Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen
von Olivier Cyran
Klaus Probst verkörpert die perfekte Synthese von Weltbürger und bodenständigem Industriellen. Das vielbeschworene „Modell Deutschland“ mag an seine Grenzen gestoßen sein, aber den Großunternehmer und gelernten Ingenieur ficht das nicht an. „Unser System ist wahrhaftig ein gutes Leitbild“, tönt er mit bayerischem Akzent. „Schauen Sie dagegen auf Frankreich, wie dort die Gewerkschaften auf die Arbeitsplatzverluste reagieren.“ Da ist ihm Deutschland schon lieber, wo sich alle Beteiligten auf vernünftige Lösungen einigen. Deshalb stehe hier auch die Sozialpartnerschaft auf solidem Grund: „Ich sehe keine Gefahren am Horizont.“
Der unverwüstliche Optimismus des Klaus Probst spiegelt den Zustand seines Unternehmens wider. Die Leoni AG, der größte europäische Zulieferer von Kabelsystemen für die Automobilindustrie, kam 2012 auf einen Umsatz von 3,8 Milliarden Euro. Der Gewinn vor Steuern lag mit 236 Millionen deutlich höher als in den Vorjahren. Probst ist eines der angesehensten Mitglieder des Verbands der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie (VBM), der knapp 600 Unternehmen mit mehr als 700 000 Beschäftigten vertritt. „Der VBM ist eine recht mächtige Organisation“, meint Probst. „Er vertritt die Interessen unserer Branche gegenüber den Politikern, insbesondere dem bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer, aber auch gegenüber Angela Merkel. Wir schalten uns vor allem in Fragen der Energiepolitik ein, denn der Strom wird immer teurer, was die Existenz einiger unserer Mitgliederunternehmen bedroht.“
Der VBM geht vor allem gegen die Umsetzung der deutschen Energiewende an, obwohl die Förderung alternativer Energien von Lobbyisten schon entschärft und verwässert wurde. Seit einer entsprechenden Gesetzesänderung im Juni 2011 sind mehr als 2 000 Unternehmen – gerade die Großverbraucher fossiler Energie – von der Umlage für erneuerbare Energien befreit. Die entgangenen Steuereinnahmen belaufen sich allein 2013 auf etwa 4 Milliarden Euro.1
In Deutschland wie auch anderswo wird die Lobbyarbeit zuweilen mit Cash unterstützt. Von 2002 bis 2011 hat der VBM 4,16 Millionen Euro an verschiedene Parteien ausgeschüttet; allein 3,7 Millionen gingen an Seehofers CSU.2 Großzügiger waren nur BMW und die Deutsche Bank.
Angesichts dieser Zahlen wirkt die Epidemie der Niedriglöhne und prekären Arbeitsverhältnisse besonders unanständig. Dass Deutschland zu den drei europäischen Ländern zählt, in denen im Zeitraum von 2000 bis 2010 der Abstand zwischen den 20 Prozent Topverdienern und den 20 Prozent mit den niedrigsten Einkommen am stärksten gewachsen ist3 – diese Tatsache kann Klaus Probst die gute Laune nicht verderben: „Das bestätigen wohl einige Studien, aber ich kann nur sagen: Um mich herum sehe ich davon nichts. Dank der Sozialsysteme hat hier jeder Mensch ein Einkommen, das ein anständiges Leben ermöglicht.“ Und dann fügt er hinzu: „Ich habe ja selbst zwei Kinder, die studieren. Ich habe keinerlei Angst, dass die Gesellschaft, in der sie leben, Risse bekommen oder im Chaos versinken könnte.“
Herr Probst schaut auf seine Uhr. Gleich wird er im gepflegten Salon des Nürnberger Presseklubs einen Vortrag halten. Sein Thema: „Innovationen fallen nicht vom Himmel.“
Innovationen hat das Unternehmen Leoni genug entwickelt. In seiner Geschichte spiegelt sich das ganze Drama des rheinischen Kapitalismus. Das im 19. Jahrhundert gegründete Unternehmen ging 1923 erstmals an die Börse. Während der Nazidiktatur profitierte es von Militäraufträgen und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Nach 1945 blühte Leoni dank des Wirtschaftswunders und des Booms der Automobilindustrie wieder auf. Die allgemeine Hochstimmung in der Nachkriegszeit, flankiert vom Verbot politischer Streiks und von einem robusten, nach dem Mauerbau noch verhärteten Antikommunismus, begünstigte in Deutschland eine historisch beispiellose Form von sozialem Konsens.
