Das Öl des Zorns
Im Nigerdelta verdienen die einen am Öl und die anderen am Widerstand von Jean-Christophe Servant
Der Gouverneur des ölreichen nigerianischen Bundesstaats Bayelsa1,D iepreye Alamieyeseigha, tauchte am 21. November 2005 wieder in seinem Heimatland auf, nachdem es ihm gelungen war, aus England zu fliehen. Seine Geschichte erklärt einiges über die politische Lage im Lande. Er ist einer der mächtigsten Männer im Nigerdelta und Mitglied der Regierungspartei People’s Democratic Party (PDP). Als Beamter bezieht er offiziell ein monatliches Salär von 1 000 Euro. Aufgrund von Hinweisen der Nigerianischen Kommission zur Bekämpfung von Wirtschafts- und Finanzkriminalität (EFCC) wurde Alamieyeseigha im letzten Jahr im Transitbereich des Londoner Flughafens Heathrow festgenommen und inhaftiert. Man verdächtigte ihn, bis zu 11 Millionen Euro gewaschen zu haben. Gegen Kaution kam er auf freien Fuß. Sein Pass wurde einbehalten, und er durfte England nicht verlassen. Gleichwohl gelang es ihm, mit falschen Papieren zurück in die Heimat zu fliehen.
Alamieyeseigha wird vorgeworfen, mit veruntreuten Staatsgeldern eine Erdölraffinerie in Ecuador sowie mehrere Residenzen im Ausland erworben zu haben. Dennoch empfingen die Menschen ihn bei seiner Rückkehr Ende vergangenen Jahres mit großem Jubel, denn sie waren der festen Überzeugung, dass ihr Gouverneur in Wirklichkeit Opfer eines von London mit Unterstützung der nigerianischen Administration ausgeheckten „neokolonialen“ Komplotts geworden ist. Staatspräsident Olusegun Obasanjo, so glauben sie, wolle alle Politiker kaltstellen, die – wie Alamieyeseigha – seinem schärfsten Konkurrenten, dem Vizepräsidenten Atiku Abubakar, nahe stehen. Gouverneur Alamieyeseigha habe gefordert, dass 50 Prozent der Öleinnahmen den Bundesstaaten des Nigerdeltas zukommen sollten, wo das Öl gefördert wird, und nicht nur die in der Verfassung vorgesehenen 13 Prozent. Der schwerreiche Alamieyeseigha wurde bei seiner Rückkehr gefeiert, obwohl in der Hauptstadt der Region, in Yenagoa, über 70 Prozent der Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben.
Mehr als zehn Jahre nach der Hinrichtung des Schriftstellers Ken Saro Wiwa, der friedlichen und passiven Widerstand gegen die Öl- und Militärdiktatur Sani Abachas gefordert hatte,2 scheint die Bevölkerung sich neue Vorkämpfer zu suchen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern sind die heutigen „Helden“ zwielichtige Gestalten, die sich zwischen politischem Aktivismus und Wirtschaftskriminalität bewegen. So auch im Fall Mujahid Dokubo Asaris, des Führers der Niger Delta People’s Volunteer Force (NDPVF), der im August 2005 wegen Hochverrats festgenommen wurde. Asari ist ein Mann in den Vierzigern aus gutsituierter Familie, der bei den Unruhen im Delta Anfang der 1990er-Jahre bekannt wurde. Er ist ein typisches Beispiel für das Abdriften der arbeitslosen und deklassierten Jugend, die zusehen musste, wie die Gewinne aus der Ölwirtschaft in die Taschen anderer wanderten. Er gehört der viertgrößten Ethnie Nigerias, den Ijaw, an und hatte seine bewaffnete Miliz in den Dienst des lokalen Parteiapparats der regierenden PDP gestellt. Doch als ihn sein „Protektor“ Peter Odili, der Gouverneur des Bundesstaats Rivers, enttäuschte, ging er zu individuellen Gewaltakten über; er vertritt seither sezessionistische Ziele und steckt zugleich tief im Schmuggelgeschäft mit dem schwarzen Gold.
Bei der Präsidentschaftswahl von 2003, so ein Beobachter, „wurden viele Gangs aus dem Delta eingespannt, um die Opposition einzuschüchtern. Aber man darf sich nicht wundern: Wenn man jemandem eine Waffe gibt, bekommt man sie nicht wieder. Das Ergebnis: Nach dem Wahlsieg sind all diese Männer in die Kriminalität zurückgefallen, weil sie sich betrogen fühlten.“
Bei den Zusammenstößen einzelner Milizen kommen regelmäßig Menschen zu Tode. Darüber hinaus häufen sich die Anschläge von Rebellenbanden auf Ölgesellschaften – Shell, Chevron, Agip, Total –, deren Investitionen sich in Nigeria so gut auszahlen wie fast nirgendwo sonst auf der Welt. Die Gesellschaft Shell Petroleum Development Company Of Nigeria (SPDCN) , die als Staat im Staate 43 Prozent des nigerianischen Rohöls produziert, verliert aufgrund von Sabotageakten rund 10 Prozent ihrer Tagesförderung.
