Vormarsch ohne Deckung
Mit ihrer überstürzten Forderung nach einer Bestrafung Assads hat sich die französische Diplomatie ins Abseits manövriert von Olivier Zajec
Die „Opération Serval“, der Militäreinsatz in Mali im Januar 2013, wurde von der französischen Diplomatie als militärisch durchschlagend und politisch befriedigend dargestellt. Im Gegensatz dazu ist die Politik Frankreichs in der blutigen Affäre des syrischen Bürgerkriegs bereits jetzt komplett gescheitert.
Nachdem Paris als Exponent einer harten Linie vorgeprescht war, wurde es von seinen Verbündeten im Stich gelassen. Diese Demütigung sitzt tief und wird Spuren hinterlassen. Das können auch die ungeschickten Prahlereien, mit denen Frankreich seinen Rückzug kaschieren wollte, nicht überdecken. Die Behauptung, man habe „Moskau in die Knie gezwungen“ und die USA „mitgenommen“, halten einer genauen Analyse nicht stand. Außerhalb von Frankreich werden die Dinge viel klarer gesehen: In den Regierungsetagen und in der ausländischen Presse kommentierte man die französischen Selbstzufriedenheit eher mit Mitleid und Schadenfreude.
Der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin am 9. September vorgeschlagene Ausweg zur Lösung der syrischen Krise sieht die „Sicherung“ der 1 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe in Syrien unter Aufsicht der UNO vor. Dieser Plan wurde inzwischen in Form der UN-Resolution S/2013/575 vom Sicherheitsrat in New York am 27. September verabschiedet.
Ganz ohne Zweifel haben die Russen das Thema bereits auf dem G-20-Gipfel am 5. und 6. September in Sankt Petersburg mit den USA diskutiert. Diese informelle Absprache unter den „Großen“ – wobei das Wort hier eher für diplomatische Reife als für Machtfülle steht – kam zustande, ohne das Frankreich auch nur konsultiert worden wäre. Und das, obwohl sich Paris nach dem Ausfall Londons erkennbar um die Rolle des ersten Offiziers bemüht hatte.
Mit seiner Initiative hat Moskau im Grunde US-Präsident Barack Obama einen Ausweg eröffnet. Denn der war zwar grundsätzlich einer Intervention erkennbar abgeneigt, hatte sich aber in eine Zwickmühle manövriert, als er im Hinblick auf den Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg von einer „roten Linie“ gesprochen hatte. Es war dann ein Verdienst von Außenminister John Kerry und seiner klaren Sprache, dass Washington wieder zu einer konsistenten Position zurückfand, die eine Verständigung mit Putin möglich machte. Seit dem 20. September bemühten sich Kerry und sein russischer Kollege Sergei Lawrow in Genf um eine bilaterale Einigung über Konditionen einer internationalen Syrienkonferenz („Genf II“).
Wladimir Putin behielt die ganze Zeit über das Heft in der Hand. Er bewahrte sich seine Handlungsfreiheit, indem er seinen Verhandlungspartnern die von ihm selbst gesetzten Themen aufzwang, wobei sein Einfluss auf das Assad-Regime nur noch weiter anwuchs. Putins sehr effektives, weil sehr simples Argument war in folgende Fragen verpackt: Können gezielte und zeitlich begrenzte Militärschläge dem syrischen Volk helfen? Ist der Einsatz von Gewalt dem Ziel einer internationalen Friedenskonferenz förderlich? Warum bekämpft man weltweit den Dschihadismus, während man ihm in Syrien unter die Arme greift?
In diesem zynischen Spiel der Realpolitik über drei Banden kam Putin dem US-Präsidenten zu Hilfe, indem er ihn von einer Operation abhielt, vor der dieser selbst Angst hatte. Die Franzosen hingegen, die bereits den Schützengraben verlassen und hektisch zum Angriff geblasen hatten, stürmten unter dem Banner der Tugend auf die feindlichen Linien zu, ohne sich einer ausreichenden Deckung vergewissert zu haben.
Für alle Franzosen, egal welcher politischen Couleur, muss es eine Qual gewesen sein, mitanzusehen, wie sich Präsident Hollande auf dem G-20-Gipfel in Sankt Petersburg isolierte und wie hilflos die französische Politik den Ränkespielen Washingtons und den Machenschaften im US-Kongress ausgeliefert war. Der Präsident und sein Außenminister haben es mit ihrer „Tour de Force“ geschafft, nicht nur Washington gegen sich aufzubringen und London vor den Kopf zu stoßen, sondern auch dafür zu sorgen, dass man in Berlin die Augen verdrehte, in Beirut in Verzweiflung verfiel und in Brüssel vielstimmig aufstöhnte, während die Schachspieler in Moskau nur amüsiert waren.
