Vietnam und Irak: Das unerwünschte Wissen der CIA
von Gabriel Kolko
Im September 1991 wurde der langjährige Offizier beim Geheimdienst der US-Marine, Scott Ritter, als Leiter einer UN-Waffeninspektionseinheit rekrutiert, die herausfinden sollte, ob der Irak seine Massenvernichtungswaffen und die zu ihrem Einsatz nötigen Trägersysteme vernichtet hatte oder nicht. Die Geheimdienste der USA, Großbritanniens und Israels lieferten Ritter überaus zuverlässige Informationen. So kam seine Einheit Mitte der 1990er-Jahre zu dem Schluss, der Irak habe den Abrüstungsauflagen der Vereinten Nationen entsprochen. Dennoch hielten alle Regierungen in Washington seit 1991 an dem Mythos fest, die Iraker seien im Besitz von Massenvernichtungswaffen. Nach Ritter lag das vor allem daran, dass sie in Wirklichkeit auf einen Regimewechsel aus waren.1
Ein weiterer Vorwurf gegen Saddam Hussein besagte, dass dessen angebliche Verbindungen zur al-Qaida eine Bedrohung darstellten und dass Bin Laden durch seine Beziehungen zum Irak in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen könnte. Doch Ritter wusste Ende September 2001 schon längst, dass das Gegenteil der Fall war: Das säkulare irakische Regime war ein entschiedener Feind des islamischen Fanatismus à la Bin Laden. Als Quelle für diesen Vorwurf hatte die DIA, der Geheimdienst des US-Verteidigungsministeriums, einen Mann identifiziert, der notorisch falsche Informationen geliefert hatte.2
Krise, Gefahr für die innere Sicherheit, Bedrohung der Nation – diese Begriffe gehören spätestens seit 1947 zum Instrumentarium der US-amerikanischen Außenpolitik. Mit solchen Begriffen wurden eine meist zögerliche öffentliche Meinung und vor allem der Kongress mobilisiert, der enorme Geldsummen zur Umsetzung der Außenpolitik bewilligen musste.
In solchen Situationen zählt die Wahrheit nicht. Absichtsvolle Übertreibungen, ja falsche Behauptungen sind in der US-Außenpolitik die Regel, seit Präsident Harry S. Truman im März 1947 die legendäre Truman-Doktrin proklamierte. Damals malte er die Krisen in Griechenland und in der Türkei in den düstersten Farben als eine Bedrohung des Weltfriedens. Und der stellvertretende Außenminister Dean Acheson meinte damals, Kongress wie Öffentlichkeit seien sich „nicht hinreichend“ bewusst, dass das viele Geld absolut notwendig sei, um die Krise einzudämmen, die ganz Europa und weite Teile der übrigen Welt erfasst habe.
Lästige Informationen
George Kennan, der wichtigste Verfechter einer „Containment“-Politik gegenüber der Sowjetunion, war 1947 gegen die Truman-Doktrin, und selbst Außenminister George C. Marshall meinte, der Präsident gehe zu weit. Auch heute, nach der Auflösung des sowjetischen Blocks, gehen die Übertreibungen und die Warnungen vor skrupellosen Feinden weiter.3
Von Willard C. Matthias, der viele Jahre die für die Einschätzung der Sowjetunion zuständige CIA-Abteilung geleitet hatte, bevor er 1973 aus dem US-Geheimdienst ausschied, wissen wir, dass seit 1947 „zwischen den zivilen und militärischen Nachrichtendiensten (der USA) eine Kontroverse über die Absichten der Sowjetunion“ bestand.4 Um die massiven Rüstungsausgaben zu begründen, musste man die politischen Ziele der UdSSR als größtmögliche Bedrohung beschreiben, das heißt das militärische Potenzial der Sowjetunion stärker betonen als die tatsächlichen Intentionen der Regierenden. Die Tendenzen der internen Liberalisierung wurden ignoriert, und die Bedeutung des sowjetisch-chinesischen Schismas wurde stark unterschätzt. Nach 1968, so berichtet Matthias über die Rolle seiner Abteilung, „gerieten unsere rationalen und ausgewogenen Einschätzungen der sowjetischen Entwicklung immer mehr unter Beschuss“.5
