13.09.2013

Falsche Versprechen

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Falsche Versprechen

Mikrokredite helfen den Armen nicht weiter von Paul Lagneau-Ymonet und Philip Mader

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Das globale Forum „Konvergenzen – auf dem Weg zu einer gerechten und nachhaltigen Welt“, das vom 17. bis 19. September in Paris stattfinden wird, ist eine gute Gelegenheit, sich mit einem der Vorzeigemodelle zur scheinbaren Aufhebung der Widersprüche des Kapitalismus näher zu befassen: der Mikrofinanzierung.

Mithilfe von Krediten, Sparkonten und Versicherungen, so die Theorie, könnten sich die Allerärmsten aus eigener Kraft aus der Armut befreien. Einzelpersonen oder Gruppen, die keinerlei Sicherheiten vorweisen können, erhalten Zugang zu Finanzmitteln – jedoch zu enormen Zinssätzen von 30 Prozent und mehr pro Jahr1 –, um sich als Handwerker oder Händler selbstständig zu machen. So stellen sich das jedenfalls die Mikrofinanzinstitute vor.

Und natürlich gibt es jede Menge Erfolgsgeschichten zu berichten, wie etwa die von der indischen Lumpensammlerin aus Andra Pradesh, deren Geschäft florierte, nachdem sie sich einen Karren kaufen konnte, oder die von der mongolischen Witwe aus einem Armenviertel in Ulan-Bator, die ihren Viehbestand innerhalb eines Jahrzehnts mehr als versiebenfachte und mit 45 Milchkühen ihre gesamte Familie ernährt.

Da die Mikrofinanzierung nur Symptome bekämpft, ohne dabei das System infrage zu stellen, erfreut sie sich einer großen Anhängerschaft vor allem unter Politikern, Arbeitgebern, Philanthropen und in allen Organisationen, die sich der Armutsbekämpfung verschrieben haben. Unternehmertum als Prinzip, der Markt als Grundlage und ein „fairer und nachhaltiger“ Kapitalismus als Ziel – so lautet das Credo von Muhammad Yunus, Gründer der Mikrokreditbank Grameen in Bangladesch und Träger des Friedensnobelpreises.

Bei der Preisverleihung damals in Oslo, am 10. Dezember 2006, erhob der „Bankier der Armen“ den Kredit gar in den Rang eines „Menschenrechts“. Er prophezeite, künftige Generationen würden gar nicht mehr wissen, was Armut ist, die gäbe es dann nur noch im Museum zu besichtigen. Und er verglich die Armen mit Bonsaibäumchen, deren Wachstum durch die Gesellschaft absichtlich verhindert wird. „Wenn die Armen ihre Energie und ihre Kreativität freisetzen können, wird die Armut schnell verschwinden“, meinte Yunus.

Die Prophezeiung hat sich indes bisher noch nicht erfüllt. Ein Wissenschaftlerteam unter Leitung der Ökonomin Maren Duvendack analysierte im Auftrag des britischen Entwicklungsministeriums 2 643 Publikationen, die sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Implikationen der Mikrofinanzierung, vor allem im Hinblick auf Frauen, befassten. Positive Ergebnisse ließen sich dabei nicht feststellen. Eine im Frühjahr 2013 erschienene Studie zeigt, dass die Armen sich mitnichten in Massen auf Mikrokredite gestürzt haben, und dass diejenigen, die solche kostspieligen Darlehen aufnahmen, keine Vorteile daraus ziehen konnten.2 Das Bildungsniveau, die Gesundheit und die Chancen für Frauen, ihre eigene Existenz zu sichern, hatten sich bei den Kreditnehmern nicht verbessert.

