12.05.2006

Zur Ware gemacht und wie Ware transportiert

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Zur Ware gemacht und wie Ware transportiert

Vor 200 Jahren wurde der transatlantische Sklavenhandel verboten. Erst danach begann in der Neuen Welt die Hochphase der Sklaverei von Steven Hahn

Der Sklavenhandel ist seit langem ein heftig diskutiertes Thema. Mit moralischen und politischen Argumenten wird er bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angegriffen. Heute bezieht sich die Kritik am Sklavenhandel auch auf seine historischen Auswirkungen. Diese neuere Debatte ist eng verknüpft mit den antikolonialen Kämpfen und Debatten und letztendlich auch mit einer kritischen Einschätzung der Moderne und der gesamten postkolonialen Entwicklung.

Damit ist der Sklavenhandel in den Brennpunkt heftiger Kontroversen geraten. Dabei herrscht unter den Historikern und anderen wissenschaftlichen Experten in den USA längst ein bemerkenswert breiter Konsens über viele zentrale Aspekte des Sklavenhandels. In den letzten vierzig Jahren haben die Fachhistoriker eine Riesenmenge an Daten zusammengetragen, die ein überaus differenziertes Bild davon ergeben, wie der Handel mit Menschen entlang der Westküste Afrikas entstanden ist und wie die Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks durch den Sklavenhandel transformiert wurden.

Die historische Forschung über den transatlantischen Sklavenhandel zielte ursprünglich, wie auch die über das System der Sklavenhaltung, auf eine moralische und politische Verurteilung. Das ist auch heute noch der Fall. Doch in den letzten fünfzig Jahren hat sich der Schwerpunkt verschoben. Die Studien über den Sklavenhandel befassen sich nicht mehr so sehr mit dem erlittenen Unrecht, der kulturellen Entwurzelung und den zerstörerischen ökonomischen Auswirkungen als vielmehr mit den beteiligten Agenturen, dem Widerstand der Sklaven und der kulturellen Kommunikation innerhalb einer unstabilen Kräftebalance.

Diese neuen Schwerpunkte der historischen Forschung zeigen sich an einigen ihrer zentralen Themen. Dazu gehören der Umfang des Sklavenhandels und dessen Folgen für die vielen Gesellschaften in Afrika wie in Nord- und Südamerika sowie die Erfahrung der Sklaven während der so genannten Middle Passage (siehe Karte).

In seiner 1969 veröffentlichten Studie „The Atlantic Slave Trade: A Census“, unternahm Philip Curtin auf nicht einmal 300 Seiten den Versuch, den Umfang des Sklavenhandels über seine gesamte Dauer von etwa vier Jahrhunderten abzuschätzen. Curtin stützte sich dabei auf veröffentlichte Quellen, die allgemein zugänglich, wenn auch sehr verstreut waren. Aber er räumte offen ein, seine Resultate könnten keinerlei Anspruch auf Genauigkeit erheben.

Curtin konnte eine ungeheure Fülle quantitativer Daten über die wichtigsten Aspekte des Sklavenhandels präsentieren: von der Zahl der Sklaven, die aus verschiedenen Exportregionen in Afrika abtransportiert wurden, bis zur Zahl derer, die dann in den verschiedenen Importregionen jenseits des Atlantiks ankamen. Und er konnte plausibel aufzeigen, wie sich die Herkunftsgebiete und Bestimmungsorte verschoben haben und wie die Zahl der Sklaven in den ersten 250 Jahren ständig zunahm, bis der Handel im Lauf des 18. Jahrhunderts seine höchste Intensität erreichte, um dann im 19. Jahrhundert wieder zu schrumpfen. Als Curtin sein Buch verfasste, wurde die Gesamtzahl des Handels im Allgemeinen auf 15 bis 25 Millionen Sklaven taxiert. Er selbst setzte die Zahl deutlich tiefer an, auf 10 bis 12 Millionen Menschen.