Um das Bild zu vervollständigen, sei noch der vielsagende Appell an den französischen Einmischungsreflex erwähnt, zu dem sich der rechte UMP-Abgeordnete Frédéric Lefebvre verstieg. Der Repräsentant der Auslandsfranzosen in der Nationalversammlung schlug eine argumentative Brücke zwischen der abenteuerlichen Libyenpolitik von Sarkozy und der leichtsinnigen Syrienpolitik von Hollande, wobei er freilich eine geografische Selektion der Empörung vornahm: Die Palästinafrage und Dutzende anderer völkerrechtlicher Skandale fehlten auf seiner Liste von Konfliktherden, bei denen es ein „zweites München“ zu verhindern gelte. All dies bedeutet für Frankreich, dass das mit dem Mali-Einsatz erlangte Ansehen gelitten hat und dass das positive Image, das auf die Weigerung einer Beteiligung an der Irak-Invasion von 2003 zurückgeht, plötzlich beschädigt erscheint. Sein früheres Prestige als ein Land mit einer unabhängigen und klarsichtigen Außenpolitik hat Frankreich jedenfalls verspielt.
Präsident Hollande, der am 19. September nach Bamako reiste, um die Früchte des Siegs zu ernten, wird die Demütigung von Sankt Petersburg wohl nur schwer vergessen. Darüber kann sich niemand freuen. Das gilt auch für die Rede Hollandes auf dem G-20-Gipfel, die den Schluss zuließ, dass Frankreich nunmehr offiziell Waffen an die syrischen Aufständischen liefert. Wobei der Präsident von Lieferungen „in einem kontrollierten Rahmen“ sprach, um zu verhindern, dass die Waffen in die Hände von Dschihadisten gelangen statt bei der Freien Syrischen Armee (FSA).
Putin als Taktgeber
Doch dieser fromme Wunsch ist wie eine Gleichung mit drei Unbekannten: Was „kontrolliert“ bedeuten soll, ist hier ebenso unklar wie die genaue Identität der „Dschihadisten“ und der FSA. Wie durchlässig ist die organisatorische Grenzlinie zwischen der FSA und Gruppen mit „deutlicheren islamistischen Tendenzen“ wie der Ahrar asch-Scham, der Al-Tauhid-Brigade oder der noch radikaleren Al-Nusra-Front?1 Mit der Entscheidung, Waffen zu liefern – mit der Rechtfertigung, dass „die Russen das regelmäßig tun“ –, gießt Frankreich zusätzlich Öl ins Feuer. Sie könnte das Schlachten in Syrien verlängern und es Assad noch leichter machen, die Einmischung des Auslands zu verurteilen. Alles in allem handelt es sich um ein Glücksspiel, dessen Ausgang nicht abzusehen ist und das dem erklärten Willen aller Parteien, den Konflikt politisch zu lösen, entschieden zuwiderläuft.
Wie konnte es so weit kommen? Liegt es an einer „Diplomatie der öffentlichen Meinung“, wie Bernard-Henry Lévy meint,2 die an die Appeasement-Gefühle einer Öffentlichkeit appelliert, die – natürlich mangels Hirnsubstanz – den Ernst der Lage in Syrien nicht erkennt? Diese steile These kann, wie zumeist bei diesem Autor, eine nüchterne diplomatische und geopolitische Analyse nicht ersetzen.
Das französische Versagen in der Syrienkrise resultiert vor allem aus einer einseitigen Bewertung der regionalen Gesamtsituation und ihrer Folgen. Seit Monaten konsultiert das Außenministerium diverse Experten. Manche von ihnen sind wirkliche Kenner der Region und betonen deshalb stets die Komplexität der Situation in Syrien. Sie haben eindringlich darauf hingewiesen, dass ein Teil der syrischen Bevölkerung mangels Alternativen das Assad-Regime weiterhin unterstützt. Unter anderem, weil sie ein „neues“ Syrien ablehnen, das am Ende den sektiererischen Extremisten ausgeliefert wäre – und den Manipulationen durch die regionalen Mächte, die als indirekte Sponsoren eines Obskurantismus bekannt sind, der die arabischen Länder zur Stagnation verurteilt. Diese Menschen, die noch nie etwas vom Münchner Abkommen gehört haben, haben die bange Vorahnung, dass die Zeit nach Assad – zumindest aus heutiger Sicht – ihnen nur wenig Sicherheit bieten wird.