Demokratie und Wahnsinn – sie nennen es Democrazy
Am 18. Februar 2006 entführte die Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas (Mend) neun ausgewanderte Führungskräfte eines Subunternehmens von Shell. Nachdem am 1. März sechs dieser Geiseln freigelassen worden waren, verkündete die Mend, künftig werde man keine Geiseln mehr nehmen, sondern lieber schießen, um zu töten.3
Die nigerianische Armee geht regelmäßig mit brutalen Einsätzen gegen die Rebellen vor. So wurde im November 1999 als Antwort auf Ausschreitungen, bei denen zwölf Polizisten zu Tode kamen, in der Ijaw-Stadt Odi ein Massaker an über 200 unbewaffneten Zivilisten verübt. 2003 zerschlug die Regierung die Umtriebe der NDPVF mit der „Operation Restore Hope“ (in Anlehnung an die gleichnamige Operation der USA in Somalia, die zu einem Fiasko wurde). 100 Menschen kamen dabei in der Region von Port Harcourt ums Leben.
Zum Schutz ihrer Förderanlagen bedienen sich die Firmen auch privater Sicherheitsdienste. Chevron Nigeria, eine Filiale des US-amerikanischen Unternehmens Chevron Texaco, hat nicht nur seinen Exportterminal Escravos, sondern auch seine Helikopter zur Verfügung gestellt, damit die nigerianische Regierung dem Konzern feindlich gesinnte Gruppen bekämpfen kann. Im Übrigen versuchen die Firmen, lokale Rivalitäten zu instrumentalisieren. Chevron zum Beispiel hat die seit den Zeiten des Sklavenhandels mit den Ijaw verfeindete Volksgruppe der Itsekiri zum Hauptnutznießer seiner Entwicklungsprogramme erkoren.
Gewiss, nach sieben Jahren democrazy – der nigerianischen Mischung aus Demokratie und Wahnsinn – ist die weltweite Nachfrage nach dem Öl aus dem Golf von Guinea – dem „nächsten Persischen Golf“ – größer als je zuvor.4 Die neuen Offshore-Bohrungen von Bonga sollen Nigeria bis 2010 in die Lage versetzen, vier Millionen Barrel Rohöl pro Tag zu fördern.5
„Kampf gegen Korruption“, „Transparenz“, „Umweltschutz“ – dies sind oft gehörte Schlagworte aus den Verlautbarungen der verschiedenen Zivilregierungen, die seit 1999 das Militär abgelöst haben. Bisher sind von den 350 Milliarden Petrodollar, die seit der Unabhängigkeit eingenommen wurden, 50 Milliarden Dollar verschwunden. Nun sollen sich die Mühen der Ölförderung endlich für Nigeria auszahlen. Doch im Nigerdelta benehmen sich die Gouverneure noch immer wie Paten.
Der Südosten Nigerias ist mittlerweile das Zentrum eines neuen „Handelsdreiecks“, hier werden Rohöl und Petrodollars umgeschlagen. Die Folgen für die hier lebenden Menschen sind so verheerend wie ehedem die des Sklavenhandels. Bayelsa ist nicht nur der historische Ort, wo im März 1956 die ersten Barrel nigerianischen Öls vom britischen Shell-Konzern ans Tageslicht befördert wurden; es ist zudem eine Bastion der sozialen und politischen Aufstände im Nigerdelta,6 die auch die Präsidentschaftswahl des Jahres 2007 durch Unruhen bedroht.
Dabei hat der Bundesstaat Bayelsa dank der Preissteigerungen auf dem Rohölmarkt im Jahr 2005 Rekordeinnahmen von 470 Millionen Euro erzielt, nach 252 Millionen im Jahr 2003. Aber 7 Millionen wurden erst einmal in die Fertigstellung – allein 1,6 Millionen in die Ausstattung – von zwei offiziellen Residenzen gesteckt. 2002 wurden bereits 21 Millionen Euro für den gleichen Zweck ausgegeben. Die Behörden von Bayelsa haben bekannt gegeben, 2005 seien einem Komitee für Armutsbekämpfung 19 330 Euro zur Verfügung gestellt worden. Doch von dessen Aktivitäten hat bis heute niemand etwas gehört oder gesehen.
