11.10.2013

Der Sound der Städte

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Der Sound der Städte

Akustikdesigner erfinden Geräusche für den öffentlichen Raum von Juliette Volcler

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Es nennt sich Audiobranding, Umgebungsdesign oder Audiomarketing und dient dem Zweck, Bereiche, die normalerweise still oder einfach nur laut wären, mit den unterschiedlichsten Tönen zu untermalen. In den Städten sollen die so erzeugten Klänge anlocken oder abweisen, informieren oder animieren. Noch dominieren in der akustischen Stadtlandschaft allerdings Geräusche, die Klangexperten als „ambient drone“ der Maschinen bezeichnen, wie etwa das permanente Brummen von Heizungs- oder Klimaanlagen und natürlich der Verkehrslärm. Der kanadische Komponist Murray Schafer prägte dafür einst den Begriff „Lärmverschmutzung“.1

Die ersten Labore für Akustik und Sounddesign gab es bezeichnenderweise in der Automobilindustrie. Einige Hersteller arbeiten schon seit den 1950er Jahren daran, dass die Wagentüren beim Zuziehen einen satten, beruhigenden Klang von sich geben.2 Führend auf diesem Gebiet ist der Autobauer Audi, der 2010 in einer aufwändigen PR-Kampagne sein neues Corporate-Sound-Konzept vorstellte. Vom Geräusch beim Schließen des Handschuhfachs bis hin zur Musik und den Stimmen in den Werbeclips soll die Marke stets an ihrem Klang erkennbar sein.

Da moderne Motoren fast lautlos laufen, richtet die Autoindustrie ihr Augenmerk inzwischen weniger auf den Lärm als auf die Stille. Damit kehrt das Transportwesen gewissermaßen zu seinen Anfängen zurück. Im 19. Jahrhundert wurde aus Sorge um die Verkehrssicherheit jedes Transportmittel mit einem speziellen Geräusch ausgestattet: Glöckchen am Hals für die Kutschpferde, Hupe oder Horn für die Straßenbahnen, Schellen und später obligatorische Hupen für die Automobile.3

In den Niederlanden hat die Schnellimbisskette Domino’s bereits einen „safe sound“ für die geräuschlosen Elektroscooter ihrer Pizzaboten entwickelt: Eine menschliche Stimme imitiert nicht nur das Brummen eines Verbrennungsmotors, sondern ruft auch alle paar Sekunden: „Domino’s!“ Die Passanten mögen das lächerlich finden, doch das Unternehmen sorgt unter dem Vorwand der Sicherheit dafür, dass es mit einer bestimmten Klangsignatur im öffentlichen Raum ständig präsent ist.

Schon in den 1990er Jahren wollte die US-Firma Harley Davidson das charakteristische Auspuffdröhnen ihrer legendären Motorräder unter Copyright stellen und strengte einen letztlich erfolglosen Prozess gegen ihren japanischen Konkurrenten Honda an, der es gewagt hatte, diesen Sound zu imitieren.4 Es war der erste Versuch, sich ein Geräusch als „energetisches Nebenprodukt“ patentieren zu lassen.

Hier sind noch einige juristische Auseinandersetzungen zu erwarten: Sind zum Beispiel die Autogeräusche, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, Eigentum der Hersteller? Wird der öffentliche Raum neben der visuellen Werbung demnächst auch noch von tausenden „Geräuschlogos“ überschwemmt? Die ersten diesbezüglichen Richtlinien des US-Verkehrsministeriums enthalten jedenfalls keinerlei Verpflichtung, zwischen Information und Werbung klar zu unterscheiden.5

Corinne Fillol, bei den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) für den Bereich Akustik zuständig, plädiert für einen maßvollen Umgang mit Tönen. Ihr schwebt eine Art „Geräuschgrammatik“ für den öffentlichen Raum vor, in der bestimmte Klänge ausschließlich für die Sicherheit eingesetzt werden sollten. „Bei der RATP hat sich der Stellenwert der Akustik in den letzten zehn Jahren völlig verändert“, erzählt sie. „Aus dem Ziel, die Geräuschbelastung zu verringern, ist die Arbeit mit den Geräuschen geworden.“ Mit anderen Worten: Die Verkehrsströme steuern, indem man dem Gehör der Fahrgäste schmeichelt.

Die Pariser Verkehrsbetriebe haben verschiedene Soundinstallationen ausprobiert: Im gigantischen Umsteigebahnhof Châtelet – Les Halles soll „eine maßgeschneiderte Geräuschuntermalung“ den Fußgängern beim Marsch durch die Gänge Beine machen, in der Metrostation Opéra stimmen Applaus und zarte Melodien, die aus Lautsprechern entlang des Laufbands dringen, auf die Pariser Oper ein, und an den Stationen der Linie 1 wird mit Grillenzirpen vor dem Abstand zwischen Zug und Bahnsteigkante gewarnt.

Zikadentöne in der Metro

„Vor fünfzehn Jahren gab es in manchen Metrostationen tatsächlich noch Grillen. Indem wir in Bodennähe ein Zirpen ertönen lassen, sorgen wir dafür, dass die Fahrgäste den Blick nach unten richten. Mit solchen Überraschungseffekten, die an unser akustisches Gedächtnis anknüpfen, verbinden wir emotionale und funktionale Aspekte“, erklärt der Akustikdesigner Song Phanekham die Hintergründe seiner Sound-Installation.

