Bücher für Tage und Nächte
Mit Don Quijote im Krankenhaus von Alberto Manguel
Zwei Wochen vor Weihnachten wurde mir eröffnet, dass ich dringend operiert werden müsse, und zwar so dringend, dass keinerlei Zeit zum Packen blieb. Schon bald fand ich mich, hilflos und ängstlich, in einer blütenweißen Notaufnahme wieder und hatte nichts weiter zu lesen bei mir als das eine Buch, das ich am Morgen mit auf den Weg genommen hatte, Cees Nootebooms wunderbares „In den niederländischen Bergen“, das ich nach vier Stunden ausgelesen hatte. Vierzehn Tage ohne Lektüre im Krankenhaus zuzubringen, erschien mir eine unerträgliche Qual, und als mein Partner vorschlug, ein paar Bücher aus meiner Hausbibliothek mitzubringen, nahm ich dankbar an.
Aber welche Bücher? Der Prediger Salomo und der Folksänger Pete Seeger haben uns gelehrt, dass ein jedes Ding seine Zeit habe, und ich möchte meinerseits ergänzen, dass es auch für jede Zeit ein Buch gibt. Aber wie jeder Leser weiß, passt nicht jedes Buch zu jeder Gelegenheit. Gnade der armen Seele, die sich mit dem falschen Buch am falschen Ort befindet wie etwa Roald Amundsen, der Entdecker des Südpols, dessen Büchersack unter dem Packeis versank und der eine kältestarrende Nacht nach der anderen das einzige ihm verbliebene Buch lesen musste: Dr. John Gaudens unverdauliches „Porträt seiner Heiligen Majestät in ihren Einsamkeiten und Leiden“ über König Charles I.
Jeder Leser weiß, dass es Bücher gibt, die sich zur Lektüre nach dem Liebesakt eignen, andere liest man besser im Wartesaal auf dem Flughafen, es gibt Bücher für den Frühstückstisch und Bücher für die Toilette, Bücher für schlaflose Nächte daheim und Bücher für schlaflose Tage im Krankenhaus. Niemand, nicht mal der versierteste Leser, kann vollständig erklären, warum bestimmte Bücher für bestimmte Gelegenheiten taugen und andere nicht. Es ist wie bei Menschen: Aus irgendwelchen unsagbaren Gründen passen Buch und Gelegenheit auf mysteriöse Weise zusammen oder eben nicht.
Warum entscheiden wir uns in bestimmten Momenten unseres Lebens für die Gesellschaft des einen statt des anderen Buchs? Auf der Liste der Bücher, die Oscar Wilde im Gefängnis von Reading anforderte, stand Stevensons „Schatzinsel“ und ein französisch-italienisches Sprachlehrbuch. Alexander der Große hatte auf seinen Eroberungszügen ein Exemplar von Homers „Ilias“ dabei. John Lennons Mörder trug J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ bei sich, als er sein Verbrechen ausführte.
Nehmen Astronauten Ray Bradburys „Mars-Chroniken“ mit auf die Reise oder halten sie sich ganz im Gegenteil an André Gides „Früchte der Erde“? Wird Bernard Madoff, während er seine Zeit im Gefängnis absitzt, nach Dickens’ „Little Dorrit“ verlangen, um nachzulesen, wie Mr. Merdle, nachdem seine Veruntreuungen aufgedeckt waren, sich aus Schande mit einem geliehenen Rasiermesser die Kehle durchschnitt? Wird Papst Benedikt XVI. sich mit einer Ausgabe von Charles-Louis Philippes „Bubu de Montparnasse“ in sein Studierzimmer in der Engelsburg zurückziehen, um über den Zusammenhang zwischen dem Fehlen von Kondomen und der Ausbreitung der Syphilis im Paris des 19. Jahrhunderts nachzudenken? Der praktisch veranlagte G. K. Chesterton wünschte sich für den Fall, dass er auf einer einsamen Insel strande, ein Handbuch für den Schiffsbau; der weniger praktisch gesinnte Jules Renard entschied sich unter denselben Umständen für Voltaires „Candide“ und Schillers „Räuber“.
Das feste Fleisch des Papiers
Welche Bücher sollte ich auswählen, um mir in meiner Krankenzelle Gesellschaft zu leisten? Obwohl ich fest vom Nutzen virtueller Bibliotheken überzeugt bin, benutze ich weder die moderne Reinkarnation assyrischer Tafeln namens E-Book noch zwergenhafte iPods und auch keine nostalgischen Gameboys – zu sehr habe ich mich an die Größe einer Seite und das feste Fleisch von Papier und Tinte gewöhnt.