Im Lichte dieser Darstellung wird nicht nur der Vietnamkrieg verständlicher, sondern auch die übrigen Aspekte der US-amerikanischen Außen- und Militärpolitik nach 1946 gewinnen neue Konturen. Der republikanische Präsident Richard Nixon hegte eine tiefe Abneigung gegen die CIA. 1973 entließ er Richard Helms als CIA-Chef, weil dieser sich geweigert hatte, den Einbruch in das Watergate-Hotel, also in das Wahlhauptquartier der Demokraten, unter dem Deckmantel einer CIA-Operation laufen zu lassen. Und die wichtigsten Berater von Präsident Jimmy Carter betrachteten die Einschätzungen der CIA als „Belästigung“, die sie nicht etwa als „ungenau“, sondern vielmehr als „irrelevant“ abtaten.6
Carters Nachfolger Ronald Reagan ernannte 1981 William Casey zum neuen CIA-Chef, der sich mit seinen Spezialisten kräftig anlegte.7 Casey betrieb höchst aktiv seine eigene Außenpolitik und tönte unter anderem: „Unsere Gutachten sind zu einem machtvollen Instrument geworden, mit dem wir politische Entscheidungen beeinflussen.“8 Durch die Übertreibung der angeblichen Gefahren war es der CIA 1989 nicht möglich, den Zusammenbruch des sowjetischen Blocks vorauszusehen.
Alle Memoiren ehemaliger US-Geheimdienstler stimmen darin überein, dass man den Einschätzungen der Agenten nicht trauen konnte. Obwohl die CIA viele überaus fähige Mitarbeiter hatte und diese auch über gigantische Mengen von Informationen verfügten, ist nach 1946 niemals ein System von objektiven, unparteiischen Nachrichtendiensten entstanden, die rationalen Einfluss auf die Politik gehabt hätten. Wie die Welt wahrgenommen und dargestellt wurde, war vielmehr von vorgefassten Ideen oder Interessen bestimmt. Deshalb konnte es zu den bekannten Fehleinschätzungen kommen – in Vietnam wie im Irak.
Ignorierte Erkenntnisse
Die systematische Verzerrung von Informationen zu politischen Zwecken setzte vor dem Vietnamkrieg ein und hat seitdem nicht aufgehört. Die CIA wurde nur ernst genommen, wenn die Regierung ihre operativen Einheiten für subversive Aktionen im Ausland anforderte. Ausschlaggebend waren also nicht konkrete gelieferte Informationen, sondern es war deren Verwendbarkeit für politische Strategien.
Im Fall Vietnam hatte die US-Regierung einige Spezialisten, die sehr genaue Kenntnisse über das Land besaßen. George W. Allen etwa, seit 1949 für die DIA tätig, war von Anfang an in die Bemühungen der Franzosen verwickelt, ihre Kolonien in Indochina zu sichern. Allens Memoiren sind eine Pflichtlektüre. 1963 wechselte er von der DIA zur CIA, wo er rasch zum führenden Vietnam-Experten aufstieg. In dieser Rolle hatte er Kontakt zu unzähligen Entscheidungsträgern. Er erinnert sich zum Beispiel, wie Präsident Eisenhower und sein Außenminister Dulles heftig dagegen opponierten, dass Frankreich, nach der Niederlage von Dien Bien Phu einen Waffenstillstand schloss und ein Abkommen mit seinen Feinden anstrebte. Die USA waren gegen das Genfer Indochina-Abkommen von 1954. Sie übernahmen die aussichtslos gewordene französische Mission in Indochina, wobei sie, wie Allen schreibt, „ihre Einschätzung auf eine Reihe von Annahmen stützten, die wir [bei der CIA] für völlig unrealistisch hielten“.9
Als Erstes verhinderte die Eisenhower-Regierung die Umsetzung der in Genf ausgehandelten Bedingungen für gesamtvietnamesische Wahlen, die zur Wiedervereinigung führen sollten; überdies missachtete sie die militärischen Bestimmungen des Genfer Abkommens. So begann die Einmischung Washingtons in Vietnam, die innerhalb der folgenden zwanzig Jahre immer weiter eskalierte. 1968 erreichte diese Intervention ihren Höhepunkt, als 750 000 US-Soldaten direkt oder indirekt in einem Krieg engagiert waren, der dann nicht nur der längste, sondern auch der umstrittenste und teuerste der US-amerikanischen Geschichte wurde.
