Frankreich ohne Austerlitz
Gedenkfeiern und Nationalhelden stiften Identität – doch Geschichtsschreibung hat andere Aufgaben von Chris J. Bickerton
Einige Ereignisse aus jüngster Zeit erwecken den Eindruck, als sei „die französische Krankheit“ nicht nur ein Phänomen der Gegenwart. Ist der Ausdruck ursprünglich auf die aktuellen Probleme in der französischen Wirtschaft und Politik gemünzt, so lässt er sich ebenso auf die Darstellung der Vergangenheit anwenden. Seit Frankreichs Geschichte kontrovers diskutiert wird, scheinen die Grundlagen der nationalen republikanischen Identität erschüttert. Die Reaktion auf die historischen Kontroversen ist nicht überraschend. Sie bewegt sich zwischen gaullistischem Lamentieren und postkolonialer Selbstgerechtigkeit. Dabei werfen die aktuellen Debatten einige überaus sinnvolle und zentrale Fragen auf: etwa über die Funktion historischer Forschung und deren Beziehung zum kollektiven Erinnern, zur moralischen Dimension von Geschichte und zum Staat.
Ein Schlüsselereignis war die missratene 200-Jahr-Feier zum Gedenken an die Schlacht von Austerlitz im Dezember 1805. Die so genannte Dreikaiserschlacht, in der die Armee Napoleons die vereinigten russischen und habsburgischen Streitkräfte besiegte, wurde in Frankreich lange als ein überragender militärischer Triumph gefeiert. Doch nach der 200-Jahr-Feier schrieb der renommierte französische Historiker Pierre Nora, der übrigens Träger des 1802 von Napoleon gestifteten Ordens der Ehrenlegion ist, einen Artikel, in dem er gegen das „Nichtgedenken von Austerlitz“ vom Leder zog.1
Für Nora war dies ein Zeichen dafür, dass Frankreich auf einen Tiefpunkt „der Schande und der Lächerlichkeit“ abgesunken ist. Die Briten ließen es sich nämlich nicht nehmen, die Schlacht von Trafalgar (1805) zu feiern, die Belgier gedachten der Schlacht von Waterloo (1815), und sogar die Deutschen wollen das große Kräftemessen mit Napoleon vom Oktober 1806 feiern, als in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt die preußisch-sächsischen Armeen besiegt wurden. In Frankreich aber, so beschwert sich Nora bitterlich, werde man es demnächst wohl nicht mehr wagen, im Geschichtsunterricht die Zeilen von Victor Hugo zu zitieren: „… tief in meinen Gedanken [höre ich] den Lärm der schweren Kanonen, die auf Austerlitz zurollen.“
Schuld an dieser Entwicklung gibt Nora einer kurz zuvor publizierten Attacke auf Napoleon, die seiner Ansicht nach einen weiteren Nagel zum Sarg des republikanischen Selbstbewusstseins der Franzosen darstellt: Der Historiker Claude Ribbe hat im Dezember 2005 ein Buch mit dem Titel „Napoleons Verbrechen“ vorgelegt, in dem er die herrschende Meinung über Napoleon als militärisches Genie und Gründer des modernen Frankreich in Frage stellt. Napoleon wird in diesem Buch als Antisemit und Rassist dargestellt, der für die Wiedereinführung der Sklaverei verantwortlich war, die man durch die revolutionäre Verfassung von 1794 abgeschafft hatte. Ribbe beschreibt den Kaiser als den „ersten rassistischen Diktator der Geschichte“ und behauptet, das Napoleonische Reich habe seine wirtschaftliche Blüte einzig und allein dem Sklavenhandel verdankt.2
Ribbe will Napoleon erklärtermaßen moralisch an den Pranger stellen. Für ihn ist der Kaiser eine Figur, die Adolf Hitler inspiriert hat. Er schildert, wie „der Führer“ am 28. Juni 1940 in Paris den Sarkophag Napoleons im Invalidendom besuchte. Und er bezeichnet Bonaparte als Hitlers Vorläufer, „der sich wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die rationale Frage gestellt hat, wie man in möglichst kurzer Zeit und mit möglichst geringem Aufwand an Kosten und Personal möglichst viele Leute vernichten kann, die mit naturwissenschaftlichen Kategorien als minderwertig qualifiziert wurden“.3 Ribbe behauptet wiederholt, die Behandlung der Sklaven durch Napoleon habe den deutschen Nazis als Vorbild gedient: „Ohne den Präzedenzfall Napoleon keine Nürnberger Gesetze. Hitler ist sich über diesen Zusammenhang im Klaren.“ Und die Argumente für den Sklavenhandel, die dem Kaiser in Traktaten angedient wurden, zeugten laut Ribbe von derselben zynischen Einstellung, die sich in der KZ-Inschrift „Arbeit macht frei“ ausdrückte.