Angesichts so vieler widersprüchlicher Gerüchte lässt sich zumindest eines festhalten: Ein Teil der syrischen Bevölkerung unterstützt gezwungenermaßen ein Regime, das es eigentlich ablehnt. Die Iraker haben Saddam Hussein fallen lassen, die Libyer haben Gaddafi verlassen, und die Ägypter haben Husni Mubarak gestürzt. In jedem dieser Fälle fanden sie zu einheitlichem Handeln, obwohl es berechtigte Zweifel gab, ob die neue Regierung aufrichtiger und gerechter sein würde als ihre Vorgänger.
Dass in Syrien derzeit keine der beiden Seiten zu siegen vermag, liegt nicht allein an der militärischen Überlegenheit des Regimes, sondern auch an der Loyalität eines großen Teils resignierender Syrer, die trotz der Brutalität, dem Nepotismus der Clans und dem verkrusteten Sicherheitsapparat nicht von Assad abfallen. Welche Hoffnung bleibt den Syrern in Latakia, einer Hochburg der Alawiten3 , oder im christlichen Maalula und in den kurdischen Gebieten angesichts einer alawitischen Skylla, die sich weit von den Idealen Michel Aflaqs4 entfernt hat, und einer säbelschwingenden Charybdis, die eine uneingeschränkte Herrschaft der Scharia anstrebt und religiöse Minderheiten unterdrücken will? Jede Analyse des syrischen Dramas muss eine Antwort auf diese entscheidende Frage suchen.
Ein Teil der syrischen Aufständischen ist angesichts des Einflusses der Extremisten verzweifelt. Zumal es die radikalen Kräfte sind, die in diesem Krieg die raschesten Erfolge erzielt haben. Viele Experten – die allerdings selten in die Fernsehtalkshows eingeladen werden – haben ihre offiziellen Gesprächspartner in Paris vorsichtig auf diese unleugbaren Fakten hingewiesen, die übereilte moralische Urteile erschweren.
Offenbar vergebens, wie die vorübergehende Interventionswut der Regierung zeigt. Es ist diese vorschnelle Begeisterung der Diplomatie und der Medien, die im Kontext der syrischen Krise ein zweites beunruhigendes Element darstellt. Nach dem 11. September 2001 hat Frankreich den Cowboy-Jargon der Amerikaner ausgiebig verspottet. Zu Recht, wie man heute zweifellos sagen muss. Man erinnert sich noch gut an die Aussage des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush: „Entweder ihr seid mit uns, oder ihr seid gegen uns.“ Es war der Tiefpunkt der neokonservativen Diplomatie. Im Fall Syrien stellt sich dann aber die Frage, warum Paris es als notwendig erachtete, mit großem Getöse die „Bestrafung“ Assads zu fordern? Der Politikwissenschaftler Bertrand Badie bedauert, dass im Fall Syrien „alles Mögliche“ vermischt wurde: etwa die Schutzverantwortung für die syrische Bevölkerung (der Konflikt hat in zweieinhalb Jahren über 100 000 Menschenleben gekostet) und der Wille, das Regime von Baschar al-Assad zu bestrafen. „Aber schützen und bestrafen sind zwei ganz verschiedene Dinge.“
Die Empörung ist verständlich. Der grauenhafte Chemiewaffenangriff vom 21. August in der Ghuta-Ebene kann niemanden kaltlassen, aber er sollte nicht dazu führen, dass bei unseren Regierenden das nüchterne Urteilsvermögens auf der Strecke bleibt. Syrien bildet heute den Rahmen für einen Bürgerkrieg, in dem per definitionem der Mensch zum Tier wird, wie uns Corneille klarmacht, wenn er den Bürgerkrieg als „Herrschaft des Verbrechens“ bezeichnet. Keine der beiden Konfliktparteien kann sich über die andere erheben; in Wahrheit ist keine Seite „moralischer“ als die andere. Um weitere Massaker zu verhindern, ist es dringend notwendig, die existierenden Frontlinien politisch und militärisch zu stabilisieren.
