Schutzwall mit Löchern
50 Jahre Atomwaffensperrvertrag von Olivier Zajec
Die Idee des Atomwaffensperrvertrags (Non-Proliferation Treaty, NPT) entstand in den 1950er-Jahren. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits drei Staaten mit Atomwaffen: die USA, die Sowjetunion und Großbritannien. Zwei weitere, Frankreich und China, betrieben ein intensives Entwicklungsprogramm, das 1960 respektive 1964 zum ersten erfolgreichen Atombombentest führte.
Als führende Macht bei der militärischen Nutzung der Atomenergie waren die Vereinigten Staaten an einer Beschränkung des atomaren Rüstungswettlaufs am stärksten interessiert. Schon seit Anfang der 1950er-Jahre arbeiteten sie auf ein „confinement“ hin, auf die Einschränkung der atomaren Kapazitäten anderer Staaten. Am 8. Dezember 1953 schlug Präsident Eisenhower der UN-Vollversammlung die Einrichtung einer Agentur vor, die den Gebrauch von nuklearem Material kontrollieren sollte.1
Dieser Plan hatte viele potenzielle Anhänger. Denn den anderen Nuklearmächten – und denen, die es werden wollten – war bald klar, dass es im Interesse des Weltfriedens wie ihrer eigenen Machtambitionen durchaus von Vorteil war, eine Institution zu haben, die ihren Status als Nuklearmacht offiziell absegnet und die „Demokratisierung“ der Bombe, sprich eine weltweite Proliferation (Verbreitung) verhindert. Dieses Vorhaben lag jedoch wegen der schlechten sowjetisch-amerikanischen Beziehungen mehrere Jahre lang auf Eis. Erst im Juli 1957 wurde nach stürmischen Debatten innerhalb der Vereinten Nationen die Gründung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEO) beschlossen.
Aufgabe der IAEO ist es nach Artikel 3 Absatz 5 der Satzung, „zu gewährleisten, dass besonderes spaltbares Material und andere Materialien, Dienstleitungen, Ausrüstungen, Einrichtungen und Informationen, die von der Behörde über ihr Ersuchen oder unter ihrer Aufsicht oder Kontrolle verfügbar gemacht werden, nicht für militärische Zwecke verwendet werden“. Im Gegenzug soll die IAEO nach Artikel 3 Absatz 1 „die Entwicklung und praktische Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke sowie die Forschung auf diesem Gebiet in der ganzen Welt fördern und unterstützen“.
Wie ersichtlich, sind die Prioritäten im Text des IAEO-Statuts genau umgedreht: In der damaligen Machtkonstellation leitete sich der erste Absatz aus dem fünften ab. Aus Absatz 5 ergab sich darüber hinaus eine wichtige Konsequenz: Ohne einen verpflichtenden Vertrag, dessen Einhaltung die IAEO überwachen konnte, war die Behörde nur ein belangloses technisches Komitee. Kein Wächter ohne Gesetz.
Ein solcher „Fahrplan“ mit gesetzlicher und universeller Gültigkeit war der Atomwaffensperrvertrag, genauer NPT, der am 1. Juli 1968 von 43 Staaten unterzeichnet wurde. Nach der Ratifizierung trat der Vertrag am 5. März 1970 für zunächst 25 Jahre in Kraft, bis heute wurde er von fast allen Staaten der Erde unterschrieben. Die Ausnahmen sind Indien, Pakistan und Israel. In seiner Präambel verweist der Vertrag auf das Ziel eines allgemeinen Zugangs zur zivilen Atomtechnik und skizziert – fast hat man es schon vergessen – das Idealbild einer atomwaffenfreien Welt.