Was sich bei den verschuldeten Haushalten hingegen nachweisen ließ, war ein Rückgang beim „Konsum von Genussmitteln wie Alkohol und Tabak sowie Restaurantbesuchen“, eine Verringerung der Repräsentationsausgaben für Feste und eine deutliche Verstärkung der Arbeitsanstrengungen.3

Profitables Geschäft für Kreditgeber

Fazit: Mikrokredite befreien die Armen zwar nicht aus der Armut, scheinen sie aber zu disziplinieren. Tatsächlich stellen sie für die meisten nur eine Notlösung dar. Arme Menschen machen sich selbstständig, weil sie keinen Job finden, und sie nehmen einen Kredit auf, weil ihre Einkünfte nicht ausreichen. Laut John Hatch, einem Entwicklungsökonomen und Mikrofinanzpionier, werden die Darlehen tatsächlich zu 90 Prozent für Konsumgüter und nicht für Investitionen verwendet.4

Die Verteidiger der Mikrofinanzierung lassen sich jedoch gar nicht erst auf mühselige Diskussionen darüber ein, ob das Fehlen von Beweisen schon gleichbedeutend ist mit fehlendem Nutzen. Stattdessen haben sie einfach ihre Zielvorgaben verändert. So will die Weltbank jetzt mithilfe der „beratenden Gruppe zur Hilfe für die Armen“ (Consultative Group to Assist the Poor, CGAP), einem Zusammenschluss von Entwicklungsorganisationen im Mikrofinanzsektor, die „finanzielle Inklusion“ fördern. Stand zuvor die Armutsbekämpfung durch Unternehmensgründungen auf Pump im Mittelpunkt, geht es nun bloß noch um den Vertrieb von Finanzprodukten an benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Das macht es gleich viel einfacher, den Nachweis des „Wunders“ zu erbringen.

Bereits in den 1970er Jahren konnten die Vorreiter der öffentlichen oder genossenschaftlichen Mikrokreditinstitute zeigen, dass man an die Armen Geld zu Zinssätzen verleihen kann, die deutlich unterhalb dessen liegen, was die notorischen Kredithaie für ihre Dienste verlangen. Seither hat sich überall in der Welt eine wettbewerbsfähige Mikrofinanzbranche etabliert, die zumindest für die Kreditvermittler und Kapitalgeber durchaus profitabel ist. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte ist die Zahl der Kunden um den Faktor zwanzig auf rund 200 Millionen im Jahr 2011 gestiegen. Die Kreditsumme beläuft sich inzwischen auf fast 90 Milliarden US-Dollar. Unter den Tausenden von Mikrofinanzinstituten, deren Daten der auf diesen Sektor spezialisierte Informationsdienst MixMarket gesammelt hat, weisen 43 Prozent eine Eigenkapitalrendite von mehr als 10 Prozent auf. Ein Viertel kommt sogar über die Marke von 20 Prozent im Jahr.

Die Mittel dafür stammen nach wie vor zumeist von der öffentlichen Hand, wobei der größte Geldgeber die deutsche KfW-Entwicklungsbank ist. Allerdings fördern die Geberländer inzwischen das Engagement privater, gewinnorientierter Institutionen mit dem Ziel, die staatlichen Subventionen durch privates Kapital abzulösen. Diese Privatisierung schwächt das ursprünglich genossenschaftliche beziehungsweise auf Gegenseitigkeit beruhende System und ersetzt es zunehmend durch ein ebenso lukratives wie opportunistisches Geschäft.

So ähnlich wie einst Molières Tartuffe versprach, es werde, „wenn Sie mein heißes Fleh’n erhören, nie jemand das Vergnügen unsrer Liebe stören“, preisen die Mikrofinanz-Anlagefonds Finanzprodukte für Arme als gute Tat an, bei der weder Risiko noch hohe Kosten störten. Wollen sie Zahlungsausfälle vermeiden, müssen die Fonds „entweder wissen, welche Mikrofinanzinstitute gut gemanagt sind“, erklärt der Branchenkenner Hugh Sinclair, „oder sie finanzieren einfach nur diejenigen, die Gewinne abwerfen“.5 Die gesamte Wertschöpfungskette von den Elendsvierteln oder den Feldern im Süden zu den luxuriösen Büros in den Finanzmetropolen geht auf Kosten der Kreditnehmer. Um sich einmal die Größenordnung klarzumachen: Diese kleinen Kreditnehmer haben, damit die Gläubiger ihnen überhaupt zu helfen geruhten, 2010 insgesamt viel mehr Zinsen gezahlt als zum Beispiel Griechenland.