Ihr erstes Akustikdesign hat die Pariser Metro bereits Mitte der 1990er Jahre in Auftrag gegeben. Damals sollte der neue Navigo-Pass (die elektronische Wochen- beziehungsweise Monatskarte) eine eigene Erkennungsmelodie bekommen. Bei der Entwicklung der drei verschiedenen Tonfolgen (für gültig, abgelaufen und den letzten Gültigkeitstag) wirkten ein Komponist, eine Psychosoziologin und ein Tontechniker mit.6

Anfänglich wurden Klanginstallationen im Verkehr nur für Blinde und Sehbehinderte konzipiert. Heute werden sie für alle gemacht. Insbesondere für die Straßenbahnen gibt es die raffiniertesten Ideen. Für Brest ließ sich der Akustikdesigner Michel Redolfi etwas ganz Besonderes einfallen: Begleitet von elegischen Klängen, sagt bei Flut eine Frauenstimme und bei Ebbe eine Männerstimme die Haltestellen an.

Immer häufiger polieren die Städte ihr Image mithilfe von künstlichen Klangbildern auf. So engagierte Paris den für seine Raum- und Sound-Installationen bekannten Künstler Christian Boltanski. Er ließ im Montsouris-Park unter zehn Bänken kleine Lautsprecher anbringen, aus denen in verschiedenen Sprachen geflüsterte Liebesbotschaften dringen.7 Die Stadt wird zur Kulisse, zum Ort des organisierten Flanierens und zu einem Raum, der zumindest oberflächlich von den sozialen Konflikten bereinigt zu sein scheint, die Städte kennzeichnen und verändern.

Längst haben auch die Trendsetter des Audiodesigns den öffentlichen Raum entdeckt. In einer ziemlich gut kaschierten Marketingaktion für seine Elektroautos ließ der VW-Konzern in einem Stockholmer U-Bahn-Aufgang für einen Tag die Stufen neben der Rolltreppe in eine klingende Tastatur verwandeln. Das gesundheitsfördernde und stromsparende Treppenlaufen machte den Leuten sichtlich Spaß, und sie ließen die Rolltreppe links liegen.8 „Wir nennen das Fun-Theorie“, erklärt der Konzern, „denn wir glauben, dass sich das Verhalten der Menschen durch Spaß leichter zum Besseren verändern lässt.“ Man sollte es vielmehr Fun-Behaviorismus nennen. Schließlich soll die spaßige Aktion den Reflex hervorrufen, sich für Elektroautos von VW zu interessieren.

Die Pianotreppe von VW kann als Weiterentwicklung der Hintergrundmusik gelten, die die New Yorker Muzak Corporation, der weltweit größte Anbieter „funktioneller Musik“, schon in den 1930er Jahren erfunden hat. Dieser werbefreie Klangteppich diente weniger der Unterhaltung, sondern hatte zunächst in Fabriken und Büros die Funktion, die Arbeitsgeräusche zu übertönen und die Produktivität zu steigern: anregend, wenn die Energie der Beschäftigten nachließ, oder beruhigend, wenn Disziplinlosigkeit drohte. „Stimulus-Progression“ nannte Muzak sein Klangkonzept, das noch heute in Geschäften und Restaurants zum Einsatz kommt – als Kaufhausmusik soll es die Kunden einlullen und zum Verweilen einladen und als Hintergrundmusik in Fast-Food-Restaurants dafür sorgen, dass der Gast schneller isst, um Platz für den Nächsten zu machen.

Verhalten durch Klänge zu steuern, ist aber gar nicht so einfach. Weder ziehen sich Jugendliche automatisch zurück, wenn sie mit klassischer Musik beschallt werden, noch schrecken Senioren vor Techno zurück, wenn sie in einem Konsumtempel für junge Zielgruppen einkaufen möchten. In den USA und Großbritannien greift die Fast-Food-Kette McDonald’s allerdings zu einem akustischen Mittel, das garantiert funktioniert: Drinnen laufen die Hits aus den Charts, während vor der Tür die schrille Frequenz von Moskitos ertönt, eine nur für junge Leute bis 25 hörbare Abschreckung9 , die eine klare Botschaft transportiert: Konsumiert, aber lungert hier nicht rum.

Fußnoten: 1 Siehe Murray Schafer, „The Tuning of the World“, New York (Knopf) 1977. 2 Vgl. Vance Packard, „Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unterbewussten in jedermann“, Düsseldorf (Econ) 1957 und 1992. 3 Sabine Barles, „Histoire de l’environnement urbain, bruits et sons: quelques réflexions“, in Journée de réflexion épistémologique, 18. Juni 2008, Forschungsgruppe 2493 „Bruit des transports“ am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Oktober 2008: www.gdr2493.cnrs-mrs.fr. 4 John O’Dell, „Harley-Davidson Quits Trying to Hog Sound“, Los Angeles Times, 21. Juni 2000. 5 „Minimum sound requirements for hybrid and electric vehicles. Draft environmental assessment. Docket Number NHTSA-2011-0100“, National Highway Traffic Safety Administration, Washington, D.C., Januar 2013. 6 Andrea Bergala, „L’Empire des sons“, Arte France, System TV, 2005. 7 Nicht unbedingt für Parkbankleser geeignet: Boltanskis „Murmures“: vimeo.com/23978431. 8 Die Pianotreppe, zum Hören und Sehen: www.youtube.com/watch?v=2lXh2n0aPyw. Siehe auch www.thefuntheory.com. 9 „Maidstone McDonald’s criticised for Mosquito device“, BBC, 20. Juli 2011. Im Alter verliert das menschliche Gehör die Fähigkeit, sehr hohe Töne wahrzunehmen. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Juliette Volcler ist Journalistin und Produzentin für freie Rundfunksender in Paris.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2013, von Juliette Volcler