Dabei verzichtete der Staat auf jede politische Intervention. Damit konnten die Arbeitgeber im Einvernehmen mit den Gewerkschaften über die Arbeitsbedingungen und die Lohnpolitik bestimmen. Als Gegenleistung für diese faktischen Verfügungsrechte verpflichteten sie sich zu einer relativ starken Beteiligung der Belegschaftsvertreter an der Unternehmensführung. Durch die Mitbestimmung können die abhängig Beschäftigten über ihre Betriebsräte und die von ihnen gewählten Aufsichtsräte ihren Einfluss innerhalb der Großunternehmen geltend machen – wenngleich die Kapitalseite im Streitfall über die Mehrheit verfügt.
Das deutsche Mitbestimmungmodell ist derzeit allerdings in Auflösung begriffen. Jürgen Bothner, Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di in Hessen, erklärt, warum: „Auf dem Papier liest sich alles großartig, aber in der harten Wirklichkeit funktioniert diese Form der Sozialpartnerschaft allenfalls noch in den traditionellen Industriezweigen.“ Vor allem das rasche Wachstum des Dienstleistungssektors, der von Mitbestimmung meist nichts wissen will, lässt das Modell Deutschland wie Schnee in der Sonne schmelzen. 2012 waren nur noch 58 Prozent der abhängig Beschäftigten durch Tarifverträge abgesichert, 60 Prozent in den westlichen und 48 Prozent in den östlichen Bundesländern. 15 Jahre zuvor waren es noch 75 respektive 63 Prozent.
Selbst in den Wirtschaftszweigen, in denen die Tarifverträge noch greifen, neigt sich die Waage immer stärker zur Kapitalseite. Bothner erklärt dies auch damit, dass sich die Bindungen zwischen den Gewerkschaftszentralen und den Betriebsräten stark gelockert haben oder ganz abgerissen sind: „Nicht selten machen die gewählten Vertreter, die eigentlich die Interessen der Beschäftigten vertreten sollten, mit den Arbeitgebern gemeinsame Sache.“
Probst findet dieses „Verantwortungsgefühl“ der Sozialpartner auf Gewerkschaftsseite natürlich gut, zumal sich die Arbeitnehmer ziemlich konziliant zeigen: In der Metall- und Elektrobranche akzeptierten ihre Vertreter in den Jahren 2000 und 2008 bis 2010 ohne viel Murren das „Angebot“ der Arbeitgeber zum Einfrieren der Löhne.4 Zur Freude von Klaus Probst, dessen Unternehmen „die Krise überwunden hat und heute sehr gut dasteht, zum Wohle aller Beschäftigten“. Seine eigenen Einkünfte wurden allerdings nicht eingefroren. Sie stiegen allein von 2008 auf 2009 um 8,8 Prozent. Heute liegt Probst in der Rangliste der bestbezahlten deutschen Führungskräfte auf Platz 55. Sein Jahreseinkommen beträgt 1,87 Millionen Euro, Kapitalerträge aus Aktienbesitz nicht eingerechnet.5
Noch weiter unterspült wurde die inhaltliche Substanz der Sozialpartnerschaft durch die Welle von Outsourcing und Betriebsverlagerungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten auch Deutschland erfasst hat. Hier betätigte sich die Leoni AG sogar als Vorreiter. Von den 60 000 Beschäftigten des Konzerns arbeiten nur noch 4 000 in deutschen Betrieben. „Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel“, erinnert sich Probst, „haben wir sofort entschieden, einen Teil unserer Produktion nach Ungarn und Polen, in die Slowakei und nach Tschechien zu verlagern.“
Nach 1995 folgte eine zweite Welle von Betriebsverlagerungen in Richtung Ukraine und Rumänien, und in den nuller Jahren eine dritte in Richtung Tunesien, Marokko und Ägypten. Wird diese Wettbewerbsstrategie durch die Revolutionen im arabischen Raum gefährdet? „Keineswegs“, meint der Unternehmer, „die Rechnung ist einfach: In Deutschland liegen die Arbeitskosten in der Elektronikindustrie bei 25 Euro pro Stunde einschließlich Sozialkosten, dagegen in Polen bei 6 und in Tunesien bei 2 Euro.“
Unnötig zu erwähnen, dass die 12 000 Arbeitskräfte der tunesischen Fabrik in Sousse, in der Mehrheit Frauen mit einem Monatsverdienst von gerade einmal 300 Euro, von den Vorzügen des „deutschen Modells“ nichts abbekommen. Für Probst stellen diese Arbeitsplätze eine „moderne Form der Entwicklungshilfe“ dar. Und die hilft bekanntlich auch dem Helfer: „Deutschland geht es gut. Wir waren der Vollbeschäftigung schon lange nicht mehr so nahe wie heute.“
Deutschland, ein Paradies? Wo vier Millionen oder 12 Prozent aller Erwerbstätigen einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro beziehen und 22,2 Prozent weniger als 9,15 Euro verdienen?6 Wo ein Jobcenter in einer Broschüre arbeitslosen Menschen so gute Tipps gibt, wie Wasser lieber aus dem Hahn zu trinken statt Flaschen zu kaufen?7 Solche Ratschläge klingen erstaunlich in einem Land, dessen Wirtschaftselite sich zunehmend in ihrer eigenen Welt abschottet.