Ich erstellte also ein mentales Inventar der Bücher, die sich zu Hause neben meinem Bett stapelten. Die aktuelle Belletristik schloss ich von vornherein aus (zu riskant), ebenso Biografien (unter den gegebenen Umständen – an einem Wirrwarr von Schläuchen hängend – wäre mir die Gegenwart weiterer Personen im Zimmer unangenehm gewesen), wissenschaftliche Aufsätze und Kriminalromane (zu kopflastig: so sehr ich inzwischen Darwins Renaissance begrüße und mich wieder in klassische Detektivgeschichten versenkt habe, im Krankenhaus erschien mir die ausführliche Darstellung egoistischer Gene und durchtriebener Krimineller nicht die rechte Medizin).
Ich erwog kurz, die Krankenschwestern mit Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ zu erschrecken, doch dann wurde mir klar, dass ich das literarische Pendant zu einfacher Hausmannskost brauchte, etwas Angenehmes, auf das man jederzeit gern zurückkommt, etwas, das ich allein zu meinem Vergnügen lesen konnte und das doch meine grauen Zellen anregte und am Laufen hielt. Ich bat um die beiden Bände des „Don Quijote von der Mancha“.
Lars Gustafsson lässt in seinem anrührenden Roman „Tod eines Bienenzüchters“ den an Krebs erkrankten Erzähler, Lars Lennart Westin, eine Liste anfertigen, auf der die Künste nach Schwierigkeitsgraden geordnet werden. Zuerst kommt die Erotik, dann folgen Musik, Lyrik, Drama, Feuerwerk; die Liste endet mit der Kunst des Springbrunnenbauens, des Fechtens und der Artillerie. Eine Kunst jedoch lässt sich nicht einordnen: die Kunst, Schmerzen zu ertragen. „Wir haben es also mit dem einzigartigen Fall einer Kunst zu tun, deren Schwierigkeitsgrad so hoch ist, dass es niemanden gibt, der sie ausübt“, erklärt Westin.
Aber vielleicht hatte Westin „Don Quijote“ nicht gelesen, denn „Don Quijote“ ist, wie ich zu meiner Freude feststellen konnte, das perfekte Mittel, um Schmerzen zu ertragen. Während ich darauf wartete, gepiekt, gezwickt und betäubt zu werden, konnte ich das Buch beinahe an beliebiger Stelle öffnen, und schon wurde ich von der freundlichen Stimme des spanischen Kriegers mit der Versicherung getröstet, dass am Ende alles gut ausgehen werde.
Seit meiner Pubertät bin ich immer wieder auf „Don Quijote“ zurückgekommen, daher wusste ich, dass die wundersamen Wendungen der Handlung keine bösen Überraschungen für mich bereithielten. Und da „Don Quijote“ zu jenen Büchern zählt, die einfach nur um des Vergnügens an den aberwitzigen Einfällen und um der Geschichte selbst willen gelesen werden können, ohne ihre Verwicklungen und rhetorischen Abschweifungen analysieren zu müssen, ließ ich mich einfach vom Erzählfluss davontragen.
Zu meiner ersten Lektüre unter Anleitung meines Lehrers, Professor Isaias Lerner, lang ist’s her, kamen im Laufe der Jahre viele weitere Leseerlebnisse an allen erdenklichen Orten und in allen möglichen Stimmungen. Ich las „Don Quijote“ während meiner ersten Jahre in Europa, als mit dem Mai 68 große Umwälzungen eine noch unbenannte und unbekannte Zukunft verhießen, die durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit der idealisierten Ritterwelt aufwies, welcher der edle Ritter nachjagte.
Don Quijote, Balsam und Seelentrost
Ich las „Don Quijote“ im Südpazifik, während ich von einem lächerlich kleinen Einkommen eine Familie durchzubringen versuchte und mir inmitten der fremden polynesischen Kultur ein bisschen verrückt vorkam, wie der arme Ritter unter den Aristokraten. Ich las „Don Quijote“ in Kanada, dessen multikulturelle Gesellschaft mir reizvoll quijotisch erschien. All diesen und weiteren Leseerfahrungen kann ich nun eine medizinische hinzufügen: „Don Quijote“ als Balsam und Seelentrost.
Doch all diese verschiedenen „Don Quijotes“ sind in keiner anderen Bücherei zu finden als in derjenigen meiner verblassenden Erinnerung. Alle realen Ausgaben des „Don Quijote“, die bis heute erschienen sind, können gesammelt werden, ja werden in der Tat von der Bibliothek des Instituto Cervantes in Madrid aufbewahrt. Aber meine eigenen „Don Quijotes“, die bei jeder Lektüre entstanden, die von meinem Gedächtnis ersonnen und von meiner Vergesslichkeit redigiert wurden, existieren ausschließlich in meinem Kopf.
Leser aller Zeiten haben diese magische Erfahrung gemacht. Im sechsten Kapitel des ersten Buchs von „Don Quijote“ vermischt sich die aus soliden Büchern bestehende Bibliothek des Ritters mit der erinnerten Bibliothek des Pfarrers und des Barbiers; jeder Band, der aus dem Regal gezogen wird, findet sein Echo in den Leseerinnerungen der beiden Zensoren und wird nach seinen damaligen Verdiensten be- und verurteilt. Welche Bücher von „Don Quijote“ den Flammen überantwortet und welche verschont werden, hängt nicht von den schwarz auf weiß gedruckten Wörtern auf ihren Seiten ab, sondern von den Wörtern, die sich bei der ersten Lektüre ins Gedächtnis des Barbiers und des Pfarrers eingeschrieben haben.
