Zwei Jemen, ein Krisenstaat
von Tariq Ali
Zu meiner Reise in den Jemen entschloss ich mich, nachdem Obama behauptet hatte, weite Teile des Landes seien „nicht voll unter Kontrolle der Regierung“. US-Senator Joseph Lieberman hatte sogar lauthals verkündet, wenn man im Jemen nicht rechtzeitig eingreife, werde man dort „den Krieg von morgen“ erleben, nach Irak und Afghanistan.
Das neue Interesse für den Jemen und die „Al-Qaida der arabischen Halbinsel“ (AQAP) hatte mit einem jungen Nigerianer zu tun, der am 25. Dezember 2009 mit einer Bombe in der Unterhose ein Flugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Detroit in die Luft sprengen wollte. Nach seiner Festnahme sagte Umar Faruk Abdulmutallab aus, er sei zwar schon in Großbritannien zum harten Islamisten geworden, aber seinen – Gott sei Dank nicht sehr erfolgreichen – Crashkurs als Selbstmordattentäter habe er irgendwo im Jemen bei der AQAP durchlaufen.
Der Jemen ist ein richtiges Land – anders als die über die Arabische Halbinsel verteilten imperialen Tankstellen, wo sich die Herrschaft der Eliten in hektisch hochgezogenen, von Stararchitekten entworfenen Wolkenkratzern manifestiert, wo in den Shopping Malls sämtliche westlichen Luxusprodukte zu haben sind und die Dienstklasse aus südasiatischen und philippinischen Lohnsklaven besteht.
Jemens Hauptstadt Sana’a wurde zu einer Zeit gegründet, als noch nicht alle Teile des Alten Testaments geschrieben waren. Das neue Mövenpick-Hotel im Diplomatenviertel erinnert zwar fatal an Dubai, aber die jemenitische Elite hütet sich, ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Der Vernichtung durch Modernisierung entging die Altstadt dank der Unesco, die in den 1980er-Jahren ein Programm finanzierte, zu dem auch der Wiederaufbau der alten Stadtmauer gehörte. Die Große Moschee aus dem 9. Jahrhundert wird derzeit von italienischen Experten restauriert, die zusammen mit einheimischen Archäologen Alltagsgegenstände und bildliche Darstellungen aus vorislamischer Zeit freilegen.
Tausend Jahre alte Hochhäuser in Sana’a
Die architektonische Substanz von Sana’a ist fantastisch, etwas Vergleichbares gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Die neun, zehn Stockwerke hohen Gebäude wurden im 10. Jahrhundert errichtet und 600 Jahre danach im originalen Stil restauriert. Die Mauern sind aus leicht gebrannten Ziegelsteinen, verziert mit geometrischen Gipsornamenten und symmetrischen, eingekratzten Mustern. Beim heutigen architektonischen Gesamtbild fehlen nur die hängenden Gärten, die noch im Mittelalter jedes Stockwerk zierten und die Besucher in Entzücken versetzten.1
Dass der Westen jetzt Angst vor der AQAP bekommt, hat dem Jemen dieses Jahr bereits 63 Millionen Dollar an US- Finanzhilfe eingebracht, zusätzlich zu den Geldern des Pentagon für die Terrorbekämpfung (2009 waren das 67 Millionen Dollar). Ein Fünftel dieser Summe ist für Waffenkäufe reserviert, der größte Brocken dürfte an den Präsidenten und seine Entourage gehen, ein Teil auch in den Taschen der Militärführung landen. Um die restlichen Dollars werden sich die lokalen Größen in den verschiedenen Regionen streiten. Ein jemenitischer Geschäftsmann erzählt davon, wie entsetzt er war, als er vor einigen Jahren mit der Regierung ein Geschäft ausgehandelt hatte und der Ministerpräsident, ein respektabel und bescheiden wirkender Mann, nach dem Abschluss zusätzlich 30 Prozent für sich verlangte. Als der Mann ihn entgeistert anstarrte, beeilte sich der Regierungschef zu versichern: 20 Prozent sind für den Präsidenten.