Markus Pohlmann, Soziologieprofessor in Heidelberg, leitet seit sechs Jahren eine empirische Untersuchung zu Wirtschaftseliten in vier Weltregionen. In Deutschland hat sein Team 82 Interviews mit Topmanagern aus zwei Generationen geführt: mit Leuten, die 1980 bis 1990 an der Spitze von Unternehmen standen, und mit Bossen von heute. „Wir wollen herausfinden, in welchem Maße die neoliberalen Glaubenssätze den Geist der Macher und ihr unternehmerisches Handeln prägen.“
Nach Pohlmanns Befunden sind die deutschen Führungskräfte ihrem Unternehmen mit Leib und Seele verbunden, heute noch mehr als vor 20 Jahren. Sie arbeiten im Durchschnitt 14 bis 16 Stunden pro Tag, und selbst an den Wochenenden noch 10 bis 12. Damit werde aber das Unternehmen zu einer Art Filter, durch den sie die äußere soziale Welt wahrnehmen.
Der Soziologe sieht noch eine wichtige Veränderung: Die ältere Generation sah sich in den 1980er Jahren noch einem Gesellschaftsvertrag verpflichtet. Damals „dämpfte die Suche nach einem Konsens den kalten Zwang zur Profitvermehrung“. Dieses alte Unternehmensbild sei Geschichte, abgelöst durch das Credo des „Humankapitals“, wonach jeder Einzelne für seine Schicksal selbst verantwortlich ist: „Wer nicht so erfolgreich ist, also zu den ‚Minderleistern‘ gehört, wird gnadenlos aussortiert.“
Diese Entwicklung spiegelt sich in der öffentlichen Debatte ebenso wie in den Managementpraktiken wider. Seit einigen Jahren unterscheiden sich die Glaubenssätze deutschen Topmanager in ihrer offenen Grobschlächtigkeit deutlich von dem gemäßigten Ton, den die Herren der alten Unternehmerschule pflegten. Den neuen Klartext sprach 2005 Norbert Walter, damals Chefökonom der Deutschen Bank: „In Deutschland neigen wir nach wie vor dazu zu glauben, die Unternehmensleitung sei gleichsam verpflichtet, den Beschäftigten einen ausreichenden Lohn zu zahlen, der für die ganze Familie reicht.“8
Auch Michael Rogowski, damals Präsident des mächtigen Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), bemühte ein Bild aus dem Tierreich, um die Funktionsregeln des Arbeitsmarkts zu erläutern. Der Preis der Arbeitskraft unterliege denselben Schwankungen wie der Fleischpreis beim „Schweinezyklus“: Bei einem Überangebot gehen eben die Preise runter.9 Schweinefleischfan Rogowski ging nach seiner BDI-Karriere als Berater zur Carlyle-Gruppe, einer großen Kapitalbeteiligungsgesellschaft. 2012 verkündete er in einer TV-Talkrunde, es sei „eine Illusion, dass künftig jeder von seiner Arbeit leben könne“.10
Am klarsten distanzieren sich die heutigen Wirtschaftsführer von ihrer Vorgängergeneration im Hinblick auf ethische Werte. Die alte Tugend des protestantischen Maßhaltens, die dem rheinischen Kapitalismus häufig zugeschrieben wird, liegt – ein Opfer der übermächtigen Profitgier – zerschmettert am Boden. Der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann belegt dies mit eindrucksvollen Zahlen: Die Vorstandsmitglieder der DAX-Konzerne bezogen im Jahr 2010 durchschnittlich 2,9 Millionen Euro 2010, viereinhalbmal so viel wie 1995. 2011 stiegen die durchschnittlichen Bezüge dann noch einmal deutlich an: bei den Vorstandsmitgliedern auf 3,14 Millionen, bei den Vorstandsvorsitzenden sogar auf 5,1 Millionen Euro.“11
Die sich vertiefende soziale Kluft zeigt sich auch in der Zunahme der nachgewiesenen Steuerbetrugsfälle. Natürlich sind Mogeleien am Fiskus vorbei keine ganz neue Erfindung der reichen Steuerpflichtigen. Laut dem Modeunternehmer und Steuerhinterzieher Albert Eickhoff gehörte es früher „zum guten Ton“, Geld ins Ausland zu schaffen: „Man konnte ja nicht wissen, ob es in Zukunft in Deutschland sicher ist.“12 Was sich jedoch grundlegend verändert hat, ist der protzig-trotzige Ton, in dem deutsche Führungskräfte ihr Verständnis für derartige Praktiken bekunden.