Manchmal beruht das Urteil auch auf Hörensagen, etwa wenn der Pfarrer erklärt, man habe ihm berichtet, die vier Bücher des Amadis von Gallia seien das Erste, was in Spanien über das Ritterwesen gedruckt worden sei und daher als Urquell des Bösen zu verbrennen – worauf der Barbier erwidert, er habe gehört, dass es auch das Beste aller Ritterbücher sei und aus diesem Grund solle man ihm verzeihen.
Manchmal ist der frühere Eindruck so stark, dass nicht nur das betreffende Buch selbst, sondern auch seine Nachbarn verdammt werden; manchmal wird die Übersetzung verurteilt, aber das Original verschont; und manche Bücher werden gar nicht verbrannt, sondern nur entfernt, um nicht künftige Leser zu schädigen. Bei diesem Exorzismus von Don Quijotes Bibliothek machen der Pfarrer und der Barbier sie zum Abbild jener Bücherei, die sie selbst im Geist mit sich herumtragen. Sie eignen sich die Bücher an und modeln sie zu dem um, was ihre eigene Fantasie in der Erinnerung daraus gemacht hat. Am Ende wird der Raum, in dem sich die Bibliothek befindet, zugemauert, als habe er nie existiert, und als der alte Ritter aufwacht und seine Bücher zu sehen verlangt, sagt man ihm, das Zimmer sei verschwunden. Verschwunden ist es in der Tat, aber nicht durch bösen Zauber (wie Don Quijote weisgemacht wird), sondern durch die Macht, mit der andere Leser Büchern ihre eigene Lesart aufgezwungen haben. Jede Bibliothek hängt von den Lektüren derer ab, die vor uns kamen.
Jede Bibliothek lebt aber auch von einer Vielzahl zeitgenössischer Leser. Im zweiunddreißigsten Kapitel des ersten Buchs von „Don Quijote“ streitet der Gastwirt, bei dem der erschöpfte Held ein Nachtlager gefunden hat, mit dem Pfarrer über die Vorzüge und Nachteile von Ritterromanen. Er könne nicht verstehen, weshalb solche Bücher jemanden um den Verstand bringen sollten, sagt der Wirt: „Ich weiß nicht, wie das sein kann, denn in Wahrheit, wie ich die Sache verstehe, gibt es nichts Besseres auf der Welt zu lesen. Ich habe hier ihrer zwei oder drei mit noch andern Papieren, die haben mir wahrhaftig frische Lebenslust geschenkt, und nicht nur mir, sondern vielen andern. Denn zur Erntezeit kommen an den Festtagen viele Schnitter, hier zu herbergen, und immer ist einer dabei, der lesen kann. Der nimmt eins von den Büchern zur Hand, wir sind zu mehr als dreißig um ihn herum, und wir sitzen und stehen da und hören ihm mit so viel Vergnügen zu, dass es uns ordentlich jünger macht.“1
Der Wirt mag am liebsten Kampfszenen, der Hure gefallen Geschichten über die höfische Liebe besser, die Tochter des Wirts findet die Klagen der fahrenden Ritter über die Ferne von ihren Damen am besten. Jeder Zuhörer (jeder Leser) übersetzt den Text in seine eigene Erfahrung, in sein Begehren, und nimmt damit die Geschichte in Besitz, die nach Ansicht des zensierenden Pfarrers Leser wie Don Quijote in den Wahnsinn treibt; Don Quijote selbst dient sie jedoch als leuchtendes Beispiel für edles und gerechtes Handeln in der wirklichen Welt.
Ein Text, Myriaden von Lektüren, ein Bord voller Bücher, die aus diesem einen, laut vorgelesenen Text hervorgegangen sind – mit jeder gewendeten Seite vermehren sich unsere hungrigen Bibliotheken, wenn nicht immer die papiernen, so doch die geistigen: Das ist auch meine beglückende Erfahrung. Ich bin meinem „Don Quijote“ zutiefst dankbar. Während der Wochen im Krankenhaus wachten die beiden Bände neben mir: Sie sprachen mit mir, wenn ich unterhalten werden wollte, oder warteten stumm und aufmerksam neben meinem Bett.
Fußnote: 1 Übersetzung von Ludwig Braunfels, Düsseldorf, (Winkler) 2000.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Alberto Manguel stammt aus Argentinien und lebt als Dozent, Autor und Übersetzer in Toronto. Verfasser u. a. von „Kleine Geschichte des Lesens“, Berlin (Volk und Welt) 1998, und „Die Bibliothek bei Nacht“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2007.