellblech – und sich im Lauf der Zeit oft zu funktionierenden Gemeinden entwickelt. Aber das Obere Huaycán ist anders als die meisten früheren Pueblos jóvenes. Das Viertel ist bereits verlassen, bevor es die Möglichkeit hatte, sich eigenständig zu entfalten. Die Liste der Dinge, an denen es Leonarda mangelt, ist lang, aber das Wichtigste sind die Nachbarn.

Limas offizieller Slogan „Ciudad para Todos“ („Stadt für alle“) lässt sich nicht übersehen. Er steht in der neuen U-Bahn, auf den Wassertanks hoch oben auf den staubtrockenen Dünen, auf den Brusttaschen der Landvermesser, die den Wert des Lands entlang des Rio Rimac schätzen. Ein Drittel aller Peruaner lebt in Lima. Und ein Drittel aller Limeños lebt auf Land, das sie nicht gekauft haben. Im Laufe der letzten hundert Jahre sind Millionen peruanischer Bauern nach Lima gezogen, weil sie ihrer Lebensgrundlage beraubt worden waren oder vor dem Guerillakrieg fliehen mussten. Zwischen 1940 und 1993 hat die Bevölkerung der Hauptstadt um 1 000 Prozent zugenommen.1

Die Anden fallen zum Meer hin steil ab. Zuwanderer, die es sich nicht leisten konnten, auf der flachen, fruchtbaren Ebene von Lima zu wohnen, ließen in sich in den Bergnischen nieder, den abgelegenen Einöden und schmalen Tälern, die sich in die riesige Gebirgswand eingegraben haben – auf Land, das ihnen nicht gehörte.

1971 ließen sich statt 200 Familien, die ursprünglich eine Landbesetzung geplant hatten, 9 000 auf überwiegend privatem Boden inmitten des wohlhabenden Stadtviertels Pamplona nieder. Die Zustände waren chaotisch, und die Vertreibung der Zuwanderer schien unvermeidlich. Der damalige Präsident, General Juan Velasco Alvarado, unterband die Lieferung von Nahrungsmitteln und ließ die Landbesetzer dann mit Bussen in einem leeren Wüstenstreifen absetzen, der, was damals niemand geahnt hatte, ein neuer städtebaulicher Prototyp werden sollte.

Auf dem Stadtplan wirkt Villa El Salvador heute so steril und vorhersehbar wie ein Krankenhaus. Es gibt dort keine kurvenreichen Gassen, in denen man sich verlaufen könnte, nur Aberhunderte von schnurgeraden Straßen, die sich exakt rechtwinklig kreuzen. Das Velasco-Regime gab nur die Planung der künftigen Stadt vor und überließ die Umsetzung den Siedlern. Die Arbeiten, die zur Herstellung einer provisorischen Infrastruktur nötig waren, wie etwa die Planierung der Straßen und das Ausheben der Gräben für die Wasserleitungen, wurde von den Besetzern, die bei ihrer Ankunft in Lima gewöhnlich arbeitslos waren, unentgeltlich geleistet.2 Bis 1975 schnellte die Bevölkerung von Villa El Salvador auf 130 000 Einwohner empor; innerhalb von fünf Jahren nachdem sie sich in der Wüste niedergelassen hatten, verfügten die meisten von ihnen über Wasser und Strom.3

„Sowohl der Regierung als auch den Menschen war klar: Wenn die Zuwanderer sich ins Zeug legen und selbst die Fundamente dieser neuen Städte legen, dann steht der Staat in der Pflicht, für sie zu sorgen oder ihnen zumindest auf halbem Weg entgegenzukommen“, meint Daniel Ramírez Corzo, ein ehemaliger Bewohner von Villa El Salvador, der den gegenwärtigen Bürgermeister in Fragen des Wohnungsbaus berät. Villa El Salvador wurde zur Blaupause. In den zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung bildeten sich im Wüstensand Hunderte von relativ gesunden, informellen Städten.

Auf dem Höhepunkt dieser integrativen Politik wurden Zuwanderer als Partner der hauptstädtischen Expansion behandelt. Die Landbesetzer des vergangenen Jahrhunderts wohnen heute in jenen Vorzeigestädten, bei deren Anblick auswärtige Besucher, die das Erfolgsrezept für die Ansiedlung von Zuwanderern in Lima studieren, in Begeisterung ausbrechen.

Doch der Statt hat seine Haltung zur informellen Stadtentwicklung geändert: Vor 17 Jahren startete Präsident Fujimori, der heute wegen Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis sitzt, ein von der Weltbank finanziertes Programm zur Formalisierung des informellen Landbesitzes undgründete dafür die Behörde namens Cofopri. Vordenker war der peruanische Ökonom Hernando de Soto, Autor des neoliberalen Klassikers „Freiheit für das Kapital“.