Um die Bedrohung durch die AQAP einzuschätzen, wollte ich herausfinden, wie viele Mitglieder die Organisation im Jemen hat und wie viele von ihnen über die Grenze aus Saudi-Arabien ins Land kommen. Der 75-jährige Abdul Karim al-Iryani war früher Ministerpräsident und ist heute noch ein Berater des Präsidenten. Er empfing mich in der großen Bibliothek im Erdgeschoss seines Hauses. Er erging sich zunächst in langen und interessanten Ausführungen über die Geschichte des Jemen, wobei er die Kontinuität von der vorislamischen zur islamischen Kultur betonte. Zu seinem Bedauern speise sich der Wortschatz des modernen Schriftarabisch vor allem aus dem Dialekt, den die Beduinen des Nejd (heute ein Teil Saudi-Arabiens) sprechen. Leider hätten die Lexikonschreiber 5 000 Wörter des Dialekts der Sabiner (die im heutigen Jemen leben) nicht aufgenommen, obwohl dieser die eigentliche Wurzel des Arabischen sei.
Später erzählte er mir, dass ihm der Attentäter aus Nigeria einen Besuch von Thomas Friedman beschert hat. Der berühmte Kolumnist der New York Times habe ihm seine Fragen gestellt, um dann in seiner Zeitung zu schreiben, Sana’a sei zwar „noch nicht Kabul“, aber die AQAP sei ein „Virus“, den man genau beobachten müsse, um eine unkontrollierbare Epidemie zu verhindern. Zu den Ursachen der Infektion sagte al-Iryani nichts. Meine Frage nach der Stärke der AQAP entlockte ihm zunächst nur ein vages Lächeln. Ich bohrte weiter: „Reden wir von 300 Leuten, von 400?“ „Höchstens“, meinte er, „allerhöchstens. Die Amerikaner übertreiben enorm. Wir haben andere Probleme, die real und sehr viel dringlicher sind.“
Derselben Meinung ist Saleh Ali Ba-Surah, der Minister für das höhere Bildungswesen. Der Mann hat, wie viele Größen der ehemaligen Volksrepublik Südjemen, in der früheren DDR studiert. Seit 1990 wird die wiedervereinigte Republik Jemen von Ali Abdullah Saleh regiert, der nach dem Vorbild von Mubarak und Gaddafi seinen Sohn zu seinem Nachfolger aufbaut. Die beiden Teile des Jemen waren über weite Strecken des 20. Jahrhunderts äußerst unterschiedlich. Das Hochland des Nordens, in dem auch die Hauptstadt Sana’a liegt, wurde von bewaffneten Stämmen dominiert; im Süden dagegen, also im Hinterland der Hafenstadt Aden, prägten Gewerkschafter, Intellektuelle, arabische Nationalisten und später Kommunisten das politische Leben.
Jahrhunderte zuvor war der Jemen unter der Führung von Imamen der Zaiditen (oder Fünfer-Schiiten) vereinigt worden, deren Herrschaft auf Stammesloyalitäten und einer duldsamen Landbevölkerung basierte. 1728 löste sich der Süden aus diesem Herrschaftsverband. 1839 wurden Aden und die umliegende Küste vom expandierenden Britischen Empire erobert (das im selben Jahr auch Hongkong einnahm). Kurz darauf nahm sich das bereits angeschlagene Osmanische Reich einen Teil des Nordens, den es aber nach dem Ersten Weltkrieg wieder abgeben musste.
Danach kamen, unter wohlwollender Duldung der Briten, im Norden erneut die zaiditischen Imame der Familie Hamid ad-Din an die Macht. 1948 wurde der Herrscher Yahya Muhammad von seiner Leibwache ermordet, was seinen Sohn Ahmad an die Macht brachte. Dieser war ein Isolationist, ihm war ein armer und freier Jemen lieber als ein reicher und abhängiger. Doch das Volk hatte bald genug von diesem exzentrischen, morphiumsüchtigen Herrscher, der die meiste Zeit im Kreis von Hofschranzen in einem neonbeleuchteten Raum mit seinem Spielzeug verbrachte, das er seit frühester Jugend gesammelt hatte. Im ganzen Land gab es keine einzige moderne Schule, keine Bahnlinie, keine Fabrik und kaum Ärzte.
Ahmad lehnte Nassers arabischen Nationalismus ab, mit dem aber eine starke Fraktion in der Armee sympathisierte. Als er 1960 unter dem Einfluss der Saudis im staatlichen Rundfunk gegen Nasser wetterte, reagierte Radio Kairo mit einer Art Kriegserklärung. Bevor die Situation eskalieren konnte, starb der Herrscher – und die Dynastie der Imame war am Ende. Die Macht übernahm der Anführer von Ahmads Leibwache, unterstützt durch nationalistische Offiziere.