Inszenierte Zwischenfälle
Bei jedem weiteren Eskalationsschritt hatten die CIA-Analytiker vorausgesagt, was geschehen würde. Dennoch war Allen 1964 von der Krise „überrascht“, die der so genannte Tonking-Zwischenfall auslöste. Denn er wusste, dass im Golf von Tongking verdeckte Operationen der USA und Südvietnams abliefen.10 Zunächst dachte er, ein Teil des US-Militärs wisse nicht, was der andere Teil im Sinn hat. Aber dann wurde ihm klar, was er anfangs nicht kapiert hatte: „dass die Regierung eifrig bemüht war, einen Vorwand für eine weitere Eskalation zu finden“, mit der sie das Saigoner Regime zu stabilisieren hoffte. Dasselbe gilt für die Zwischenfälle von Pleiku Anfang 1965, die laut Allen „ein willkommener Auslöser für die ohnehin geplante Eskalation“ waren.11
1998 hat die CIA ein Papier des hohen Geheimdienstmitarbeiters Harold P. Ford über die Ereignisse der Jahre 1962 bis 1968 freigegeben.12 Darin erklärte der ehemalige Leiter der CIA-Abteilung für operative Einsätze, dass die spätere Klage von US-Verteidigungsminister Robert McNamara, damals habe es einfach keine „Vietnam-Experten“ gegeben, die er hätte konsultieren können, keinesfalls den Tatsachen entspricht. Es gab diese Experten, aber McNamara weigerte sich, ihrem Rat zu folgen. Zum notorischen Versagen der US-Regierung trug auch ihre Unfähigkeit bei, die Militärdoktrin der Kommunisten zu verstehen und die Zahl ihrer Kämpfer korrekt einzuschätzen (die „Kräfte“ des Gegners waren ein ständiger Streitpunkt zwischen CIA und Pentagon). Hinzu kam, dass die Johnson- Regierung sich hinter den korrupten Diktator Nguyen Van Thieu stellte, weil sie hoffte, die chronische politische Instabilität beenden zu können, die seit der von den USA gedeckten Ermordung des Präsidenten Ngo Dinh Diem im Jahr 1963 geherrscht hatte. Washington bildete und rüstete die Saigoner Armee so aus, als ob diese einen Guerillakrieg im Stile eines teuren konventionellen Krieges führen könne. 1975 musste dann die Ford-Regierung hilflos zusehen, wie das Regime ihres Klienten Thieu sich in nichts auflöste.
Doch in dieser ganzen Zeit gab es lauter Siegesmeldungen, mit denen man die öffentliche Meinung manipulieren wollte. Zweifellos haben einige Politiker, Militärs und aktive CIA-Agenten diesen falschen Berichten Glauben geschenkt und sich selbst in die Tasche gelogen, aber den meisten von ihnen war klar, dass es für ihre Karriere besser war, sich als Optimisten zu geben.
Die gravierendste Konsequenz solcher Selbsttäuschung war die Kontroverse über die Zahl der feindlichen Kräfte im Vorfeld der Tet-Offensive im Februar 1968. Es ging darum, diese Zahl möglichst klein zu halten, um Erfolg vermelden zu können. Deshalb wurden die diversen lokalen Kampfgruppen gar nicht erst gezählt. Die Amerikaner ließen einfach 300 000 Leute von der Bildfläche verschwinden. Denn wenn man ihre Existenz zugegeben hätte, wären die Schlussfolgerungen allzu „düster“ ausgefallen, wie es General Creighton Abrams im August 1967 ausdrückte.13
Die CIA wehrte sich zwar bis zu einem bestimmten Punkt, musste sich aber am Ende doch mit der Entstellung der Fakten abfinden. Laut Allen bedeutete die Tet-Offensive der Vietnamesen für die Regierung Johnson eine umso größere Niederlage, als sie im Herbst 1967 eine völlig überzogene Psychokampagne geführt hatten, um die öffentliche Meinung noch einmal „mitzuziehen“.14 Laut Allen wurde deshalb in vielen Fällen „die Wahrheit bewusst und auf groteske Weise verzerrt, um Eindruck zu schinden“. Nach der Tet-Offensive begannen die USA zu begreifen, dass der Krieg nicht zu gewinnen war.