Die Kontroverse über Austerlitz und Napoleon fiel zeitlich mit einer anderen Debatte zusammen, die sich an der französischen Kolonialgeschichte entzündete. Im Februar 2005 verabschiedete das Parlament mit den Stimmen der Gaullisten und der Sozialisten eine Ergänzung zu dem „Gesetz über die Repatriierten“. Die neue Gesetzesbestimmung postuliert, die französischen Geschichtsbücher sollten „die positive Rolle der französischen Präsenz in seinen überseeischen Kolonien, insbesondere in Nordafrika, anerkennen“. Diese Bestimmung wurde offensichtlich verabschiedet, um den Beitrag der harkis anzuerkennen, also der algerischen Muslime, die im Algerienkrieg auf der Seite der Franzosen gekämpft hatten.4 Eine heftige Reaktion kam zunächst nur von einigen Historikern. Sechs von ihnen veröffentlichten am 25. März 2005 in Le Monde eine Petition unter dem Titel: „Kolonisierung: Nein zum Lehren einer offiziellen Geschichte“.
Zum politischen Streitobjekt wurde diese Gesetzesnovelle jedoch erst mit den Unruhen in den Banlieues im November 2005.5 Unter dem Druck der öffentlichen Meinung beauftragte Präsident Jacques Chirac einen Ausschuss unter Vorsitz von Jean Louis Debré, dem Präsidenten der Nationalversammlung, „die Handlungen des Parlaments auf dem Gebiet des historischen Gedenkens und der Geschichte zu überprüfen“. Erwartungsgemäß nutzte der politische Rivale des Präsidenten, Innenminister Nicolas Sarkozy, die Gelegenheit, eine eigene Initiative zu starten. Er vergab eine Studie zum Thema „Gesetz, Geschichte und die Pflicht des Erinnerns“ an den Anwalt Arno Klarsfeld – Sohn von Serge Klarsfeld, der viele Täter und Kollaborateure der Nazi-Okkupation vor Gericht gebracht hatte. Die ganze Kontroverse läuft inzwischen unter dem Titel „La querelle des mémoires“ (der Streit um die Erinnerungen).
Die herrschende Meinung und offizielle Versionen von Geschichte in Frage zu stellen ist eine heilsame Sache, die den Beruf des Historikers ausmacht. Der Sinn historischer Forschung besteht darin, die Vergangenheit richtig verstehen zu lernen – und das bedeutet häufig: die überkommenen Interpretationen frontal anzugreifen. So gesehen könnten die Kritik an Napoleon und die kontroverse Debatte über den französischen Imperialismus ein Indiz dafür sein, dass sich ein Diskussionsklima zu entwickeln beginnt, in dem neue Forschungsansätze und Fragestellungen möglich werden. Vor zwölf Jahren hat der konservative britische Historiker Andrew Roberts erstmals Winston Churchill als Rassisten bezeichnet. Es war ein erstes Anzeichen dafür, dass der Mythos, der sich um den hoch geschätzten Kriegspremier rankte, zu bröseln begann.6 Dadurch hat sich die Möglichkeit eröffnet, einen neuen und tiefer gehenden Blick auf den Zweiten Weltkrieg und dessen politische Dynamik zu werfen. Wie James Woudhuysen meint, hat die historische Forschung viele Fragen dieser Epoche bei weitem noch nicht gründlich genug ausgelotet. Als Beispiel sei nur auf den rassistisch geprägten Krieg im Pazifik verwiesen oder auf den Verrat der alliierten Truppen an den Partisanenbewegungen in Italien und Griechenland gegen Ende des Krieges.7
Wenn sich in Frankreich der Raum für kritische historische Forschung ausweitet, kann das nur gut sein. Die französischen Historiker haben sich an eine Neuinterpretation der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg nur mit großer Verzögerung herangewagt. Als de Gaulle 1944 im befreiten Paris einzog, bezeichnete er die Vichy-Ära als ein „Nichtereignis“, das sich als „folgenlos“ erweisen werde. Und so blieb dieses Kapitel der französischen Geschichte unaufgearbeitet hinter der Kulisse eines „kunstfertigen Kompromisses“8 . Und der sah so aus, dass den Helden und der unschuldigen Bevölkerung einige wenige Bösewichter gegenüberstanden, die aber schon zur Zeit der Befreiung abgestraft worden waren.