Als daraufhin in Aden Tausende für das neue Regime im Norden auf die Straße gingen, fürchteten die Briten um ihr koloniales Besitztum im Süden. Und in Washington und London wuchs die Angst vor einem radikalen arabischen Nationalismus und seinen kommunistischen Unterstützern. Also beschloss man, die Imame mithilfe der Saudis wieder an die Macht zu bringen. Treibende Kraft waren die Briten, die Nasser ihre demütigende Niederlage im Suez-Feldzug von 1956 heimzahlen wollten. In Washington dominierte dagegen die Befürchtung, ein Fehlschlag der Saudis könnte den panarabischen Nationalismus stärken, die jemenitische Krankheit auf die arabische Halbinsel ausbreiten und so die saudische Monarchie gefährden.
Als die Saudis begannen, die Anhänger des Imams zu unterstützen und konservative Stammesführer des Nordens mit einer Mischung aus primitivem Islamismus und Geldscheinen zu ködern, fiel die Reaktion der politischen und militärischen Führung des neuen Staates Nordjemen schwach und konfus aus. Nutznießer dieser Schwäche waren die nasseristischen Intellektuellen in der Regierung. Sie konnten die Armee zu einem direkten Appell an Nasser bewegen, der mit Unterstützung der Sowjetunion und Chinas eine ägyptische Expeditionsarmee von 20 000 Mann in den Jemen schickte. Damit begann ein langer Bürgerkrieg, in dem sich, vereinfacht gesprochen, Ägypter und Saudis als Stellvertreterarmeen des Kalten Krieges gegenüberstanden.
Der Krieg endete für den Jemen mit 200 000 Toten und der totalen Zerrüttung des Nordens. Den ägyptischen Soldaten, die vorwiegend aus dem Niltal stammten, war die jemenitische Bergwelt völlig fremd. Da sie sich aber für unbesiegbar hielten, kümmerten sie sich nicht um die Ratschläge ihrer einheimischen Verbündeten, die in ihren Augen sowieso minderwertig und militärisch unbedeutend waren. Das Unternehmen der Ägypter kam nicht voran, dafür wuchs die Kritik an ihren Methoden, zu denen auch der Einsatz chemischer Waffen gehörte. Als die Arbeiter in Sana’a und Taiz auf die Straße gingen, wurden ihre Demonstrationen brutal niederschlagen.
1970 endete der Bürgerkrieg mit einem Kompromiss, der keine Seite zufriedenstellte. Am Schluss hatten sich die Ägypter ein Beispiel an den Saudis genommen und versucht, die Stammesführer mit Geld auf ihre Seite zu ziehen. In der neuen Konstellation hatten dann die Stämme deutlich mehr Macht, ebenso wie die vielen Heiligen und Prediger. Der Krieg hatte die Ägypter Millionen Dollar und 15 000 Tote gekostet (dazu noch die dreifache Zahl an Verwundeten). Die demoralisierende Wirkung des Jemen-Feldzugs dürfte einiges zur Niederlage der ägyptischen Armee im Sechstagekrieg vom Juni 1967 beigetragen haben, der dem arabischen Nationalismus den Todesstoß versetzte.
Während des Bürgerkriegs waren viele linke Nationalisten und Kommunisten des Nordens nach Aden geflohen.2 Auch im Süden war das nationalistische Lager gespalten: Die Front for the Liberation of South Yemen (Flosy) wurde von Kairo unterstützt, die radikaleren Gruppen vereinigten sich zur National Liberation Front (NF). Beide wollten die Briten aus Aden vertreiben. Die aber waren entschlossen, ihre strategisch wichtige Basis möglichst lange zu halten, und zwar zunehmend mit Mitteln wie willkürlichen Festnahmen und Folter. 1964 hatte Premierminister Harold Wilson erklärt, die britischen Streitkräfte würden zwar bleiben, aber bis 1968 werde man die Macht an die sogenannte Federation of South Arabia übergeben, in der nach seiner optimistischen Vorstellung die Bevölkerung Adens durch die Sultane des Hinterlands kontrolliert werden könne.
