13.04.2006

Die Emanzen von Algier

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Die Emanzen von Algier

von Wendy Kristianasen

Am 24. Februar kam es in Algier zu einer ungewöhnlichen Pressekonferenz. Sechs Organisationen, die sich für die Opfer des algerischen Bürgerkriegs einsetzen, erklärten ihre gemeinsame Opposition gegen die Charta für Frieden und nationale Versöhnung.

Manche auf dem Podium hätten bis letzten Sommer kein Wort miteinander geredet – wie Chérifa Kheddar, Vorsitzende von Djazairouna, einer Vereinigung von Terroropfern, und Nacéra Dutour vom Collectif des familles de disparus en Algérie (CFDA). Die politische Kluft in Algerien verläuft heute zwischen den Opfern der islamistischen Gruppen und denen, die als islamische Terroristen gelten. Dabei vermeiden die meisten Algerier – auch die moderaten Islamisten – das Wort Bürgerkrieg. Sie sprechen vielmehr von „Terrorismus“, womit sie sowohl die bewaffneten Rebellen als auch die vom Staat organisierten bewaffneten Selbstschutzgruppen meinen.

Kheddar und Dutour stammen aus ähnlichen Verhältnissen. Dutour hat Algerien 1968 verlassen, um in Frankreich zu leben: „Ich war geschieden und konnte meine drei Söhne nicht mitnehmen. Am 30. Januar 1997 erhielt ich einen Anruf: Amin, mein mittlerer Sohn, war verschwunden. Er lebte bei meiner Mutter in Baraki. Dort hatte es einen Anschlag auf den Präfekten von Algier gegeben. Darauf wurde die Armee in die Stadt entsandt, viele Leute wurden verhaftet. Mein Sohn hatte sich nie für Politik interessiert. Er war kein Islamist. Seine einzige religiöse Betätigung war das Fasten während des Ramadan. Dabei wurde er gesehen und verhaftet.“

Auf der lokalen Polizeistation erklärte man ihr: „Aber sicher foltern wir die Leute: Irgendwas hat doch jeder zu beichten. Ihr seid alle Terroristen. Auch du hast einem Terroristen das Leben geschenkt.“ Alle Hinweise, die sie auf den Verbleib ihres Sohnes bekam, führten zu nichts. Das letzte Mal hat sie im Jahr 2000 von ihm gehört.

Bei dem Versuch, auch andere Mütter für die Suche nach ihren Söhnen zu mobilisieren, stieß sie auf eine Mauer von Angst. Daraufhin gründete sie in Paris mit Hilfe von französischen und internationalen Menschenrechtsgruppen das CFDA.

Fünf der Organisationen, die im Februar die Pressekonferenz veranstaltet haben, werden von Frauen geleitet.1 Dass auf diesem Gebiet so viele Frauen engagiert sind, ist kaum überraschend. Schon im Unabhängigkeitskampf gegen die Franzosen spielten Frauen eine bedeutende Rolle, wie auch später während der Unruhen in den 1990er-Jahren.

Akila Ouared ist heute 69 Jahre alt und militante Feministin. Vor fünfzig Jahren arbeitete sie für den Front de libération nationale (FLN) in Frankreich, wo sie Gelder an Familien von militanten Muslimen verteilte. „Ich lebte in zwei Welten. Am Tage war ich Jacqueline, die für die Franzosen arbeitete. Abends oder in der Mittagspause stahl ich mich davon, um mich mit meinem fiktiven Verlobten zu treffen.“ Nach dem Waffenstillstand vom Juli 1962 ging sie nach Algerien zurück und gründete den ersten Frauenverein. Bis 1965 war sie in der FLN aktiv. Heute sieht sie die FLN kritisch, wegen ihrer demokratischen Defizite und des Familiengesetzes von 1984. Das Gesetz wurde am 27. Februar 2005 novelliert. Kurz darauf trafen sich Frauenrechtlerinnen wie Akila Ouared und Chérifa Kheddar, um das neue Gesetz zu diskutieren. Alle waren unverschleiert und stammten aus der Mittelschicht. Ihre Kampfansage galt vor allem der Bestimmung, die an der Tradition des Vormundes (wali) festhält: „Der wali ist ein Symbol für die eingeschränkte Freiheit der Frauen“, meint Kheddar. „Du kannst Präsidentin werden und brauchst trotzdem immer noch einen Beschützer.“ Zwar können die Frauen ihren Vormund nun selbst bestimmen, aber das mache „die herablassende Haltung gegenüber den Frauen nur noch deutlicher“.