Dieser historiografische Kompromiss geriet in den letzten 25 Jahren ins Wanken. Die Jahre zwischen 1981, als die ersten Anschuldigungen gegen Maurice Papon laut wurden – einen früheren Beamten des Vichy-Regimes, der unter Giscard d’Estaing Minister wurde –, und 1997, als das Strafverfahren gegen Papon eröffnet wurde, waren in Frankreich eine Periode intensiver Problematisierung des Verhältnisses zur eigenen Vergangenheit. Nach dem Tod de Gaulles wurden erstmals kritische Darstellungen über den Vichy-Staat möglich. 1968/69 drehte Marcel Ophuls den Dokumentarfilm „Le chagrin et la pitié“ („Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Krieg“). Und 1973 wurde Robert Paxtons Buch „Vichy France: Old Guard and New Order“ ins Französische übersetzt.9
Als dann der General und ehemalige Geheimagent Paul Aussaresses 2001 unter dem Titel „Services Spéciaux, Algérie 1955–1957“ seine Memoiren veröffentlichen ließ, in denen er über die vom französischen Staat gedeckten Folterpraktiken in Algerien berichtet, ging ein Aufschrei durchs Land. Das zeigte allerdings, dass die Infragestellung der gängigen Version „der Ereignisse“ (so der euphemistische Ausdruck für den Algerienkrieg, der bis 1999 offiziell galt) nach wie vor die Ausnahme war. Dabei hatte Frantz Fanon schon vierzig Jahre zuvor in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ geschrieben, der Algerienkrieg sei gleichbedeutend mit der endgültigen Entwürdigung des republikanischen Mottos „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Und Jean-Paul Sartre hatte dieses Urteil mit seiner Einleitung zu Fanons Buch unterschrieben.10
Doch der Zusammenbruch des gaullistischen Minimalkonsenses führte keineswegs zum Aufblühen einer kritischen Historiografie. Was sich in der Folge in Frankreich vollzog, war vielmehr – in den Worten Noras – eine Hinwendung von der Geschichte zur „Erinnerung“. Historische Forschung und Erinnerungskultur sind nämlich zwei ganz unterschiedliche Herangehensweisen, Geschichte zu verstehen. Erinnern ist eine gänzlich individuelle Angelegenheit. Jeder Mensch kann sich auf irgendeine Erinnerung berufen. Wer Vergangenheit übers Erinnern verstehen will, begründet eine individuelle Beziehung zu dieser Vergangenheit, die dann jeder nach eigenem Gusto ausgestalten kann. Erinnerung verwandelt Geschichte in eine Sequenz von Darstellungen durch Individuen oder Gruppen, von denen die eine so viel zählt wie die andere.
Erinnerung hängt zudem sehr eng mit Identität zusammen. Denn es handelt sich dabei um das Bemühen, die Vergangenheit zu verstehen, um mit der gegenwärtigen Identität besser klarzukommen. Erinnerung wird somit zum Anspruch auf Anerkennung. Und Geschichte wird zu einem Prozess, durch den Menschen, die in den gängigen Darstellungen der Vergangenheit ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt wurden, wieder einbezogen und anerkannt werden können. Und weil Erinnerung so viel mit individuellen Ansprüchen und Identitäten zu tun hat, wird sie auf diesem Wege zwangsläufig zu einer Frage von „Pflicht und Schuldigkeit“: Die Pflicht zum Erinnern ist das allgegenwärtige Motiv, das allen Jahrestagen und Gedenkfeiern zugrunde liegt. Die Hinwendung zum Erinnern bedeutet also im Grunde eine Bewegung weg von den Fakten und hin zu moralischen Geboten.