Doch aus dem Plan wurde nichts, nachdem die Royal Air Force mit ihren Bomben ganze Dörfer ausradiert hatten. Der ehemalige Kolonialbeamte Bernard Reilly, der den größten Teil seines Lebens in Aden verbracht hat, formulierte es so: „Ein Land, das keine ordnungsgemäße Regierung kennt, kann nicht befriedet werden, solange es keine Kollektivstrafen für kollektiv begangene Gewalttaten gibt.“ Aber die Stammesoberhäupter des Südens ließen sich nicht „befrieden“. 1967 begann ein erbitterter Kleinkrieg in den Straßen von Crater, dem alten, im Krater eines erloschenen Vulkans gelegenen Hafenviertel von Aden. Dabei setzte die NF erstmals Panzerfäuste und Minenwerfer gegen militärische Ziele und Stützpunkte der Royal Air Force ein. Um weitere Verluste zu verhindern, blies die damalige Labour-Regierung zum Rückzug.
Zum Abschied spielte die Kapelle der Royal Navy
Das britische Kolonialministerium musste seinen einheimischen Kollaborateuren „mit Bedauern“ mitteilen, dass man ihnen „keinen Schutz mehr gewährleisten“ könne. Ein von der NF organisierter Generalstreik legte die ganze Stadt lahm, Guerilla-Attacken zwangen die Kolonialregierung dazu, die Feierlichkeiten zum Geburtstag der Queen abzusagen.
Ein halbes Jahr später zogen die Briten nach 128-jähriger Kolonialherrschaft aus Aden ab – der dortige Hafen hatte nach der Schließung des Suezkanals ohnehin deutlich an Wert eingebüßt. Am 20. November 1967 verschwand der letzte Britische Hochkommissar Humphrey Trevylan mit einem flüchtigen Winken am Flugzeug, das ihn nach London zurückbrachte. Zum Abschied spielte die Kapelle der Royal Navydie Melodie von „Fings Ain’t Wot They Used T’Be“ (Es ist alles nicht mehr so, wie es früher einmal war).
Die National Front hatte gewonnen, aber einen Plan für den Wiederaufbau des Landes hatte sie nicht. Zudem war sie ein Zusammenschluss von allen möglichen linken Gruppen: moskautreue Kommunisten, Maoisten, Che-Guevara-Anhänger, dazu ein paar Trotzkisten und stramme Nationalisten. Über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion – zu der es am 3. Dezember 1967 kam – war man sich schnell einig, aber dann begannen auch schon die Streitereien. Auf dem NF-Kongress setzte eine radikalere Fraktion eine Resolution durch, die eine Agrarreform, den Kampf gegen den Analphabetismus, die Gründung einer Volksmiliz sowie die Säuberung der staatlichen Bürokratie und der Armee forderte, dazu die Unterstützung des palästinensischen Widerstands und die enge Kooperation mit der Sowjetunion und mit China.
In der gewählten Führung der NF dominierten die linken Kräfte. Als bewaffnete Guerilla-Einheiten anfingen, die Militärlager zu umstellen und den Offizieren ihre Waffen abzunehmen, reagierte die Armee mit einem Putschversuch, der beinahe einen Bürgerkrieg ausgelöst hätte. Im Frühjahr 1968 wurde klar, dass der rechte Flügel der NF nicht gewillt war, die Forderungen des Parteikongresses umzusetzen. Daraufhin entstand eine „Bewegung des 14. Mai“, die das Volk zur Unterstützung der Reformen mobilisieren wollte. Es folgten Zusammenstöße mit dem Militär. Die Rechte sah sich zunächst als Sieger über die Organisatoren der Bewegung des 14. Mai, der sie vorwarf, „eine Revolution innerhalb der Revolution“ betrieben zu haben. Aber nach einem weiteren Jahr hatte die Linke wieder die Oberhand gewonnen.
Mit der Verfassung von 1970 wurde das Land zur Demokratischen Volksrepublik Jemen (DVRJ) erklärt und der Sozialismus ausgerufen – gegen den Rat Chinas und der Sowjetunion.3 Was folgte, war ebenso tragisch wie vorhersehbar: Ein ökonomisch rückständiger Staat machte sich an den Aufbau von Strukturen, die nur den Mangel institutionalisierten. Dabei hätte der Aufbau einer Industrie in Form von staatlichen Unternehmen sogar sinnvoll sein können, wenn man nicht zugleich ein totales Verbot der existierenden Kleinunternehmen durchgesetzt hätte.