Das Fazit Allens, das auch Ford unterschreiben könnte, läuft darauf hinaus, dass „unsere politischen Führer zur Selbsttäuschung neigen“15 . In der CIA gab es viele gut informierte Mitarbeiter, die ebenso kritisch waren wie die erklärten Kriegsgegner. In Artikeln, die in der von der CIA herausgegebenen Zeitschrift Studies in Intelligence erschienen sind, wird ganz unverblümt zugegeben, dass die Informationen, die sich die CIA beschafft, „zum großen Teil Schrott sind, um es hart auszudrücken“16 . Auch die Tatsache, dass sich durch den technologischen Fortschritt in den letzten fünfzehn Jahren die Datenmasse vervielfacht hat, macht es den Geheimdiensten keineswegs leichter; im Gegenteil: Die Auswertungen sind schwieriger geworden – und damit steigt die Gefahr, dass die Daten an der Sache vorbeigehen oder einfach falsch sind. In einigen Memoiren, die operative Aktionen der CIA oder der Spezialeinheiten des Pentagons beschreiben, ist von Unfähigkeit und Konfusion die Rede. Und das ist offenbar die Regel und nicht etwa die Ausnahme.17
Interessen und Ambitionen der Politiker
Dass die Politiker vorgeben, was die nachrichtendienstlichen Analysten in ihre Berichte hineinschreiben, ist seit Jahrzehnten sattsam bekannt. Was sich im Fall Irak getan hat, ist also nur die Regel. Die Vorurteile, politischen Interessen und Ambitionen der Politiker, vor allem aber ihr Interesse, wiedergewählt zu werden, machen sie unwillig, nachrichtendienstliche Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die sie partout nicht hören wollen. Und die meisten höheren Geheimdienstmitarbeiter akzeptieren diese Einschränkungen. Die Entscheidungsträger wollen Informationen, um ihre Ziele zu untermauern. Und wenn diese das nicht hergeben, werden sie eben selektiv benutzt oder ganz ignoriert. Die Politiker verhalten sich so, weil sie sich auf ihr eigenes Urteil verlassen, aber natürlich auch, weil sie ihre eigenen Pläne verfolgen. Nur wenige höhere Geheimdienstleute glauben, dass sie mit objektiven Informationen schlechte oder gefährliche politische Entscheidungen verhindern können.18
Zwischen den Fällen Vietnam und Irak gibt es sehr große kulturelle, geografische und politische Unterschiede, und auch in geopolitischer Hinsicht liegen sie ganz verschieden. Die USA haben Saddam Hussein (trotz des sog. Iran-Contra-Skandals19 ) während der 1980er-Jahre in seinem Krieg gegen den Iran politisch und materiell unterstützt, weil sie befürchteten, ein von militanten Schiiten regierter Iran könnte die gesamte Golfregion dominieren. Diese Angst haben sie auch heute noch, und wenn im Irak die schiitische Mehrheit an die Regierung kommen sollte – was sehr gut möglich ist –, wird die Wahrscheinlichkeit, dass der Iran seine regionalen geopolitischen Ambitionen durchsetzen kann, größer als je zuvor. Aber selbst wenn man dieses grundlegende Paradoxon der US-amerikanischen Außenpolitik beiseite lässt, zeigen sich heute wieder viele der Fehler, die bereits in Vietnam für die Niederlage verantwortlich waren.
Die Arbeit der Geheimdienste funktionierte im Irak genauso schlecht wie in Vietnam. Gerade weil beide Kriege für die USA ein böses Ende nahmen, ist so viel mehr von dem, was die Geheimdienste gesagt haben, inzwischen publik geworden.