„Die Armen sind nicht das Problem, sie sind die Lösung“, schreibt er. Die meisten Armen besäßen bereits genügend Güter, um im Kapitalismus zu bestehen. Der Wert ihrer Güter sei immens, er betrage „das Vierzigfache aller ausländischen Hilfsleistungen weltweit seit 1945“. Diese Ressourcen würden allerdings nicht sinnvoll eingesetzt.

„In Ermangelung von Dokumenten, die eindeutig ihren Eigentümer ausweisen, kann dieser Besitz nicht direkt in Kapital umgewandelt und nicht außerhalb der kleinen, lokalen Kreise, in denen die Menschen einander kennen und vertrauen, verkauft werden. Er kann weder als Sicherheit für Kredite noch als Sacheinlage für Investitionen dienen.“4 Gibt man einem Landbesetzer jedoch einen verbrieften Rechtstitel, verfügt er oder sie über die Ressourcen – etwa um einen Kredit aufzunehmen –, um sein eigenes Los und das seiner Gemeinschaft zu verbessern.

In den letzten zwanzig Jahren hat die Regierung zur Lösung des Wohnungsproblems die Festschreibung von Grundeigentum gegenüber handfesten Lösungen aus Stein und Mörtel bevorzugt. Das hatte zwei Gründe: Erstens kostet ein Grundbucheintrag nur 60 Dollar und ist damit viel billiger als Baumaterialien. Zweitens scheint damit auch jede Art von Umverteilungspolitik, sei es durch Steuern oder durch direkte Subventionierung von Bauprojekten, überflüssig zu werden.

Mit der Festschreibung von Landrechten entfernt der Staat auf wundersame Weise die Hürde, die die Armen daran hindert, den bestehenden Reichtum unter ihren Füßen zu nutzen. Aber keine noch so ausgefeilte neoliberale Logik ändert etwas an der Tatsache, dass die neuerdings im Grundbuch eingetragenen Eigentümer sich nicht wie erwartet verhalten: Nur die wenigsten von ihnen sind zur Bank gelaufen, um einen Kredit aufzunehmen.

„Warum sollte ich mein Zuhause aufs Spiel setzen, das Wichtigste in meinem Leben, bloß um auf Pump ein bisschen mehr Geld zu bekommen?“ fragt Casio, der Bürgermeister von Virgen de Guadelupe, einer Siedlung, die als eine der ersten von Cofopri mit Rechtstiteln versorgt wurde. Casio stellt Schmuck her, hat ein kleines Geschäft, ist Vater zweier Kinder. Am Wochenende macht er Musik in einer Band.

Sein Haus hat er Schritt für Schritt ausgebaut – zuerst die Sanitärinstallationen verlegt, dann die Fußböden mit Zement ausgegossen, dann einen Satellitenempfänger installiert – und jeden Schritt mit dem Geld bezahlt, das er zwischenzeitlich verdient hatte. Und obschon der Ausbau so sicher länger gedauert hat als mit einem Kredit, ist das doch die bevorzugte Vorgehensweise, wie die Leute aus dem Nichts „poco a poco“ ganze Stadtteile erschaffen.

Ein Eigentumstitel ist noch keine Lösung

Gemeinsam mit seinen Nachbarn hat Casio den felsigen Abhang erobert, an dem er lebt. Sie haben mit der Spitzhacke Fußpfade in den Fels gehauen und die abgeschlagenen Steine für die Fundamente künftiger Häuser benutzt. Er hat über ein Jahrzehnt um Wasser und Kanalisation für seine Gemeinde gekämpft, und als die Wasserversorgungsfirma Sedapal endlich Leitungen nach Virgen de Guadelupe legte, brachte er seinen Nachbarn bei, wie die neuen WCs zu benutzen und instand zu halten sind. Casio ist extrem vielseitig und ein scharfer Rechner. Und wie die überwältigende Mehrheit der zu Grundeigentümern gewordenen Landbesetzer von Lima lehnt er es ab, sich zu verschulden.

Der Geschäftsführer von Cofopri, Ais Jesús Tarabay Yaya, spielt die Tatsache herunter, dass die Leute von ihrer neu gewonnenen Kreditwürdigkeit keinen Gebrauch machen. Man könne die Menschen in zwei Gruppen einteilen: „Leute, zu deren Tugenden der Geschäftssinn zählt“, und solche, „denen es an Unternehmergeist mangelt“. Casio und die allermeisten von Limas Landbesetzern gehören in seinen Augen offenbar letzterer Kategorie an.