Das politische System beruhte auf staatlich kontrollierten Massenmedien, einer strikten Zensur und dem absoluten Monopol der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP). Das alles sprach nicht nur dem Sozialismus Hohn, sondern auch den Versprechen, die in den Zeiten des antikolonialen Kampfs gemacht wurden. Unbestreitbar ist allerdings, dass der Aufbau eines neuen Schulsystems und einer Gesundheitsversorgung für alle sowie die Verbesserung der Rechte der Frauen einen Riesenfortschritt und ein Novum für die Region darstellten. Die Saudis jedenfalls waren nicht erfreut.
Erwartungsgemäß begannen Anfang der 1980er-Jahre die Nachbarländer des Südjemen – Saudi-Arabien, die Golfstaaten, Nordjemen – mit Unterstützung der Reagan-Regierung eine Gegenrevolution zu organisieren. Vorbild waren die Contras in Nicaragua, die damals gegen die Sandinisten-Regierung kämpften. Ein geeignetes Instrument fanden sie in Ali Nasir Muhammad, einem brutalen, machtbesessenen, fast analphabetischen Apparatschik. Der war 1980 zum Präsidenten der DVRJ gewählt worden, nachdem sein Vorgänger, der charismatische Abdul Fattah Ismail, aus „gesundheitlichen Gründen“ zurückgetreten war. Ismail kehrte erst 1985 nach einer langen Rekonvaleszenz aus Moskau zurück. Er hatte eine führende Rolle im Kampf gegen die britische Kolonialmacht gespielt und genoss deshalb noch große Unterstützung. Bald nach seiner Rückkehr wurde er erneut ins Politbüro der Staatspartei gewählt, wo er eine Mehrheit der Mitglieder hinter sich hatte.
Am 13. Januar 1986 fuhr Ali Nasirs Staatskarosse vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Partei vor. Dort fand eine Sitzung des Politbüros statt, zu der Ali Nasir allerdings nicht erschien. Stattdessen stürmten seine Leibwächter, vollgepumpt mit Drogen und bewaffnet mit Scorpion-Maschinenpistolen, in die Sitzung. Sie erschossen den Vizepräsidenten Ali Ahmed Antar und nahmen dann alle Anwesenden unter Feuer. Vier Mitglieder des Politbüros, darunter Abdul Fattah Ismail, und acht ZK-Mitglieder wurden getötet. In der ganzen Stadt brachen wilde Schießereien aus, Ismails Haus wurde von Mörsergranaten zerstört. Kurz nach zwölf Uhr mittags hieß es auf Radio Aden und im Fernsehen, der Präsident habe einen Putschversuch von rechts vereitelt, Ismail und seine Mitverschwörer seien hingerichtet worden. Drei Stunden später meldete der arabische Dienst der BBC, der „gemäßigte und pragmatische“ Präsident des Jemen habe einen Putschversuch der harten Kommunisten abgewendet. Diese Linie übernahmen auch die meisten westlichen Medien: Die Putschisten hätten versucht, das Land noch mehr zu radikalisieren. Und zwar mit Unterstützung Moskaus – wo inzwischen Gorbatschow an der Macht war.
Als sich die Nachricht von dem Gemetzel in Aden verbreitete, ging die Bevölkerung auf die Straße. Soldaten besetzten das Verteidigungsministerium und die Kommandozentrale, wo sich Nasirs Leute eingenistet hatten. Die Kämpfe gingen die ganze Nacht weiter. Viele unbewaffnete Parteimitglieder, Gewerkschafter und Bauernvertreter, die auf vorbereiteten Listen standen, wurden von Nasirs Soldaten umgebracht. Doch nach fünftägigen schweren Kämpfen hatten die „pragmatischen Gemäßigten“ verloren. Nasir und seine Leute flohen in den Nordjemen und anschließend nach Dubai. Heute betreibt Ali Nasir ein „Kulturzentrum“ in Damaskus, von wo er auch diverse andere Geschäfte betreibt.
Das Gemetzel im Zentralkomitee war der Anfang vom Ende der Demokratischen Volksrepublik Jemen. Die vom Westen gestützten Regime der Region, die den Showdown organisiert hatten, propagierten immerfort, der Süden werde von sozialistischen Verbrechern beherrscht. Als die Sowjetunion zusammenbrach, kam es zu Verhandlungen zwischen dem Süden und dem Norden, die im Mai 1990 mit der Wiedervereinigung des Jemen endeten. An der Spitze steht seither ein fünfköpfiger Präsidentschaftsrat, in dem beide Landesteile vertreten sind. 1991 wurde dann eine neue Verfassung verabschiedet, die alle rechtlichen Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit aufhob.