Pohlmann erinnert sich an den Fall von Klaus Zumwinkel. Der frühere Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post wurde 2009 wegen Steuerhinterziehung verurteilt: „Damals meinten fast alle unsere Interviewpartner, die 2 bis 3 Millionen Euro, die ihr unglücklicher Managerkollege auf einem Konto in Liechtenstein versteckt hatte, seien nur eine Bagatelle – kein Grund, daraus gleich einen Skandal zu machen.“
Siegmar Kleinert repräsentiert die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der DZ Bank, dem Zentralinstitut der deutschen Genossenschaftsbanken. Die DZ Bank ist die drittgrößte Bankengruppe in Deutschland mit einem Eigenkapital von 11 Milliarden Euro. Mit seinen Wutreden gegen die „Berlusconisierung“ seines Landes wirkt Kleinert im diskreten Milieu der weißen Kragen wie ein bunter Hund. Dass Gerhard Schröder sein Adressbuch im Dienste des russischen Energieriesen Gazprom versilbert, bezeichnet er als moralischen Dammbruch. Bei Interessenkollisionen gebe es nun „keine klaren Anstandsregeln mehr“.
Ein prächtiges Beispiel ist die berufliche Laufbahn von Wolfgang Clement. Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister in der Schröder-Regierung übernahm zahlreiche Aufsichtsratsmandate und den Vorsitz des Adecco-Instituts zur Erforschung der Arbeit, das zum Schweizer Zeitarbeitskonzern Adecco gehört. Zudem tat er sich als Lobbyist großer deutscher Energiekonzerne und Berater der US-Bank Citigroup hervor.13 Intime Beziehungen zur Finanzwelt pflegte auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der nach seiner Zeit als Finanzminister der großen Koalition mehr als 75 stattlich honorierte Vorträge hielt – zum Beispiel auf Einladung der Deutschen Bank, von BNP Paribas, J.P. Morgan und KPMG.14
Die zunehmende Durchlässigkeit zwischen den Sphären von Politik und Wirtschaft illustriert vor allem der Filz der Staatssekretäre. Michael Hartmann rechnet vor, dass von den zwanzig Staatssekretären, die zwischen 1949 und 1999 im Bundesfinanzministerium dienten, nur fünf (also ein Viertel) nach ihrem Ausscheiden in die Privatwirtschaft wechselten. Dagegen haben seit dem Jahr 2000 sieben von acht Finanz-Staatssekretären ihre Karriere in den höchsten Etagen der Wirtschafts- und Finanzwelt fortgesetzt.
Die Drehtür zwischen Politik und Wirtschaft funktioniert natürlich in beide Richtungen. SPD-Mitglied Axel Nawrath, Spitzenbeamter im Bundesfinanzministerium, wechselte 2003 als PR-Direktor an die Frankfurter Börse; 2005 kehrte er ins Finanzministerium zurück und wurde Staatssekretär unter dem SPD-Minister Hans Eichel. Heute ist er Vorstandsmitglied der staatlichen Förderbank KfW.
Vom Beziehungsnetz, das seit mehr als zehn Jahren zwischen den Mächten des Staates und des Geldes gesponnen wird, profitieren vor allem Letztere. Das zeigt etwa der Fall des 2003 verstorbenen Heribert Zitzelsberger. Das SPD-Mitglied war bis 1982 Referatsleiter im Bundesfinanzministerium, wechselte dann in die Privatwirtschaft und wurde 1987 Leiter der Steuerabteilung des Bayer-Konzern, für den er steuersparende Strategien ausheckte. 1999 wurde er von der Regierung Schröder als Staatssekretär ins Finanzministerium zurückgeholt. Bei seinem Wechsel in die Politik verkündete Bayer-Vorstandschef Manfred Schneider unter dem Beifall der versammelten Aktionäre: „Wir haben unseren besten Steuer-Mann nach Bonn abgegeben. Ich hoffe, dass er so von Bayer durchdrungen ist, dass er die richtigen Maßnahmen einleiten wird.“15
Der Bayer-Boss wurde nicht enttäuscht. Als „Vater der rot-grünen Steuerreform“ sorgte der Staatsekretär Zitzelsberger dafür, dass der Körperschaftsteuersatz von zuvor durchschnittlich 35 auf 25 Prozent gesenkt wurde und dass börsennotierte Kapitalgesellschaften – gegen den ausdrücklichen Rat von Experten – ihre Veräußerungsgewinne nicht mehr versteuern müssen.
Als diese„wettbewerbsfördernden“ Maßnahmen bekannt wurden, mit denen der Staatskasse jährlich rund 23 Milliarden Euro entgingen, vollführte der Aktienindex DAX einen Freudensprung von 4,5 Prozent. Dank seines ehemaligen „Steuer-Manns“ strich allein der Bayer-Konzern für 2001 eine Rückvergütung in Höhe von 250 Millionen Euro ein, die er komplett an die Aktionäre weiterreichte.16 Die Zeit schrieb über dieses Meisterstück von Rot-Grün: „Die Bundesregierung feierte ihre Unternehmensteuerreform – bis die Konzerne aufhörten, Steuern zu zahlen.“ Zu Recht bezeichnete sie diese Reform als „das größte Geschenk aller Zeiten“ – an die Unternehmen.17
Auch Berthold von Freyberg artikuliert seinen Dank an die rot-grüne Regierung und Gerhard Schröder geradezu überschwänglich. Der Spross einer einflussreichen Adelsfamilie – Bruder Ernst ist seit Februar 2013 kommissarischer Leiter der Vatikanbank – hat mit zwei Partnern den Risikokapitalfonds Target Partner gegründet, der die Millionen seiner Kunden bei Start-up-Unternehmen anlegt.
In seiner hochherrschaftlichen Münchner Büroetage klagt Freyberg über das unfaire Image seines Gewerbes und stellt klar: „Aus 100 Millionen, die du investierst, ziehst du in den nächsten fünf Jahren eine Jahresprovision von 2,2 Prozent, das sind 2,2 Millionen. Aber seit dem letzten Jahr müssen die deutschen Investmentfonds auf ihre Provisionen 19 Prozent Steuer zahlen.“
Es war einmal ein rheinischer Kapitalismus
Deutschland sei das einzige Land, das so etwas eingeführt habe. Das schade der Branche erheblich. Die Investoren sagten sich: „Warum sollte ich mein Geld in Deutschland anlegen, wenn ich dafür in den USA keine Steuern zahle?“ Deshalb gäben die Fonds die Steuer nicht an die Kunden weiter, behauptet Freyberg, was ihren Gewinn um 19 Prozent reduziere.
Eine so unsensible Entscheidung hätte der frühere sozialdemokratische Kanzler niemals getroffen, meint der Risikokapitalist: „Herr Schröder hat überhaupt erst die heutigen Bedingungen für unseren Wohlstand geschaffen. Wir verdanken ihm unendlich viel mehr als Frau Merkel. An ihr kritisiere ich nicht ihre Verteidigung des Euro, sondern dass sie kaum ein Viertel dessen umgesetzt hat, was ihr Vorgänger an Strukturreformen in Sachen Arbeitsmarktpolitik auf den Weg gebracht hat.“
Aber Schröder war einmal. Heute vertrauen die deutschen Unternehmer und Manager, wie eine Umfrage der Unternehmensberatung Kienbaum ergab, mit einer Mehrheit von 78 Prozent auf die CDU und Angela Merkel, während 28 Prozent auf die FDP und nur 10 Prozent auf die SPD setzen. Kurzum: Das Unternehmerlager lobt Rot-Grün, wählt aber rechts. Damit steht das Modell Deutschland endgültig vor dem Aus.
Die Kienbaum-Umfrage zeigt auch, dass die deutsche Wirtschaft nach wie vor auf die gemeinsame Währung setzt. Der frühere BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, der sich an der Seite der Partei Alternative für Deutschland (AfD) an deren marktschreierischen Kampagne gegen den Euro beteiligt, bemüht sich vergeblich, die Seinigen zu überzeugen. Tatsächlich wünscht sich nur einer von hundert Unternehmern die D-Mark zurück. Das erklärt ein Kienbaum-Vertreter so: „Der Euro ist für die deutschen Unternehmen eine Erfolgsgeschichte. Trotz der Unsicherheiten haben sie Vertrauen in den Euro und in die Rettungspolitik der Merkel-Regierung.“18
Mit entwaffnender Offenheit stimmt Klaus Probst dieser Einschätzung zu: „Die Gemeinschaftswährung hat uns sehr geholfen“, meint der Leoni-Vorstandschef. Die relative Abwertung des Euros gegenüber dem Dollar infolge der Schwäche der europäischen Nachbarländer habe die deutschen Exporte gefördert und ihre Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten verbessert. „Eine Rückkehr Deutschlands zur D-Mark hätte eine Verteuerung unserer Währung zur Folge, und das wäre katastrophal für die deutsche Industrie. Man muss es ganz ehrlich sagen: Der Druck der Finanzmärkte auf Europa hält den Euro künstlich niedrig, und das ist für uns ein gewaltiger Vorteil.“
Sieht so die Logik des neuen Modells Deutschland aus: Von der Misere der anderen profitieren? Wir befragten dazu einen der kleineren mittelständischen Unternehmer. Mittelstand ist ein Wort, das die Deutschen besonders lieben. Es steht für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), aber auch für Werte wie Verlässlichkeit, Arbeitsfleiß und Durchhaltewillen. Lothar Reininger leitet zusammen mit seinem Bruder die Reininger AG. Die Firma hat sich auf den medizinischen Fachhandel spezialisiert. Sie importiert Rollstühle aus China, spezielle Krankenbetten aus Polen und aus Thailand Hygieneartikel. Sie beschäftigt 180 Mitarbeiter und stellt 24 Ausbildungsplätze bereit.
Reininger hört es dennoch nicht gern, wenn man ihn „Unternehmer“ nennt. Der gelernte Werkzeugmacher arbeitete früher beim Büromaschinenhersteller Triumph-Adler und war dort bis 1994 Betriebsratsvorsitzender. Dann wurde er nach einem Streik gegen die von einem US-Investor betriebene Umstrukturierung des Unternehmens entlassen. Seit 2006 sitzt er für die Linke im Magistrat von Frankfurt am Main.
Reininger repräsentiert also nur bedingt den typischen Mittelständler, aber die inneren Widersprüche dieses Unternehmenssegments kennt er genau. „In unserer Branche gibt es viele prekär beschäftigte, oft scheinselbstständige Menschen, die 5 oder 6 Euro in der Stunde verdienen. Sie haben meist unqualifizierte Minijobs bei Zustelldiensten oder im Reinigungsgewerbe, weil unsere Konkurrenten solche Aufträge an Subunternehmer vergeben.“
In der Reininger AG arbeiten dagegen nur Festangestellte, die mindestens 10 Euro pro Stunde erhalten. Damit will man zeigen, dass es einem Unternehmen selbst unter scharfem Wettbewerb nach wie vor möglich ist, seinen Beschäftigten anständige Löhne zu zahlen und feste Arbeitsplätze zu sichern. Aber wie lange geht das noch?, fragt sich Reininger: „Nur ein flächendeckender Mindestlohn von 9 oder 10 Euro könnte dem Sozialdumping Einhalt gebieten. Wenn die Regierung Merkel diese Lösung ablehnt, gefährdet sie das Überleben derjenigen Arbeitgeber, die sich anständig verhalten.“
2012 erzielte die Reininger AG einen Gewinn von 414 000 Euro. Der wird an die Mitarbeiter ausgeschüttet, die zugleich Anteilseigner sind: „Das macht für jeden zwei Wochenlöhne aus – kein Grund, auf die Bahamas abzuhauen.“ Ob sich das Ergebnis 2013 halten lässt, ist ungewiss.
Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke
Olivier Cyran ist Journalist.