Die 54-jährige Anwältin und Juraprofessorin Nadia Ait-Zai leitet Ciddef, ein Informationszentrum für die Rechte von Frauen und Kindern. Sie kümmert sich vor allem um das Tabuthema Abtreibung, die in Algerien nur nach medizinischer Indikation erlaubt ist: „Das Problem ist aber, dass es Verhütungsmittel nur für verheiratete Frauen gibt, nicht aber für Unverheiratete, Witwen oder Geschiedene. Und die suchen dann illegal Abhilfe oder reisen ins Ausland. Wir wollen außerdem eine spezielle Klausel in den Artikel 39 des Strafgesetzbuches einfügen, die sexuelle Belästigung von Frauen unter Strafe stellt.“

Das neue Familiengesetz: besser, aber nicht gut genug

Als Juristin kritisiert Ait-Zai die Reform des Familiengesetzes als ausgesprochen inkonsistent: „Mit einem Bein steht es in der Moderne, mit dem anderen in der Vergangenheit.“ Doch sie sieht zumindest kleine Fortschritte: „Ehen werden nun in beiderseitigem Einverständnis geschlossen, die Ehepartner haben die gleichen Rechte, der Ehevertrag sieht die Gütertrennung vor, künstliche Befruchtung ist erlaubt, und im Scheidungsfall können auch der Frau die Kinder zugesprochen werden.“ Es stört sie, dass die Polygamie zwar schwieriger, aber nicht unmöglich gemacht wird und dass das Erbrecht noch immer die Männer begünstigt (zwei Drittel gehen an den Sohn, ein Drittel an die Tochter).

Aicha Dahmane Belhadjr ist Abgeordnete für Frauen- und Familienangelegenheiten des islamistischen MSP (Mouvement sociale pour la paix), die seit kurzem der Regierungskoalition angehört. Sie beklagt die mangelnde Kooperationsbereitschaft der „säkularen“ Frauen: „Die sind uns sehr feindselig gesinnt, ein Dialog ist nur schwer möglich. Der Fehler liegt bei ihnen, aber das geht zu Lasten der Gesellschaft. Es gibt uns nun mal, an uns kommt man nicht vorbei.“

Für eine Islamistin hat Belhajr ziemlich rebellische Ideen: „Alles was nicht ausdrücklich als Sünde gilt, ist erlaubt. Ich habe es nie so empfunden, dass der Islam Frauen daran hindert, am öffentlichen Leben teilzunehmen; ich denke, er sieht es sogar als ihre Pflicht an. Haus und Heim sind wichtig, aber nicht alles. Dass nicht mehr muslimische Frauen so denken wie ich, liegt daran, dass wir die patriarchalischen Grundzüge aus der Kolonialzeit übernommen haben.“

Die 54-jährige Louisa Ait Hamou ist Dozentin an der Universität von Algier und Mitglied eines Netzwerks namens Wassila. Es vereinigt NGOs und akademisch ausgebildete Frauen: „Wir veranstalten Workshops, arrangieren wöchentliche Kliniktermine für Kinder und organisieren fachkundige Hilfe. Neben den Aktivitäten, die wir anbieten, publizieren wir auch. Und wir brechen das Schweigen über sexuelle Gewalt, Gewalt in der Familie und ökonomische Gewalt.“ Als Beispiel nennt sie die Stadt Hassi Messaoud, die neuerdings einen Ölboom erlebt. Als dort 30 Frauen eine Arbeit aufnahmen, was in diesem Umfeld sehr ungewöhnlich ist, wurden sie von den örtlichen Imamen als Prostituierte beschimpft. Die Folge war, „dass viele von ihnen vergewaltigt und mit Messern attackiert wurden. Und eine von ihnen wurde lebendig begraben. Wassila und andere NGOs beendeten das lange Schweigen über diese Vorfälle und halfen den Frauen, vor Gericht zu gehen – obwohl dann nur drei der 30 Frauen es wagten.“

Für Ait Hamou begann die algerische Frauenbewegung 1979: „Wir gründeten das Autonome Frauenkollektiv. Es war damals illegal, weil man entweder der FLN oder dem Nationalen Frauenverband angehören musste.“ In den 1980er-Jahren wurden NGOs zugelassen. SOS Femmes en detresse (Frauen in Not) berät Opfer von familiärer Gewalt oder Inzest und betreut unverheiratete Mütter. Das Zentrum bietet außerdem Seminare an und dient als Anlaufstelle für Frauen. Die Vorsitzende Meriem Belaala meint stolz: „Wir sind sehr erfolgreich. Und wir bringen die Frauen zum Reden, sogar über ihr Eheleben. Viele glauben ja immer noch, dass Frigidität allein ihre Schuld sei.“

Für und wider das Beispiel Südafrika

Für die Frauenverbände ist es schwer, effektiv zu sein und unabhängig zu bleiben. Verbitterung herrscht über den „Verrat“ von Khalida Messaoudi Toumi, einer Galionsfigur der Bewegung, die 2002 als Kulturministerin in die Regierung eintrat. Sie gehörte der Kommission für die Novellierung des Familiengesetzes an, das sie auch vehement verteidigte: „Wenn Frauen ihren Vormund heute selbst bestimmen können, bedeutet dies, dass sie vom Objekt zum Subjekt geworden sind.“ Enttäuschung äußert sie darüber, „dass die Frauenbewegung nichts tut. Niemand bewegt etwas, außer der Regierung und den Islamisten.“

Auf solche Behauptungen reagierten die Frauenorganisationen empört: „Niemand aus der Frauenbewegung wurde in die Kommission berufen“, hält Meriem Belaala fest. Deshalb habe man sich 2002 zusammengetan, um für die Aufhebung des Gesetzes zu kämpfen. Dann schlägt sie den Bogen zu dem aktuellen politischen Thema: „Fast alle, die gegen das Familiengesetz waren, waren auch gegen die Charta für Frieden und nationale Versöhnung.“ Denn diese habe aus Bouteflikas „Gesetz über den staatsbürgerlichen Frieden“ vom Juli 1999, das Mitgliedern von bewaffneten Gruppen, die ihre Waffen niederlegten, Straffreiheit oder Strafminderung gewährte, eine Art Generalamnestie gemacht.

Die Lehrerin Saida Banhabiles Kettou engagiert sich für die Belange von Frauen und Kindern aus ländlichen Regionen. Sie steht der Regierung nahe und war 1992 sogar kurz Ministerin. Sie meint, die Krise Algeriens habe vor allem mit Armut und Rückständigkeit zu tun. Für sie ist die Charta die einzige Chance: „Wahrheit und Versöhnung nach südafrikanischem Muster würden hier nicht funktionieren. Dafür sind wir Algerier nicht geschaffen.“

Keltoum Larbes arbeitet als Krankenschwester im Mustapha-Bacha-Krankenhaus in Algier. Die 39-Jährige ist die Witwe des Journalisten Aliousalah, der bei der Tageszeitung Liberté nur Zinou genannt wurde. Zinou war einer von 24 Journalisten, die von der AIS für das, was sie schrieben, bestraft wurden. Am 6. Januar 1995 um zehn Uhr morgens wurde er vor seinem Haus niedergeschossen, sagt seine Witwe: „Als ich ihn in die Arme nahm, war er schon tot. In diesem Moment begann mein eigener Kampf. Ich trat dem ‚Nationalkomitee gegen Vergessen und Verrat‘ (CNOT) bei, das aber 2001 seine Arbeit einstellte. Jetzt mache ich allein weiter. Ich bin nicht auf Vernichtung aus, und ich bin nicht politisch. Ich will Frieden, aber nicht diesen Frieden mit einer Straffreiheit, den uns diese Charta aufzwingt. In Südafrika ging es ja auch anders.“

Keltoum Larbes bezeichnet sich als Muslimin, schon damit man sie nicht für atheistisch hält. Aber sie ist für das säkulare Prinzip, damit die Religion nicht mehr für politische Zwecke missbraucht werden kann: „Ich finde es geradezu widerlich, den Islam als Staatsreligion zu bezeichnen. Vielmehr sollte man von der Religion des Volkes sprechen.“

Die Religion hat eine große Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit gespielt. Durch den Artikel 2 wurde sie fest im Programm der FLN verankert. Aber das heutige Regime wisse nicht, meint Fatima Oussedik, Soziologieprofessorin an der Universität von Algier, „auf welche Weise wir säkular werden sollen. Wir versuchen es auf unsere Art, und das ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Der Übergang ist schwer und schmerzhaft, weil wir schon so viel Gewalt erlebt haben. Aber damit müssen wir uns auseinander setzen, bevor es irgendwelche Amnestien geben kann. Und es geht hier in erster Linie um die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Wenn wir uns dieser Debatte nicht stellen, werden wir eine autoritäre Gesellschaft bleiben.“

Fußnote: 1 Die Gruppe SOS Disparu, die CFDA, die Association nationale des familles de disparus (ANFD) unter Vorsitz von Leila Ighil, Djazairouna unter Chérifa Kheddar und die Organisation Nationale des victimes du terrorisme et des ayants droit (ONAVDT) unter Fatima Halaimia. Aus dem Englischen von Elisabeth Wellershaus Wendy Kristianasen ist Journalistin und betreut die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2006, von Wendy Kristianasen