Früher benötigte man zwanzig Jahre und Hunderte kleiner Schritte, um sich Landrechte eintragen zu lassen. Der Prozess musste von der Gemeinde durchgeführt werden, die das Land, das sie einmal zu besitzen hoffte, langsam selbst entwickelte. Durch Cofopri kann sich jedes Individuum ohne großen Aufwand selbst einen Titel verschaffen. Man muss nur im Zentralbüro in San Isidro eine Nummer ziehen und warten, bis man vom Rechtspfleger an den Schalter gerufen wird.

An meinem vorletzten Morgen in Lima sitze ich im neonbeleuchteten Cofopri-Büro und beobachte die Migranten im Sonntagsanzug, wie sie nervös ihre Papiere bündeln. Wenn sie beweisen können, dass sie seit zehn Jahren auf öffentlichem Land leben und ein Statiker ihnen bestätigt hat, dass dort ein Gebäude errichtet werden kann, erhalten sie ihren Eintrag. Landrechte für Landlose sind ja keine üble Sache, aber die Vergabemechanismen wirken sich entscheidend darauf aus, wie die Stadt insgesamt sich entwickelt.

Im Lauf der nächsten 35 Jahre wird sich die Zahl der Landbesetzer auf diesem Planeten verdoppeln, und die meisten von ihnen werden an den Rändern der stetig wachsenden Metropolen leben. Viele Städte blicken auf Lima, um das Problem in den Griff zu bekommen. Vor knapp zwei Jahren kam eine Delegation aus Indien nach Peru, um zu prüfen, ob das Cofopri-Modell auch Städten wie Delhi und Mumbai helfen könnte, mit der Bevölkerungsflut fertigzuwerden. Außenstehende betrachten die informellen Städte, die sich gut entwickelt haben, und schreiben den Erfolg von Limas Pueblos jóvenes fälschlicherweise der Formalisierung von Landrechten zu – statt der traditionellen Partnerschaft des Staats mit seinen informell lebenden Bürgern.

Teresa Cabrera, Forscherin am Zentrum für Entwicklungsforschung und -förderung (Desco) in Lima, glaubt: „Die leicht zu erwerbenden Landrechte, die Cofopri anbietet, haben auf gewisse Weise ein Gleichgewicht gestört.“ Jetzt schnappten sich Spekulanten einfach das Land an den Stadträndern. Die Prozesse des Zusammenwachsens, die früher vor Ort dazugehörten, fielen aus. „Das Land bleibt unentwickelt, und der gesamte soziale Aspekt der Gemeinschaftsbildung fällt weg.“ Früher war Landbesetzung eine gemeinschaftliche Unternehmung von Peruanern, die sich selbst ein Haus und zugleich mit anderen zusammen eine Gemeinschaft bauen wollten. Doch dank der leicht zu erwerbenden Landrechte ist die Landnahme an der Peripherie von Lima mehr und mehr zu einem Sport für Spekulanten verkommen.

Als Victor Raul Acuña in seine eigenen vier Wände ziehen wollte, trat er in die Fußstapfen seiner Eltern: Er besetzte 2005 den Mittelstreifen einer stillgelegten Landstraße westlich von Villa El Salvador, wo er aufgewachsen war. „Es lebten schon einige kleine Gruppen auf dieser Straße“, erzählt Acuña. „Ihre Siedlung war abgebrannt, und dann waren sie hierhergezogen. Wir schlossen uns ihnen einfach an: ich, meine Frau, meine zwei Kinder und etwa zweihundert andere.“ Gemeinsam bildeten sie die Gemeinde Juan Pablo Segundo. (Johannes Paul II.). Doch was Acuña nicht wusste, war, wie sehr sich die Politik und daher auch die Praxis der Landbesetzung seit den Tagen von Villa El Salvador verändert hatte.

Zunächst haben die Gründer von Juan Pablo Segundo die Ansprüche auf künftige Parzellen zweimal verkauft und sich mit dem Gewinn aus dem Staub gemacht. Dann kam es mehrfach zu brutalen Polizeiübergriffen. Wasser war knapp. Nach ein paar Monaten bildeten sich unter den Besetzern Fraktionen. Die meisten der doppelt vergebenen Grundstücke wurden geteilt, was Probleme wegen der unterschiedlichen Parzellengrößen und hinsichtlich der späteren Formalisierung aufwarf.

Aber das hartnäckigste Problem waren die „leeren Häuser“. Viele Besetzer der ersten Stunde hatten provisorische Bauten errichtet und waren dann wieder verschwunden. „Diese Leute haben bereits schöne Häuser in Lima. Sie wollen hier nur Geld machen und überlassen uns die Arbeiten an der Infrastruktur. Sie warten unten im Tal auf die Papiere, das Wasser, das Licht. Und wenn alles da ist, verkaufen sie“, erklärt Acuña, während er seine kräftigen, von den Arbeiten am Straßendamm schwieligen Finger öffnet und schließt.