Die Unterzeichnerstaaten versprechen, „die internationale Entspannung zu fördern und das Vertrauen zwischen den Staaten zu stärken, damit die Einstellung der Produktion von Atomwaffen, die Auflösung aller vorhandenen Vorräte an solchen Waffen und die Entfernung der Kernwaffen und ihrer Einsatzmittel aus den nationalen Waffenbeständen aufgrund eines Vertrags über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle erleichtert wird“. Liest man diesen Text, klingt Obamas Prager Rede über die „globale Null“ nicht mehr ganz so kühn. Er hätte auch aus dem Vertragstext zitieren können.2
Das größte Problem ist der Fall Israel
Aber solange diese Vision nicht verwirklicht ist, hegt der Sperrvertrag die militärische Nukleartechnologie mit zehn Artikeln ein. Nach den eher vagen Artikeln 8 und 10 kann freilich jeder Unterzeichnerstaat eine Änderung des Vertrags vorschlagen oder sogar ganz aussteigen, wenn er befindet, „dass durch außergewöhnliche, mit dem Inhalt dieses Vertrags zusammenhängende Ereignisse eine Gefährdung der höchsten Interessen seines Landes eingetreten ist“. Verbindlicher formuliert sind dagegen die Artikel 2 und 3. Sie behandeln die Verpflichtung zur Nichtverbreitung von Plänen und Materialien für die Bombe, den militärischen Verzicht der kernwaffenfreien Staaten und das Inspektionsregime unter Leitung der IAEO, dem diese unterworfen sind.3 Als Gegenleistung erhalten sie einen durch die „Nuklearstaaten“ garantierten Zugang zur zivilen Atomtechnologie.
Diese Bestimmungen machen die eigentliche Stärke des Vertrags aus, aber auch seine Zweideutigkeit. Um die kernwaffenfreien Staaten für ihren Verzicht zu belohnen, müssen die Nuklearstaaten zum einen die zivile Atomtechnik frei verfügbar machen, zum anderen selbst ihre nuklearen Arsenale schrittweise abbauen4 . Darüber hinaus müssen sie sich an eine sehr restriktive Einsatzdoktrin halten, damit sich die kernwaffenfreien Staaten nicht bedroht fühlen. Keiner dieser drei Punkte wurde jemals voll erfüllt. Und doch hat der NPT trotz aller kontroverser Debatten5 eine so starke Legitimität gewonnen, dass er 1995 auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde. Zudem garantiert ein Zusatzprotokoll von 1998 die volle Bewegungsfreiheit von IAEO-Inspekteuren in den kontrollierten Ländern.6
Die zentralen Probleme des Vertrags offenbaren sich an drei Schwachstellen: Erstens wird es immer schwerer, zwischen ziviler und militärischer Nukleartechnologie zu unterscheiden. Zweitens bewirkt das Deklarationsprinzip – die Staaten selbst informieren die IAEO über ihre Einrichtungen –, dass ein Land relevante Anlagen vor den Kontrolleuren verheimlichen kann. Zudem gibt es keine klare Definition dafür, was als „Beweis“ eines Verstoßes gegen den Vertrag gelten soll. Drittens haben einige kernwaffenfreie Staaten die Möglichkeit, sich während des oft langen Zeitraums zwischen Unterzeichnung, Ratifizierung und Inkrafttreten des Vertrags weiter an die „nukleare Schwelle“ heranzuarbeiten.7
Trotz der Barrieren, die der Vertragstext gegen die Proliferation errichtet, gab es in der Vergangenheit zahlreiche Rückschläge. Ob diese allein auf die Schwächen des NPT zurückzuführen sind, ist allerdings eine offene Frage. Die dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Proliferation sind der atomare Aufstieg Israels und der verfeindeten südasiatischen Bruderstaaten, die 1974 (Indien) und 1985 (Pakistan) zu militärischen Nuklearmächten wurden – und den NPT nie unterzeichnet haben. Das indische Atomwaffenprogramm wurde bis 1965 von den USA, dann von der Sowjetunion bewusst unterstützt, was mit dem geopolitischen Gleichgewichts im Kalten Krieg zu tun hatte. Aber das fiel in die Zeit vor der Ausarbeitung und Ratifizierung des Sperrvertrags. Die Weichen für die Explosion der ersten indischen Atombombe 1974 wurden also schon lange vorher gestellt.8
Im Fall Pakistan lieferten anfangs einige Staaten, darunter Frankreich, ihr ziviles Nuklearwissen in der Erwartung, das Land werde dem NPT beitreten. Als das nicht geschah, stellten sie ihre Unterstützung ein. Ihre Rolle übernahm China, das Pakistan zur Entwicklung der Bombe bis zum Jahr 1985 verhalf. Dabei hat der Nuklearstaat China nicht einmal einen „Vertragsbruch“ begangen, weil er dem Sperrvertrag erst 1992 beigetreten ist.