Doch die Vereinigung lief nicht gut. Die Bewohner des Südens hatten das Gefühl, dass ihre Interessen verraten wurden. Und die ständigen Streitereien waren kein gutes Omen für die Koalitionsregierung, die nach den ersten Wahlen zustande kam. Präsident des vereinigten Landes wurde Ali Saleh, das frühere Staatsoberhaupt des Nordens. Die beiden Gruppen gerieten schnell aneinander. Die Sozialisten beschwerten sich, dass sie in Sana’a und anderen Städten von bewaffneten Gruppen des Präsidenten angegriffen wurden. Überall im Süden kam es zu Scharmützeln zwischen den Truppen aus dem Norden und den Resten der alten südjemenitischen Armee.
1994 brach ein kurzer, erbitterter Krieg aus, in dem auch dschihadistische Gruppen und Ussama Bin Laden mitmischten, Letzterer auf der Seite von Ali Saleh. Die klaren Verlierer waren am Ende die Jemeniten des Südens, und zwar nicht nur in militärischer, sondern auch in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Nordstaatler rissen sich Grundbesitz und städtische Immobilien unter den Nagel. Die Frauen wurden gedrängt, sich von Kopf bis Fuß zu verschleiern. In Aden erzählte mir eine Frau (mit unverschleiertem Gesicht): „Der Druck war brutal. Wenn wir nicht voll verschleiert waren, wurden wir als Prostituierte beschimpft. Damals kam es zu vielen Vergewaltigungen.“
In Aden ging mir schnell auf, dass die islamistischen Terroristen der AQAP für die Menschen noch das geringste Problem sind. Die meisten Südjemeniten wünschen sich sehnlichst ihre Unabhängigkeit vom Norden zurück. Immer wieder sagte man mir: „Das hier ist keine Vereinigung, sondern Besatzung.“ Aber es gibt keine politische Führung, und in Sana’a hält sich das Gerücht, Präsident Ali Saleh plane, den alten Schlächter Ali Nasir, den er für eine „integrative Figur“ halte, wieder in die Politik zurückzuholen.
Der Staat schießt mit Granaten auf Journalisten
Bei Demonstrationen in den Dörfern und Kleinstädten des Südens werden Porträts von Ali Saleh mit zerkratztem Gesicht herumgetragen, außerdem die zerrissene Flagge des Einheitsstaats. Und überall flattert wieder die alte Fahne der DVRJ. Das Regime reagiert mit Repressalien, die nur noch mehr Verbitterung auslösen. Am 1. März dieses Jahres umstellten Soldaten das Haus von Ali Yafie und zerstörten es. Der Besitzer und acht Mitglieder seiner Familie wurden getötet, darunter seine siebenjährige Enkeltochter. Am Tag zuvor hatte Ali Yafie ein Konterfei des Präsidenten öffentlich verbrannt. In der Regierungspropaganda hieß es, er sei Mitglied der AQAP.
Ebenfalls in Aden hatten Sicherheitskräfte bereits am 4. Januar das Haus von Hisham Bashraheel, dem Herausgeber der Tageszeitung Al-Ayyam umzingelt. Das seit 1958 bestehende Blatt hatte regelmäßig über Brutalitäten der staatlichen Organe berichtet, mitsamt Fotos, zum Beispiel von Exsoldaten, die von Sicherheitskräften erschossen worden waren, als sie für die Auszahlung ihrer Renten demonstrierten.
Al-Ayyam war seit Mai 2009 verboten, aber die Redaktionsräume dienten nach wie vor als Treffpunkt von Journalisten, Intellektuellen und Menschenrechtlern. Als das Gebäude umstellt wurde und Freunde der Zeitung zu Hilfe eilen wollten, wurden sie durch Schüsse in die Luft vertrieben. Dann schlugen Mörsergranaten ein; der Verleger und seine Familie überlebten wie durch ein Wunder in einem Kellerraum. Bashraheel und seine beiden Söhne ergaben sich erst am nächsten Morgen unter den Augen der Öffentlichkeit, damit die Soldaten sie nicht ohne weiteres umbringen konnten.