Auch wenn die wahren Gründe für den Irakkrieg durchaus vielfältig sind, kann man davon ausgehen, dass die Einstellungen führender Leute eine gewisse Rolle gespielt haben. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld etwa hat schon vor seiner Berufung in die Bush-Regierung dem gerade gewählten Präsidenten geraten, statt einer Außenpolitik des reflexive pull-back, des reflexartigen Zurückziehens, eine Politik des forward leaning, also eine offensive Politik, zu verfolgen.20 Und der Präsident selbst dachte ähnlich. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse betrachtete er für die Definition dessen, was zu tun sei, stets als unerheblich. Und die Analysen und Berichte der Geheimdienste wurden von der Bush-Regierung nicht nur ignoriert, sondern bewusst verzerrt wiedergegeben. Es war absolut die gleiche Methode wie im Fall Vietnam. Doch im Fall Irak war entscheidend, dass die Regierung schon vor ihrem Amtsantritt zu einer aggressiveren Außenpolitik entschlossen war.21
Was dann folgte, war absolut vorhersehbar: Die detaillierten Berichte vieler Irak-Experten wie Scott Ritter, die sich mit den Waffenprogrammen wie in der Politik des Landes auskannten, wurden schlicht verworfen. Stattdessen setzte man auf suspekte Informationen, wie zum Beispiel die höchst bizarren und unzuverlässigen Berichte, die von einem Informanten mit dem Decknamen „Curveball“ fabriziert wurden. Dabei handelte es sich um einen Iraker, den der deutsche Bundesnachrichtendienst als völlig unglaubwürdig einschätzte. Und auch die CIA warnte, einige dieser Informanten könnten Schwindler sein.22
Die Bush-Regierung ignorierte aber auch alle Warnungen, die sich auf das zu erwartende politische Chaos in einem Irak nach Saddam und auf die Gefahr eines Bürgerkriegs bezogen. In den Augen der Öffentlichkeit ist die CIA die Hauptquelle all der haarsträubenden Lügen, mit denen die Bush-Regierung ihren Kriegskurs rechtfertigte.23 Die Bush-Regierung verhielt sich so gesehen nicht anders als ihre Vorgänger: Um den Kongress und die Öffentlichkeit herumzukriegen, erzählt man allen, was sie hören wollen. Aber das geht nur für eine begrenzte Zeit gut.
Am 14. Dezember 2005 erklärte Präsident Bush erstmals, dass „sich ein Großteil der nachrichtendienstlichen Informationen als falsch erwiesen haben“. Bush erzählte immer wieder das Märchen von dem Bestreben der USA, an der Stelle einer brutalen Diktatur „einen freien und demokratischen Irak“ aufzubauen, aber in seiner Regierung gibt es kaum jemanden, der das für möglich hält. Heute ist Bush nur noch darauf aus, sich und seine Partei vor den Folgen einer politisch und militärisch katastrophalen Fehlentscheidung zu schützen. Und wieder bleibt dabei die Wahrheit auf der Strecke.
Hochtechnologische Niederlagen
In den 1960er-Jahren herrschte im Pentagon ein unkritischer Glaube an die eigene technologische Überlegenheit, an unbegrenzte Mobilität und unbeschränkte Lufthoheit. Dieser Glaube ist typisch für das US-Militär und wird von den Waffenproduzenten ständig weiter bestärkt. In Washington glaubte man, die eigenen sozialen und politischen Probleme würden hinfällig, sobald der äußere Feind vernichtet sei. Auch heute noch glaubt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, das US-Militär verfüge über die technologischen Mittel, um alle Gegner „in Angst und Schrecken zu versetzen“ (die berühmte „Shock and awe“-Doktrin). Doch wie in Vietnam hat sich auch im Irak die Militärtechnologie als höchst anfällig erwiesen, und die logistischen Probleme bereiten noch größere Kopfschmerzen als in Vietnam. Gerade weil die heutige Militärtechnologie unendlich viel komplizierter ist, versagt sie im Irak nur noch rascher. Zudem erweist sich, dass wichtige und ganz nahe liegende Probleme – zum Beispiel der riesige Wassermangel – nur mit überraschend großem Verzug und sehr viel Geld zu bewältigen sind.24
Der Vietnamkrieg wie der Irakkrieg waren außerordentlich kostspielig. Das lag zum Teil daran, dass die USA auf die neueste Technologie und massive Feuerkraft setzten und auf unfähige und korrupte Bündnispartner vor Ort angewiesen waren. Der Vietnamkrieg war weitaus teurer als geplant und dauerte auch viel länger als vorgesehen. Um ihn zu finanzieren, musste Präsident Johnson einen Großteil seiner innenpolitischen Programme zusammenstreichen. Der Krieg trug auch maßgeblich zur Schwächung des Dollars bei, was am Ende zur Abkehr der USA vom Goldstandard führte.25 Der aktuelle Irakkrieg hingegen fällt in eine Zeit, in der ein erhebliches Handelsbilanz- und Haushaltsdefizit mit einer Dollarschwäche zusammentreffen. Bis zum Herbst 2005 hat dieser Krieg bereits mindestens 225 Milliarden Dollar gekostet. Damit wird er voraussichtlich zum teuersten Krieg der US-Geschichte werden.26
Beide Kriege erforderten stark dezentralisierte Militäroperationen, weshalb ständig mehr Truppen gebraucht wurden, obwohl sie dem Feind an Feuerkraft hoch überlegen waren. Als in Vietnam die Zahl der Soldaten auf eine halbe Million anstieg, verlor der Präsident den Rückhalt bei den Wählern und verzichtete auf eine weitere Kandidatur.
Im Fall des Irakkriegs haben die US-Bürger viel schneller opponiert, und inzwischen dürfte es sogar eine klare Mehrheit gegen den Krieg geben. Ende 2005 lehnten fast zwei Drittel der Amerikaner die Irakpolitik des Präsidenten ab, 58 Prozent glaubten, dass er keine guten Gründe für das Verbleiben der US-Truppen vorgebracht habe. Und 57 Prozent der Befragten waren der Meinung, Bush habe sie bewusst hinters Licht geführt, um eine Rechtfertigung für den Irakkrieg zu finden.27
Aber viel wichtiger als die militärischen Kräfteverhältnisse sind die Entwicklungen auf politischem, gesellschaftlichem und ökonomischem Gebiet. Das galt für Vietnam im Jahre 1975, und es gilt auch für den heutigen Irak. Ein Krieg ist letzten Endes nur auf politischer Ebene zu gewinnen. Die Regierungen in Washington wollen es nie hören, wenn die Experten sie an die Grenzen der militärischen Macht erinnern. Die Bereitschaft des Präsidenten, die politischen Verhältnisse vor Ort zu ignorieren und auf Waffengewalt zu setzen, ist eines der vorrangigen Probleme, ganz egal wie lange die Auseinandersetzung dauert.
Im Fall Vietnam wie im Fall Irak wurde die Öffentlichkeit mit Hilfe von Falschinformationen mobilisiert, und am Ende glaubten die Menschen von dem, was sie aus Washington zu hören bekamen, überhaupt nichts mehr. Während des Vietnamkriegs wurden so viele Lügen aufgetischt, dass am Ende wichtige Entscheidungsträger selbst nicht mehr imstande waren, Realität und Fiktion auseinander zu halten.
Glaubwürdigkeit verspielt
Viele führende Politiker glaubten in den 1960er-Jahren tatsächlich an die „Dominotheorie“, wonach bei einem Sieg der Kommunisten in Vietnam die Chinesen ganz Südostasien dominieren würden. Dass im Irakkrieg mit der Behauptung gearbeitet wurde, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen und unterhalte Verbindungen zu al-Qaida, hat die Glaubwürdigkeit aller weiteren Aussagen unterminiert.
Drei Jahre nach Beginn des Krieges stehen 160 000 US-Soldaten im Irak; das sind weitaus mehr, als Bush vorausgesagt hatte. Aber wie in Vietnam ist auch bei diesen Truppen die Moral schlecht und weiter am Sinken. Doch angesichts des starken Widerstands wird eine erhebliche Anzahl von US-Truppen noch eine ganze Weile im Irak bleiben.
Präsident Nixon hatte in Vietnam versucht, die Lasten des Kriegführens der riesigen Armee des Thieu-Regimes aufzubürden. Aber diese Armee mit ihren demoralisierten Soldaten, die dem Kommando katholischer Offiziere unterstanden, sollte im Grunde nur das Regime Thieu an der Macht halten.
Im Irak wurde die alte Armee zunächst aufgelöst, wird aber mittlerweile zum Teil und mit Hilfe von sunnitischen Offizieren des Hussein-Regimes wieder aufgebaut. Diese wohl aus Verzweiflung geborene Entscheidung bedeutet eine Kehrtwende. Die Vorstellung, dass eine solche Armee sich auf die erklärten Ziele der USA verpflichten lassen könne, ist eine fantastische Illusion. In Vietnam standen die Buddhisten gegen die katholische Minderheit, aus der die USA die einheimische Führung rekrutierten. Ganz ähnlich ist der Irak ein nach ethnischen und religiösen Kriterien geteiltes Land. Damit steht Washington vor der undankbaren Wahl zwischen der Gefahr einer Dauerrebellion, die umso wahrscheinlicher wird, je weniger US-Soldaten im Lande bleiben, und der Gefahr eines Bürgerkriegs für den Fall, dass man die Iraker bewaffnet.
Die Wahlen dürften diese Differenzen nur noch vertieft haben. Die Schiiten machen drei Fünftel der irakischen Bevölkerung aus, ihre Führer haben ihre eigene politische Agenda, und wenn sie die Armee oder die Regierung übernehmen, werden damit zugleich der Einfluss und die Macht des Iran in der Region verstärkt. Obwohl viele Experten vor einer solchen Entwicklung gewarnt hatten, war sich die Bush-Regierung über die Komplexität der politischen Probleme, die im Irak auf sie zukommen, in keiner Weise im Klaren. Dabei hätte sie spätestens in Afghanistan erkennen müssen, dass militärische Erfolge letztlich von einer politischen Lösung abhängen – und nicht umgekehrt.
Im Irak hat Washington wie einst in Vietnam unterschätzt, wie lange die Truppen im Lande bleiben müssen; außerdem hat man sich fatale Illusionen über die Stärke der Verbündeten gemacht. Über die Größe und Kampfkraft der irakischen Armee gibt es zwar unterschiedliche Einschätzungen, in jedem Fall aber müssen die USA verhindern, dass die Schiiten, die ja die meisten Rekruten stellen – und von denen viele proiranisch orientiert sind – noch stärker werden. Die Gegenstrategie, nämlich die Wiedereingliederung sunnitischer Offiziere, die für Saddam Hussein gearbeitet haben, wäre eine völlige Abkehr von der bisherigen Politik und gliche einem Verzweiflungsakt.
Die Bemühungen der Bush-Regierung im Irak haben keine größeren Erfolgschancen als die US-Politik in Vietnam. Auch Vietnam war eine nach Religionszugehörigkeit geteilte Nation, aber der Irak ist zerrissener, und entsprechend größer ist die Möglichkeit eines Bürgerkriegs. In Vietnam kamen die Kommunisten an die Macht; im Irak hingegen könnte die US-Intervention viel eher in einem Chaos enden.
In einem vertraulichen Memorandum vom Oktober 2003 hat Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eingeräumt, dass „wir kein Mittel besitzen, um herauszufinden, ob wir den globalen Krieg gegen den Terror gewinnen oder verlieren“28 .
Das zeigt im Grunde, dass sich wichtige Mitglieder der Bush-Regierung über das eigene Tun nicht mehr so sicher sind wie noch zu Beginn des Krieges. Doch ähnlich wie im Fall Vietnam ist es im Irak bereits zu spät, um das Steuer herumzuwerfen. Zumal jetzt die Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Militärmacht auf dem Spiel steht.
Auf lange Sicht hat die Innenpolitik mehr Gewicht als alles andere. Das haben wir beim Vietnamkrieg gesehen, und höchstwahrscheinlich wird es auch beim Irakkrieg so sein. 1968 gerieten die Demokraten in den Meinungsumfragen erstmals in Rückstand. Präsident Johnson wurde durch die Tet-Offensive vom Februar völlig überrascht, weil er und seine Generäle den CIA-Angaben, nach denen die kommunistischen Kräfte auf 600 000 Mann geschätzt wurden, keinen Glauben geschenkt hatten. Daraufhin verzichte Johnson auf eine erneute Präsidentschaftskandidatur. Und Richard Nixon konnte die Wahlen im November 1968 gewinnen, weil er dem kriegsmüden Wählervolk einen ehrenvollen Frieden versprochen hatte. Der ließ allerdings noch weitere sieben Jahre auf sich warten.
Im Oktober 2003 hat Präsident Bush kategorisch erklärt, das die Amerikaner nicht so schnell aus dem Irak abziehen würden. Doch in dem Maße, in dem die eigenen Verluste steigen und die Umfragewerte weiter absinken, wird die letzte Entscheidung wahrscheinlich von seiner Partei und seinen politischen Beratern getroffen werden. Der Fall Vietnam hat gezeigt, dass Wähler nur begrenzt Geduld aufbringen.