In Frankreich wurde dieser Paradigmenwechsel – weg von der Geschichtsschreibung hin zur Erinnerungskultur – zunächst von Historikern und von der Regierung angestoßen. Er war Ausdruck des Bemühens, die französische Geschichte nach dem Ende des historischen Minimalkonsenses vor ihren Kritikern zu schützen. Nora bezeichnet diese Periode als „Epoche des Gedenkens“ und verweist zum Beleg auf die starke Zunahme von Gedenktagen und -veranstaltungen in den Jahren 1989 bis 2000. Die französische Regierung hatte 1985 ein „Büro für nationale Festlichkeiten“ gegründet, das erste seiner Art, das seitdem für jedes Jahr bestimmte historische Jubiläums- und Gedenkereignisse organisiert hat.11
Das moralistische Moment in der Konstruktion einer nationalen Erinnerung zeigte sich besonders deutlich im Fall Papon. Der Prozess gegen den Vichy-Funktionär wurde im Namen der Erinnerung und der Geschichte angestrengt. Das heißt, hier ging es über das juristische Verfahren hinaus auch um die Frage von moralischem Verhalten, und diese richtete sich an die gesamte herrschende Klasse im Nachkriegsfrankreich. Im Zentrum des Papon-Prozesses stand also nicht so sehr die Frage, welche präzise Rolle ein Vichy-Funktionär bei der Ausführung von Regierungsbefehlen gespielt hatte, als vielmehr sein Denken, Fühlen und Urteilsvermögen. Der Prozess verfolgte also, wie es ein Journalist formulierte, den Zweck und das Interesse, „den Grad von Bewusstheit zu ermitteln, den Maurice Papon von den tragischen Ereignissen hatte, an denen er beteiligt gewesen war“.12
Die Tendenz zur Erinnerungskultur äußert sich in Frankreich heute auch in juristischer Form, etwa durch das Verbot des Leugnens. So hat das Gayssot-Gesetz von 1990 die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie in den Nürnberger Prozessen definiert wurden, unter Strafe gestellt, und in einem 2001 beschlossenen Gesetz wurden die Massaker an den Armeniern im Jahre 1915 zum Genozid erklärt. Das Taubira-Gesetz von 2001 wiederum klassifiziert den seit dem 15. Jahrhundert betriebenen Sklavenhandel als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Tendenz, die Vergangenheit gesetzlich zu regeln, ist mittlerweile in der nationalen und internationalen Politik auch über Europa hinaus eine verbreitete Erscheinung. Die heute so kontrovers diskutierte jüngste Gesetzesnovelle vom Februar 2005 über die repatriierten Algerienfranzosen wurde im Parlament in derselben Sprache der „Anerkennung“ verteidigt, mit der die harkis selbst ihre Sache die ganze Zeit gerechtfertigt hatten.
Der Paradigmenwechsel zur Erinnerungskultur wurde auch von Historikern wie Nora gefördert. Und zwar mit dem Ziel, eine nationale Identität wiederherzustellen, die von zwei Seiten bedrängt wird, nämlich durch die Verfechter einer multikulturellen Gesellschaft und die Vertreter kommunitärer Ideen. Doch die aktuelle Debatte legt den Schluss nahe, dass Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung nicht ohne weiteres vereinbar sind. Die individuelle Qualität des Erinnerns erlaubt die Transformation historischer Erkenntnisse in die Forderung nach Anerkennung. Ribbe formuliert seine Kritik an Napoleon im Namen der Notwendigkeit, endlich die böse Rolle anzuerkennen, die die Sklaverei in der Geschichte gespielt hat. Er fordert deshalb auch, dass Frankreich neben dem Grabmal des unbekannten Soldaten ein Grabmal des unbekannten Sklaven errichtet.13
Die Moralisierung der Historiografie macht Letztere auch zum Opfer der pessimistischen Anschauungen, die in jüngster Zeit überhand nehmen. Der Vergleich zwischen Napoleon und Hitler leistet kaum etwas zum genaueren Verständnis der französischen Reaktion auf den Sklavenaufstand von San Domingo in den Jahren 1791 bis 1803 oder zum Verständnis der Rolle und sozialen Stellung der Juden im napoleonischen Frankreich oder des Wesens des deutschen Faschismus. Ribbes vergleichende Methode ist im Grunde nur die aktuelle, auf das 21. Jahrhundert zugeschnittene Version jener moralischen Geschichtsschreibung, wie sie die großen liberalen Historiker des 19. Jahrhunderts pflegten. Nur dass jetzt die „großen Männer“ durch die „bösen Männer“ ersetzt sind und der Rassismus zum unabänderlichen Merkmal des menschlichen Wesens geworden ist. Ribbe behauptet, obwohl die Sklaverei heutzutage als moralisch verwerflich gilt, wirkten ihre Konsequenzen immer noch fort, denn die französische Gesellschaft werde mehr denn je durch dieselben Vorurteile geprägt, die damals das Handeln Napoleons bestimmt hätten.