Nach den Berichten, die anlässlich des zehnten Jahrestages der Hinrichtung von Ken Saro Wiwa veröffentlicht wurden, ist die Lage im Nigerdelta „schlimmer als 1995: mehr Gewalt, noch besser bewaffnete Gangs und Milizen, noch mehr Korruption bei der Konzessionierung und Vermarktung von Öl und Gas“.7 In diesem Gebiet sterben im Durchschnitt tausend Personen pro Jahr eines gewaltsamen Todes. Darüber hinaus gibt es zahllose indirekte Opfer der hemmungslosen Ölausbeutung. In Bayelsa hat das Giftgemisch, das die – 2005 von der nigerianischen Justiz verbotenen – Gasfackeln ausspucken, im selben Jahr 5 000 Fälle von Atemwegserkrankungen und über 120 000 Asthmaanfälle hervorgerufen.8 Weil die verfügbaren Nahrungsmittel durch die Gifte belastet sind, verlassen tausende von Umweltflüchtlingen das Herz des Nigerdeltas und ziehen in die explosiven Ghettos von Port Harcout oder, noch weiter entfernt, nach Ajegunle, einem Slumvorort von Lagos, der Wirtschaftsmetropole des Landes.
Man muss zwischen den Zahlen lesen können
Die nigerianische Shell-Filiale SPDCN – die 15 Prozent der weltweiten Produktion des Mutterkonzerns leistet – versucht die Öffentlichkeit mit Werbeprospekten von ihren guten Absichten zu überzeugen. Dort erklärt sie, jährlich 60 Millionen Dollar für Entwicklungsprojekte bereitzustellen. Aber Marc Antoine de Monclos vom Institut für Entwicklungsforschung (IRD) hält Skepsis für angebracht: „Man muss zwischen den Zahlen lesen können, denn man weiß, dass die Ölkonzerne den Forschern jeden Einblick in ihre Archive verwehren und auf heikle Fragen keine Antwort geben. Von den 60 Millionen Dollar, die Shell nach eigenen Angaben im Jahr 2000 in Entwicklungsprojekte gesteckt hat, sind 33 Millionen in den Bau von Straßen geflossen, die dem Ölförderunternehmen selbst zugute kommen.“9
Die Tragikomödie von Alamieyeseigha dauerte fast einen Monat. Nachdem das Parlament des Bundesstaats ihn als Gouverneur abgesetzt hatte, wurde er am 9. Dezember 2005 schließlich festgenommen. Gerne würde man ihn von Nigeria nach London überstellen. Die Ijaw-Organisationen schwanken jedoch immer noch zwischen Zorn und Resignation, und die neuen bewaffneten Sezessionistenbewegungen, wie etwa die von den Ijaw beherrschte Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas (Mend), fordern unter anderem die Freilassung des abgesetzten Gouverneurs sowie des NDPVF-Führers Dokubo Asari.
Obasanjo hat die Probleme der Ölförderung auch in seiner wohl letzten Amtszeit nicht in den Griff bekommen. Aber es ist gut möglich, dass die Verfassung geändert wird und ihm eine dritte Amtszeit ermöglicht. „Die Stimmung im Bundesstaat Bayelsa ist besonders geladen und könnte sich entzünden, wenn Alamieyeseigha oder Asari etwas zustieße“, bestätigt der britische Journalist Andy Rowell. „Aber vergessen wir nicht, dass all diese Probleme in erster Linie eine Folge der fortgesetzten Ausbeutung des Deltas durch britische und amerikanische Interessen sind. Es wird interessant sein, welche Haltung die Regierungen dieser Länder bei den kommenden Wahlen einnehmen.“
Für den britischen Labour-Abgeordneten John Robertson, Präsident der All-Party Parliamentary Group on the Niger Delta, mit der er im August 2005 die Region besucht hat, ist die Lage explosiv: „Die Menschen im Nigerdelta wissen, dass die Ölquellen einen ungeheuren Reichtum erzeugen, von dem sie praktisch nichts abbekommen. […] Diese Kombination schafft Ressentiments, sowohl gegen die Unternehmen, die diesen Reichtum zutage fördern, als auch gegen die der Komplizenschaft verdächtigten Anführer der Volksgruppen. Zumal wenig skrupulöse Figuren die Klagen der Bevölkerung für Aktionen benutzen, mit denen sie die Quellen dieses Reichtums selbst gefährden.“10 Und Robertson fragt weiter: „Wenn in Nigeria eine Revolution ausbräche, welche Folgen hätte das für Afrika?“