Russland liefert Waffen an das syrische Regime. Einige Golfstaaten versorgen verschiedene Gruppen der Opposition nach Maßgabe des Nutzens für ihre eigenen geopolitischen Ziele. Aus dem Bürgerkrieg ist ein regionaler Konflikt geworden, in dem die Türkei, Saudi-Arabien und der Iran zunehmend antagonistische Positionen beziehen. Damit verwandelt sich eine der ältesten Kulturregionen der Welt in ein abgeschottetes Gebiet, über dessen Schicksal anderswo entschieden wird.
Angesichts dessen hätte die französische Außenpolitik in Washington wie in Moskau auf einen anderen Kurs drängen sollen, der auf Diplomatie und Vermittlung setzt. Auch ein solcher Ansatz wäre gewiss nicht perfekt und sicher unvollständig gewesen, hätte aber immerhin einige Unbekannte in der Gleichung berücksichtigt.
Doch Paris hat genau das Gegenteil erreicht: Frankreich ist zu einem zusätzlichen Destabilisierungsfaktor im syrischen Malstrom geworden und daher außerstande, die verzweifelt notwendige und unentbehrliche Rolle des Schiedsrichters zu spielen. Dagegen wird Deutschland dank seiner kühlen und besonnenen Art die Europäer am besten repräsentieren können, wenn es in ein paar Monaten darum geht, sich mit den verfeindeten syrischen Fraktionen unter der strengen Aufsicht der USA und Russlands an den Verhandlungstisch zu setzen. Wobei eine Beteiligung des Irans dazu beitragen könnte, eine drohende Blockade zu überwinden.
Immerhin hat Hollande einen ersten korrigierenden Schritt gemacht, als er sich am 24. September am Rande der UN-Vollversammlung als erster westlicher Staatschef mit dem neuen iranischen Präsidenten Hassan Rohani getroffen und dabei auch über die Situation in Syrien gesprochen hat.5
Diese pragmatische Kehrtwende macht nachträglich deutlich, wie sehr sich Frankreich verrannt hat, als es in der Pose des selbst ernannten Rächers die „Bestrafung“ Assads forderte, noch bevor sich die UN-Inspekteure mit dem Drama in Ghuta befasst hatten. Es war einer der unverständlichsten Fehler, die Paris in letzter Zeit unterlaufen sind und die den Ruf der Professionalität und Besonnenheit aufs Spiel setzt, den die französische Diplomatie im Ausland zu Recht genießt. Das hat die öffentliche Meinung in Frankreich aufmerksam registriert, die im Übrigen auch noch nicht vergessen hat, wie Colin Powell am 5. Februar 2003 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Mär von den irakischen „Massenvernichtungswaffen“ verkaufen wollte.
Stimmen aus allen politischen Lagern in Frankreich haben dazu aufgerufen, wenn schon nicht zur Vernunft, zumindest zur Vorsicht zurückzukehren. So erklärte etwa Jean-Pierre Chevènement: „Es gab einmal das Recht. Heute haben wir das Recht durch die Moral ersetzt. Und von der Moral sind wir übergegangen zur Bestrafung.“ Das aber sei gefährlich, denn das „Recht auf Einmischung“ sei immer auch das Recht des Stärkeren: „Nie haben sich die Schwachen in die Angelegenheiten der Starken eingemischt.“
Machen wir einen Rückblick auf die Zeit vor dem Irakkrieg von 2003. Damals hat Frankreich, ohne die Verbrechen des irakischen Regimes zu leugnen, mit Weitsicht für eine vorsichtige Entschlossenheit plädiert, unter Respektierung der Rolle der Vereinten Nationen. Wenn man davon ausgeht, dass der Giftgaseinsatz durch das Assad-Regime dem erwiesenen Chemiewaffeneinsatz entspricht, den Saddam Hussein im Jahr 1988 gegen die irakischen Kurden befohlen hat, stellt sich die folgende Frage: Halten wir nach den Erfahrungen mit und nach der Irak-Invasion ein Bombardement Syriens für die richtige Antwort?
Präsident Obama, der täglich die Berichte seiner Geheimdienste über den wahren Zustand des Irak liest, nachdem Washington zwischen 2003 und 2013 Hunderte Milliarden Dollar in die demokratische Befriedung dieses Landes steckte, scheint dazu seine eigene Meinung zu haben. Sie wird den Pariser Herolden und Fürsprechern einer überstürzten Einmischung nicht schmecken. Gerade deshalb sollten wir annehmen, dass sie vernünftig ist.