Auf die Gefahren, die in dieser Art von Geschichtsschreibung liegen, hat CLR James in seinem 1938 geschriebenen Klassiker „The Black Jacobins“ verwiesen. Wenn man historische Figuren nicht als „Hervorbringungen des Wurzelgrundes, aus dem sie erwachsen sind“ analysiere, reduziere man die Individuen und Einzelereignisse zum Anschauungsmaterial für romantische Ideen oder die grenzenlosen Launen der Geschichte. Für das Letztere ist Ribbes Darstellung von Napoleon ein eindeutiges Beispiel.
Bei der Debatte über den französischen Kolonialismus geht es nicht in erster Linie um Fakten, sondern um Fragen der Identität und der Anerkennung. Deshalb hat man auch die gewaltsamen Unruhen in den Vorstädten sofort mit der französischen Kolonialgeschichte in Verbindung gebracht. Und es konnte auch nicht überraschen, dass Immigrantengruppen von sich selbst als von den „indigenen Völkern der Republik“ sprachen.14 Solche Kategorien besagen aber herzlich wenig über die Dynamik des französischen Imperialismus, sie belegen viel eher die Umwidmung einer historischen Kategorie in ein Etikett für sozialen Ausschluss und Marginalisierung.
Doch Historiker wie Nora ernten heute nur, was sie selbst gesät haben: Indem sie den Paradigmenwechsel von der Geschichtsschreibung zur Erinnerungskultur mitgemacht haben, bereiteten sie den Boden für den Verzicht auf historische Forschung. Nora beklagt die Auflösung eines nationalen Konsenses, der zumindest die zentrale Bedeutung Napoleons für den Aufbau der modernen französischen Nation anerkannt hatte. Doch der Zusammenbruch eines solchen Konsenses war bereits einer der Gründe für das Konzept der Erinnerung. So wie die Idee einer multikulturellen Gesellschaft – die als Basis für eine neue britische Identität gepriesen wird – sich im Lauf der Zeit als eine Methode erwiesen hat, die dabei half, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass die britische Bevölkerung sich kaum mehr auf eine Definition von „britisch“ zu einigen vermag.
Die aktuelle Diskussion hat aber auch einen positiven Effekt: Sie fördert immerhin ein gewisses Bewusstsein für die unauflösliche Spannung zwischen Erinnern und Geschichte als Wissenschaft. Henry Rousso zum Beispiel lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gefahren einer „Judizierung der Geschichte“.15 Er kritisiert, dass die „Erinnerungskultur“ neuerdings dazu benutzt wird, die wissenschaftliche Geschichtsschreibung zu blockieren. Denn sie instrumentalisiere die Fakten zum Werkzeug für die Konstruktion von Identitäten und für die Verlautbarung von Werturteilen. Die Geschichtswissenschaft habe sich aber nicht mit dem Erinnern zu beschäftigen, sondern habe die nötigen Fakten erst einmal zu ermitteln. Sie diene also dem Gewinn von Erkenntnissen, was Rousso zu der Frage führt: „Wie können wir uns an etwas erinnern, was wir nicht wissen?“
Angesichts dessen sollten wir aus den aktuellen Debatten über die Rolle der Geschichte und ihr Verhältnis zur Politik, zu nationalen Identitäten und zu moralischen Fragen etwas Wichtiges lernen: Was heutzutage Not tut, ist mehr historische Wissenschaft und weniger Erinnerungskultur – also mehr Verstehen und weniger Gedenken.