Während Acuña auf die kleinen Erfolge verweist – eine öffentliche Wasserzapfstelle, die kleinen gelben und weißen Wimpel mit der Aufschrift „Juan Pablo Segundo“ an den Dachrinnen, die die seltenen Niederschläge in die Regentonnen vor den Häusern leiten –, scheint das eigentliche Ziel einer legalen Existenz mit einer verlässlichen Grundversorgung weiter entfernt, als er sich eingestehen mag.

Heute wohnt er bereits sieben Jahre in Juan Pablo Segundo. Aber noch immer wird sein Strom illegal abgezweigt, das Haus hat kein fließendes Wasser, und die Straße ist so steil, dass kein Wassertanklaster die Siedlung erreicht. „Wir wollen die Eintragung, weil wir mit den Landrechten vielleicht endlich eine Grundversorgung bekommen“, erklärt Acuña. Aber was er nicht weiß und was Cofopri nicht zugeben kann, ist, dass die Landrechte allein noch keine Entwicklung bedeuten.5

Ein erstes Bauprogramm für bezahlbare Wohnungen

„Ein Stück Wüste ist noch keine Lösung, aber ein Stück Papier ebenso wenig“, erläutert Daniel Ramírez Corzo. „Ohne die Einrichtung oder Förderung der notwendigen Infrastruktur ist die Eintragung nur ein System, das die Armut in den informellen Siedlungen der Peripherie zementiert.“ Letzten Monat begann Corzo mit Limas erstem Bauprogramm für bezahlbaren Wohnraum. Für ihn sind höhere Häuser in zentraler gelegenen Vierteln die bessere Lösung zur Aufnahme der vielen Migranten, die immer noch in der Stadt landen.

Limas Bürgermeisterin Susana Villarán, zu deren Stab auch Ramírez Corzo gehört, unternimmt erste Versuche, sich wieder von den klientelistischen Beziehungen, die unter der Regierung Fujimori eingerichtet wurden, zu verabschieden. Aber der Weg ist steinig. Viele Angehörige der ärmeren Schichten, die sich an sporadische Zuwendungen gewöhnt haben, sind darüber ebenso aufgebracht wie diejenigen, die sie verteilt haben und von Villarán der Korruption bezichtigt wurden. Am 17. März hat sie ein Referendum über ihre Abberufung als Bürgermeisterin von Lima mit 3 Prozentpunkten Vorsprung knapp für sich entschieden.

Kurz bevor ich Los Alamos verließ, begegnete ich einer Familie aus La Victoria, jenem Viertel im Zentrum Limas, wo sich der florierende Textilmarkt von Gamarra befindet. Neben Leonarda und der Tochter der Spekulantin waren es die einzigen Leute, die ich am Sonntag nach der Fiesta dort angetroffen habe. Sie waren gekommen, um sich ein Stück Land anzusehen, von denen ihnen ein Freund erzählt hatte. „Unser Land entwickelt sich so schnell, da ist es ratsam, ein Stück Grund zu besitzen, mit dem man ein wenig Geld verdienen kann“, meint der Vater, der seit fast fünfzig Jahren in der Hauptstadt arbeitet.

Es herrscht sengende Hitze, und wir setzen unsere Unterhaltung im Schatten eines unbewohnten Hauses fort. „Aber das Land hier liegt zu hoch und der Bodenpreis auch. Hier gibt es nichts. Ich will das Land für meinen Sohn. Er muss nicht sofort ausziehen, aber wie lange wird es dauern, bis es hier Straßen und Wasser gibt?“ Ohne die Arbeitskraft seines Sohns und anderer neuer Bewohner und ohne das Entgegenkommen des Staats wird es wahrscheinlich noch lange dauern.

Fußnoten: 1 Daniella Gandolfo, „City at Its Limits: Taboo, Transgression, and Urban renewal in Lima“, Chicago (University Press) 2009. 2 Gustavo Riofro, „The Case of Lima, Peru“, in: „Understanding Slums: Case Studies for the Global Report“, UN Habitat, 2003. 3 Peter Schübeler, „Participation and Partnership in Urban Infrastructure Management“, Weltbank, Washington 1996. 4 „Freiheit für das Kapital! Warum der Kapitalismus nicht weltweit funktioniert“, Berlin (Rowohlt) 2002 (Zitat nach der französischen Ausgabe). 5 Antonio Stefano Caria, „Títulos sin desarrollo: Los efectos de la titulación de tierras en los nuevos barrios de Lima“, Estudios Urbanos, Nr. 4, Lima 2008.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Elizabeth Rush ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2013, von Elizabeth Rush