In Aden hat mir ein Aktivist etwas erzählt, das er von „Freunden in der Polizei“ erfahren hat. Angeblich hatte die Polizei in einem Auto ohne Nummernschilder zwei anonyme Leichen herangeschafft, die sie für den Fall, dass der Verleger und seine Familie getötet worden wären, in dem Haus abgelegt und als AQAP-Kämpfer präsentiert hätten, die bei der Belagerung umgekommen seien. Ein von der Familie angestellter Leibwächter wurde erschossen, als er sich der Polizei ergeben wollte. Sein Vater wurde beim Begräbnis seines Sohns verhaftet. Bashraheel selbst wurde wegen „Bildung einer bewaffneten Gruppe“ angeklagt.4
Auf meinen Reisen durch den Süden kam ich auf dem Weg von Aden nach Mukallah durch Shibam. Der Anblick der ummauerten Stadt ließ mich die Politik für einen Augenblick vergessen. Die mehrstöckigen Häuser aus Lehmziegeln waren die Kulisse, vor der Pasolini viele Szenen seiner Filmversion von „Tausendundeine Nacht“ gedreht hat. Zurück in Rom schwärmte, er so lange über die Architektur von Shibam, bis die Unesco die ganze Stadt zum „Weltkulturerbe“ deklarierte.
In dieser Stadt wurden kürzlich vier südkoreanische Touristen getötet, als sie die Stadt von einem Hügel aus fotografieren wollten. Die Täter sollen AQAP-Selbstmordattentäter aus dem Norden gewesen sein. Als ich Einheimische fragte, was sie von der AQAP wissen, flüsterte mir einer ins Ohr: „Willst du wissen, wo die AQAP ihre Stützpunkte hat? – In einem Büro gleich neben dem Präsidenten.“ Ähnliches sagen die Leute auch in Aden und Sana’a.
Letzte Weihnachten ließ das Regime zwei Dörfer im Süden mit Bomben und (von US-Experten gesteuerten) Drohnen angreifen. Angeblich habe Anwar al-Awlaki sich dort versteckt, der jemenitische Prediger mit amerikanischem Pass, der den Attentäter mit der Bombe in der Unterhose ausgebildet hat. Gefunden wurde er nicht, aber mehr als zehn Dorfbewohner starben bei dem Angriff.
Das Regime sieht sich auch durch einen Aufstand in der Provinz Sa’ada bedroht, die im Norden an Saudi-Arabien grenzt. Die Bewohner dieser Gebirgsregion sind Zaiditen. Weil die Regierung in Sana’a ihnen nicht hilft, sich gegen die Übergriffe wahabitischer Prediger zur Wehr setzen, greifen sie zur Selbstverteidigung. Als Stammesmilizen im letzten Herbst mehrere saudische Soldaten gefangen nahmen, konnte die Welt am 5. November erstmals die saudische Luftwaffe in Aktion bewundern (zahlenmäßig die drittstärkste Luftwaffe der Welt nach den USA und Israel).
Präsident Ali Saleh sprach erwartungsgemäß von einer schiitischen, mithin von Teheran unterstützten Rebellion, die man mit militärischer Härte ersticken müsse. Aber die Version nimmt ihm kaum jemand ab. Im August 2009 zerstörte die jemenitische Armee in einer Art „Operation Verbrannte Erde“ viele Dörfer und zwang 150 000 Menschen zur Flucht. Über die Grausamkeiten der Regierungssoldaten erfährt die Welt nichts, weil die Regierung eine Informationssperre verhängt und Hilfsorganisationen aus der Region verbannt hat.
Muhammad al-Maqaleh, Chefredakteur der Zeitung der jemenitischen Sozialistischen Partei, hat Berichte von Augenzeugen gesammelt und ins Netz gestellt. Beschrieben und mit Fotos dokumentiert wird auch ein Angriff der Luftwaffe irgendwo in Sa’ada, bei dem 87 Flüchtlinge getötet wurden. Weil er das publik gemacht hat, wanderte al-Maqaleh für vier Monate ins Gefängnis. Dort wurde er gefoltert, unter anderem durch eine simulierte Hinrichtung. Als er schließlich vor Gericht erschien, konnte er schildern, was ihm widerfahren war.
Sana’a ist natürlich nicht Kabul, aber wenn das Regime weiterhin so viel Gewalt anwendet, wird ein neuer Krieg zwischen den beiden Teilen des Jemen immer wahrscheinlicher.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Tariq Ali ist Schriftsteller, Filmemacher, Journalist und langjähriges Mitglied der Redaktion von New Left Review. Er lebt in London.
© London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin