Leicht, biegsam und gefährlich
Die politische Geografie des Stacheldrahts von Olivier Razac
Ein amerikanische Farmer namens Joseph Glidden erfand 1874 den Stacheldraht. Es dauerte nicht lange, da wurde dieser aus rein praktischen Erwägungen heraus entstandene Gegenstand zur Abgrenzung von Weiden auf den Great Plains ein wichtiges politisches Instrument. So benutzte man ihn zur Umfriedung der Indianerreservate und zur Einzäunung der Internierungslager im Kubanischen Unabhängigkeitskrieg (1895 bis 1898) und Zweiten Burenkrieg in Südafrika (1899 bis 1902). Stacheldrahtverhaue säumten die Schützengräben im Ersten Weltkrieg, und Stacheldraht ergänzte die Elektrozäune in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.
Glidden-Stacheldraht wird heute fast nur noch in der Landwirtschaft eingesetzt. Geht es gegen Menschen, greift man zum Bandstacheldraht (auch Nato-Draht genannt), auf dem nämlich statt Stacheln kleine Klingen stecken, die den Eindringling gleichzeitig schneiden und stechen können. Die Form der Klinge unterscheidet sich je nach dem vorgesehenen Nutzen. Sie kann der bloßen Abschreckung dienen, aber auch tödliche Verletzungen verursachen.
Die Langlebigkeit dieser primitiven Erfindung mag überraschen. Doch selbst nach einem Jahrhundert rasanter technischer Fortschritte, in dem zahlreiche Industrieprodukte auf den Schrottplätzen der Moderne gelandet sind, erfüllt der Stacheldraht immer noch äußerst effizient seinen Zweck. Aufgrund seines geringen Gewichts können endlos lange Strecken abgegrenzt und dank seiner Biegsamkeit alle möglichen Bedürfnisse erfüllt werden, vom Schützen über das Befestigen bis zum Einsperren. Dabei ist es nur ein Draht mit kleinen Spitzen. Die Diskrepanz zwischen seiner Einfachheit und Effizienz beweist, dass sich die Vollkommenheit eines Werkzeugs nicht an seiner technischen Raffinesse misst, dass seine Wirkung nicht zwangsläufig einen großen Einsatz an Energie verlangt und dass die brutalste Gewalt gar nicht besonders beeindruckend sein muss.
Stacheldraht entlarvt auf eine sehr wirksame Weise politische Unterschiede. Warum ist er so häufig auf den Mauern vornehmer Villen in Südafrika zu finden, während sich das hierzulande „nicht gehört“? Warum kann die Polizei auf den Philippinen oder in Brasilien ganz einfach die Demonstranten aufhalten, indem sie auf der Straße Concertina-Draht1 ausrollt, während bei uns die Polizisten hinter dünnen Schilden aus Plexiglas in Deckung gehen?
Darauf gibt es mindestens drei Antworten. Zunächst muss man sich das Gewaltniveau in den verschiedenen Gesellschaften ansehen. Die Sicherung der Privatresidenzen muss ins Verhältnis zur Härte der sozialen Ungleichheit gesetzt werden, die sich dadurch übrigens noch mehr verschärft. Auch die unterschiedlich ausgeprägte Sensibilisierung für Gewalterfahrungen muss berücksichtigt werden und drittens die symbolische Bedeutung: Stacheldraht weckt in Europa wohl eher andere historische Assoziationen – vor allem denkt man dabei an die NS-Konzentrationslager – als in China oder Afrika.
Diese drei Faktoren beeinflussen die politische Geografie des Stacheldrahts. Man könnte daraus eine Kartografie der Regierungsformen entwerfen, die allerdings nicht den konventionellen politischen Verfasstheiten (Demokratie versus Diktatur) entspräche. Die Antwort auf die Frage „Stacheldraht oder nicht?“ ist ein ziemlich zuverlässiger Indikator für die „politische Technologie“ (nach Foucault) und die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten.
In den westlichen Systemen symbolisiert der Einsatz von Stacheldraht aufgrund seiner furchtbaren Geschichte vor allem Unterdrückung. „Die Mauern, der Stacheldraht, die Wachtürme, die Baracken, die Galgen, die Gaskammern und die Krematorien“ des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau stehen als „Symbol des grausamen Umgangs des Menschen mit seinen Mitmenschen im 20. Jahrhundert“ auf der Liste des Unesco-Welterbes.2 Das Symbol von Amnesty International, einer in Großbritannien gegründeten Organisation gegen Folter und politische Haft, ist bezeichnenderweise eine von Stacheldraht umwickelte brennende Kerze.
Ein Ungar, ein Österreicher und zwei Bolzenschneider
Die negative Konnotation verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn der Stacheldraht zerstört wird, wie am 27. Juni 1989, als in „einer symbolischen Geste“ der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege „den Stacheldraht, der den Eisernen Vorhang zwischen Österreich und Ungarn darstellte“,3 mit zwei Bolzenschneidern durchtrennten.
Die zunehmende Sensibilisierung für Gewalt und das Verlangen nach körperlicher, geistiger und emotionaler Unversehrtheit verstärkt die Symbolkraft des Stacheldrahts und macht ihn zu einem besonderen politischen Werkzeug. „Noli me tangere“, „Rühr mich nicht an“, heißt es in der Bibel. Der Philosoph Alain Brossat schreibt: „In den westlichen Gesellschaften entwickelt sich das wachsende Immunitätsparadigma zu einer wahren Phobie gegenüber Berührung und Körperkontakt.“4 So gesehen wäre die Anbringung oder allein schon der Anblick von Stacheldraht im öffentlichen Raum unzumutbar – zu hoch wäre das Risiko des schmerzhaften Kontakts.
Aber selbst dort, wo Stacheldraht immer schwerer einsetzbar ist, verschwindet die Abgrenzung nicht, sie ist nur diskreter. Während also auf der einen Seite die Beschönigung von Gewalt im öffentlichen Raum geradezu verlangt, auf aggressive Hilfsmittel wie Stacheldraht zu verzichten, wird auf der anderen Seite auf dem Abschreckungseffekt sichtbarer Gewalt beharrt.
Die Euphemisten bedienen sich vor allem der Taktik, einen Begriff durch einen anderen zu ersetzen, der indirekt das Gleiche ausdrückt. So werden militärische Grenzen zu „entmilitarisierten Zonen“, „Pufferzonen“ oder „Sicherheitsschranken“. Dabei wird keineswegs nur sprachlich beschönigt, sondern auch ästhetisch, verfahrenstechnisch, technologisch, architektonisch oder geografisch. Nehmen wir das Beispiel der Gefängnisse für Minderjährige, die in den letzten Jahren gebaut wurden: Von außen, erklärt etwa das französische Justizministerium, „wird das Gefängnisbild bewusst durch eine entsprechende architektonische Gestaltung gemildert, die eine bessere Integration in die Umgebung garantiert.“5 Die Gewalt im Raum ist zwar vorhanden, erspart sich aber die politischen Kosten einer direkten, ungeschminkten Ausübung.
Daher rührt auch die Begeisterung für Zäune auf pflanzlicher Basis. Das französische Unternehmen Sinnoveg hat 2005 das Konzept „natürlich verflochtener Schutzhecken“ patentieren lassen. „Eine absolut ökologische, dekorative und undurchdringliche Innovation“, rühmt die Werbebroschüre. Dank einer Auswahl von Pflanzen mit besonders aggressiven Dornen stellt diese neuartige Barriere ein ebenso wirksames Hindernis wie Stacheldraht dar. Die Kosten sind vergleichbar und der ästhetische Eindruck neutral bis angenehm. Wie Stacheldraht, der den Vorteil hätte, im Frühjahr zu blühen.
„Die Standorte sind also geschützt, ohne von außen aggressiv oder gar schockierend zu erscheinen.“ Ein weiterer Vorteil dieser Hecken: Sie sind anpassungsfähig und variabel. Stehen sie neben Schulen, sind die Sträucher ohne Dornen. An „sensiblen“ Standorten dienen die Pflanzen dazu, die klassischen Zäune aus Stacheldraht und Gittern zu tarnen und zu verstärken. In diesem Geflecht von Blüten und Dornen mischen sich Taktik und die Poesie der Macht: „Sinnoveg besitzt das Know-how, um Gärten zum Träumen und Erholen zu schaffen, in Harmonie mit dem Haus und seinen Bewohnern, denen mit einem Gestaltungskonzept aus undurchdringlichen Schutzhecken und außergewöhnlichen, einzigartigen Pflanzen zugleich Ruhe und Sicherheit geboten werden.“6
Blühende Hecken vor Bandstacheldraht
In anderen Fällen dient die Beschönigung dazu, die Abschreckung sogar noch zu verstärken. Entweder indem sie die gewalttätigen Hilfsmittel tarnt – die blühende Hecke, die die Gitter und die Rollen mit Bandstacheldraht verdeckt – oder indem die Tatsache der Begrenzung selbst maskiert wird, um diejenigen, die sie übertreten, leichter zu erwischen. Die Markierungen des Raums sind zwar gemildert, verschwinden aber nicht. Sie passen sich in einem subtilen Gleichgewicht zwischen der Wirksamkeit des verwendeten Hilfsmittels und seiner symbolischen Akzeptanz den taktischen Bedürfnissen an.
Der Stacheldraht verschwindet nicht aus den westlichen Gesellschaften, aber er wird bald nur noch für sehr hohe Sicherheitsstandards (Gefängnisse oder Kasernen) verwendet werden, dort, wo man ihn verstecken kann oder an abgelegenen Orten. In den modernen Städten erreicht man eine effiziente und diskrete Abgrenzung eher durch technologische Mittel wie Kameras, elektronische Türöffner und Sensoren.
Die negative und unbewusste Symbolkraft des Stacheldrahts kann je nach Kalkül auch als Instrument der Abschreckung dienen. In der als besonders gefährlich geltenden Stadt Compton, südlich von Los Angeles, wurde zum Beispiel das Stadtviertel New Willington mit einem rundum gesicherten Zaun umgeben, inklusive Stacheldraht, Spitzen, Gittern, Schranken, Schikanen, Schilderhäuschen und Wachen. „Die militärische Konnotation der Architektur dieser Kontrollanlagen wurde nicht beschönigt. Diese Verteidigungsästhetik […] unterstreicht vielmehr die wiedergewonnene Sicherheit und Kontrolle dieser Gemeinde.“7
Die aggressive Begrenzung dient hier zugleich als Abschreckung – keiner soll auch nur versuchen, sie zu überwinden – und zur hierarchischen Differenzierung zwischen zwei Räumen und zwei Bevölkerungsgruppen. Der Innenraum wird durch die auffällige Sicherung aufgewertet (und die Grundstückspreise steigen), während der äußere Bezirk abgewertet und dessen Bewohnern signalisiert wird, dass sie hier unerwünscht sind. In einer kalifornischen Gated Community dient der Zaun wiederum vor allem dazu, die Anwohner zu beruhigen, ohne dass ein echter praktischer Nutzen bestünde: „Hier ist der Anschein der Sicherheit wichtiger als die tatsächliche Wirkung.“8
Die unterschiedlich gestalteten Einhegungen von Räumen bieten strategisch gesehen ein reiches Spektrum an. Es gibt heute kein Entweder-oder mehr – hier die „große Einsperrung“ (nach Foucault), deren Symptom der Stacheldraht und die Vervielfachung bewehrter Grenzen wären, dort simple Bewegungsfreiheit durch den Einsatz virtueller Technologien. Entscheidend sind die unterschiedlichen Anwendungsbereiche, die jegliche Mischformen, Kombinationen und Vieldeutigkeiten zulassen.
So lenkt ein Werkzeug wie der Stacheldraht, von dem man doch annehmen würde, es richte unsere Aufmerksamkeit auf die archaischen Formen der Gewalt, unseren Blick paradoxerweise in die entgegengesetzte Richtung: Die aktuellen Ausformungen politischer Gewalt sind weniger an ihrer offenkundigen Stärke als an ihren raffinierten Schnörkeln zu erkennen.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Olivier Razac ist Philosoph und Autor von „Histoire politique du barbelé“, Paris (Flammarion, collection Champs essais) 2009.