Der andere große Rückschlag ist der Fall Israel, der von allen Nichtunterzeichnerstaaten das größte Problem darstellt. Denn hier kommt der erschwerende Umstand hinzu, dass das Land (im Gegensatz zu Indien und Pakistan) die Existenz seiner Atomwaffen offiziell verleugnet, und zwar mit Unterstützung der USA, die genau wissen, dass Israel Atomwaffen besitzt.
Von den Unterzeichnerstaaten sind Taiwan, Südkorea und Japan zu nuklearen „Schwellenländern“ aufgestiegen. Dabei kann Taiwan gar nicht gegen den NPT verstoßen, weil es diesen aufgrund der Ein-China-Doktrin gar nicht unterzeichnen kann.9 Die taiwanesischen Atomambitionen werden letztlich von den USA blockiert. Und auch die Technologiegroßmächte und Beitrittsnachzügler Japan (1976) und Südkorea (1975) unterstehen nach wie vor der Vormundschaft und der „nuklearen Sicherheitsgarantie“ der USA.
Der Fall Iran scheint dagegen klarer: Als Unterzeichner des Sperrvertrags verstößt das Land gegen seine Verpflichtungen, indem es offenbar versucht, in den Besitz der Bombe zu gelangen. Und weder China noch Russland haben in der Frage der Garantien einen effektiven Einfluss auf das Regime. Nordkorea als der zweite schwierige Fall ist anders gelagert. Das Land hat – im Gegensatz zum Iran – 2003 seinen Ausstieg aus dem Sperrvertrag erklärt, zudem wurden seine – langsamen – atomaren Fortschritte lange Zeit von der Atommacht China wohlwollend geduldet. Die scheint ihre Unterstützung für Pjöngjang aber eingestellt zu haben, seit sie selbst den NPT unterzeichnet hat.
Das ergibt insgesamt kein allzu rosiges Bild. Man kann es aber auch anders betrachten: Außer Nordkorea ist bisher kein Staat aus dem Sperrvertrag ausgestiegen. Und bis 2010 gelangte auch kein Unterzeichnerstaat ohne Atomwaffen in den Besitz der Bombe. Seit Bestehen des NPT hat die Welt keinen Atomkrieg erlebt – und auch keine der Kubakrise von 1962 vergleichbare Eskalation. Und die Zahl der vertraglich vereinbarten kernwaffenfreien Zonen, wie sie in Artikel 7 des Sperrvertrags vorgesehen sind,10 hat sich deutlich erhöht: Antarktis 1959 (schon vor Abschluss des Vertrags), Lateinamerika 1967, Südpazifik 1985. Zudem haben Kasachstan, die Ukraine und Weißrussland ihre nuklearen Arsenale zerstört, desgleichen Südafrika. Und Schweden, Argentinien und Brasilien haben ihre militärischen Atomwaffenprogramme aufgegeben.
Diese Erfolge gehen nicht alle direkt auf den NPT zurück, aber der Sperrvertrag von 1968 bildet die legale und moralische Grundlage für diese – bilateralen oder multilateralen – Verhandlungen, die am Ende zu den aufgezählten Erfolgen führten. Allein die Tatsache, dass der Vertrag 1995 „auf unbegrenzte Dauer“ verlängert wurde, zeigt an, welche Bedeutung dem Text beigemessen wird – schließlich hätte man sich auch mit einer begrenzten Verlängerung begnügen können.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Effizienz des Sperrvertrags. Am Ideal einer „Null-Lösung“ gemessen ist er kein Erfolg, vor allem weil er davon abhängt, dass die Atommächte ihre Doktrin atomarer Abschreckung „verantwortungsvoll“ praktizieren. Den Verzicht auf einen Ersteinsatz haben bisher allerdings nur China und Indien erklärt.
Andererseits muss man sich nur vorstellen, wie die Welt ohne den Sperrvertrag aussehen würde. Wobei schwerer auszumachen ist, was er verhindern konnte, als aufzuzählen, was er alles nicht verhindert hat. Im Hinblick auf den Streit um das iranische Atomprogramm ist den Kritikern des Vertrags beizupflichten: Er ist ein Schutzwall mit vielen Löchern, der die Gefahr der Proliferation nicht beseitigt hat. Und dennoch ist er eine Barriere, die angesichts dessen, was sich auf der anderen Seite tut, niemand niederreißen will.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
Olivier Zajec ist Berater der Compagnie Européenne d’Intelligence Stratégique (CEIS), einer privaten Consultingfirma mit Sitz in Paris und Brüssel.