Holzweg der Entwicklungshilfe

2007 traten nicht nur bei den minderwertigen („subprime“) US-Hypotheken, sondern auch in Bezug auf die Mikrokredite die Probleme offen zutage. 2000 hatte sich das bereits zehn Jahre zuvor in Mexiko mit öffentlichen Zuschüssen gegründete nichtstaatliche Mikrofinanzinstitut Compartamos („Lasst uns teilen“) in die gleichnamige Bank umgewandelt. Ausgestattet mit einer Bürgschaft der Weltbank, sammelte sie „ethische“ Anlagegelder ein, und zwar mithilfe von verbrieften Finanzprodukten, die von der US-Bank Citigroup kreiert worden waren. Zwischen 2000 und 2007 erzielte die Bank regelmäßig Renditen von mehr als 50 Prozent. Kein Wunder, angesichts der realen Kreditkosten von mehr als 100 Prozent pro Jahr, die die insgesamt 600 000 Kunden zu tragen hatten.

Als dann 30 Prozent des Bankkapitals an die Börse gebracht wurden, kassierten die Anteilseigner 450 Millionen US-Dollar versteckter Gewinne: 150 Millionen gingen an die Compartamos-Manager, an mexikanische Banken sowie andere private Investoren und 300 Millionen an Compartamos selbst, an die US-Organisation Accion und die Weltbanktochter International Finance Corporation (IFC). Selbst die größten Fans der kommerziellen Mikrofinanzierung schienen erschrocken über diese wundersame Verwandlung.6

Erschüttert wurde der Glaube an die Wohltaten der Mikrofinanzierung auch durch die regelmäßig auftretenden Krisen: 2000 in Bolivien, 2007 in Marokko, 2008 in Bosnien-Herzegowina, Nicaragua und Pakistan sowie 2005 und noch einmal 2010 in Indien. Jedes Mal ruft die Ausweitung der Mikrofinanzdienste habgierige Anbieter auf den Plan. Der Schuldenstand der privaten Haushalte wächst, bis sie irgendwann zahlungsunfähig sind.

Diese Krisen ähneln in jeder Hinsicht der Subprime-Krise von 2008: Finanzinstitutionen vergeben ohne Rücksicht auf Verluste überteuerte Kredite an Privatpersonen, die angesichts strukturell unzureichender oder unsicherer Einkünfte gezwungen sind, sich zu verschulden. Diese Ähnlichkeit ist alles andere als zufällig. Die Krisen sind vielmehr die zwangsläufige Folge eines Wirtschaftswachstums, in dem die Ausweitung der privaten, wettbewerbsorientierten und (selbst-)regulierten Finanzierungsangebote als Lösung statt als Ursache der Ungleichheit erscheint.

Fußnoten: 1 Diese Zinssätze liegen im Allgemeinen unter den astronomisch hohen Sätzen, die die Kredithaie im informellen Sektor verlangen. Siehe Richard Rosenberg, Scott Gaul, William Ford und Olga Tomilova, „Microcredit Interest Rates and Their Determinants: 2004–2011“, Consultative Group to Assist the Poor (CGAP), Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und Microfinance Information Exchange (MIX), 7. Juni 2013. 2 Vgl. Abhijit Banerjee, Esther Duflo, Rachel Glennerster, Cynthia Kinnan, „The miracle of microfinance? Evidence from randomized evaluation“, National Bureau of Economic Research, Working Paper Series, Nr. 18950, Cambridge (MA), Mai 2013. 3 Maren Duvendack (Hrsg.), „Systematic review. What is the evidence of the impact of microfinance on the well-being of poor people?“, Department for International Development, London 2011. 4 Steve Beck und Tim Ogden, „Beware of bad microcredit“, Harvard Business Review, September 2009. 5 „All the interests are aligned against the poor“, Interview mit H. Sinclair, 4. Oktober 2012: governancexborders.com. Siehe auch Hugh Sinclair, „Confessions of a Microfinance Heretic“, San Francisco (Berrett-Koehler) 2012. 6 Richard Rosenberg, „CGAP Reflections on the Compartamos Initial Public Offering: A Case Study on Microfinance Interest Rates and Profits“, CGAP Focus Note, Nr. 42, Washington, D.C., Juni 2007.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Paul Lagneau-Ymonet ist Dozent für Soziologie an der Universität Paris-Dauphine. Philip Mader ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2013, von Paul Lagneau-Ymonet und Philip Mader