Das Erstaunliche an dem Buch von Curtin ist, dass es auch 35 Jahre später keineswegs überholt ist, obwohl seitdem neue Archivmaterialien zugänglich geworden sind. Diese haben dazu geführt, dass der zahlenmäßige Umsatz des Sklavenhandels heute höher angesetzt wird, bei etwa 12 bis 15 Millionen. Doch was die Exporte, die Importe und die Zeitphasen betrifft, so stellen die neueren Arbeiten das von Curtin skizzierte Bild substanziell nicht in Frage.

Gewandelt hat sich dagegen unser Verständnis der Wechselwirkungen zwischen der politischen Ökonomie des transatlantischen Sklavenhandels und der des westlichen Afrika während des gesamten ausgedehnten Zeitraums, in dem dieser Handel andauerte. In dieser Hinsicht untergrub die Forschung mit der Zeit das zu simple Bild von der Entwicklung des Sklavenhandels und der Machtbeziehungen, die sich darin auszudrücken schienen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts neigten die Historiker im Bann ihrer eigenen kolonialistischen Perspektive noch dazu, den Sklavenhandel – wie die Sklavenhaltung – als ein relativ segensreiches Unternehmen zu sehen, das für Afrika historisch eine zivilisierende Rolle gespielt habe.

In dieser Darstellung wurden unwissende Heiden aus ihrem „dunklen Kontinent“ in eine neue Welt gebracht, wo man sie nach den Standards des fortgeschrittenen – und christlichen – Westens unterweisen konnte. Einige der damaligen Historiker beschrieben den Sklavenhandel sogar als Teil eines groß angelegten pädagogischen Experiments, das ein hoffnungslos rückständiges Afrika für die segensreichen Einflüsse Europas öffnete und die Sklaven den paternalistischen Einflüssen ihrer euro-amerikanischen Besitzer zuführte.

Es gab freilich auch Gegenstimmen, vor allem von schwarzen Historikern. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich aufgrund des Prozesses der Entkolonialisierung und der Bürgerrechtsbewegungen ein neues Gesamtbild zu formieren, das die alten Auffassungen praktisch auf den Kopf stellte. Die dunklen Kontinente waren jetzt Europa und Nord- und Südamerika, während Afrika der friedliebende Kontinent war. Die Sklavenhändler wurden zu Invasoren und Kolonisatoren, die Millionen Afrikaner aus ihrer Heimat verschleppten und in die Hölle der Sklaverei stießen. Und der Handel und die europäischen Kolonisatoren hatten Afrika ausgeplündert und so die Profite gemacht, mit denen die Industrialisierung vorangetrieben und der ökonomische Fortschritt in Europa und Nordamerika finanziert wurde.

In den Augen von Historikern wie Eric Williams aus Trinidad und Walter Rodney aus Guyana, die zugleich politische Aktivisten waren, marschierten die Entwicklung Europas und die Unterentwicklung Afrikas im Gleichschritt.

Diese kritische Sicht ist moralisch und politisch noch immer wirkungsmächtig und hat in einigen intellektuellen Zirkeln und in vielen Bildungsinstitutionen nach wie vor viele Anhänger, was zum Teil daran liegt, dass sie das internationale Machtgefälle thematisiert, das offenbar die Versklavung von Afrikanern erst ermöglicht hatte. Auch heute noch fußen die meisten populären Darstellungen des Sklavenhandels auf dieser oder jener revidierenden Lesart. Doch in der neueren Forschung wurde eine andere Sicht der Dinge erarbeitet, die die kritische Absicht nicht untergräbt, sondern nur zeigt, dass es weitaus komplizierter war.

Heute wissen wir, dass die Portugiesen und andere Europäer, die seit Mitte des 15. Jahrhunderts die Westküste Afrikas entlang nach Süden segelten, mit einer Welt in Kontakt kamen, die ökonomisch wie politisch ein Entwicklungsniveau erreicht hatte, das mit dem von großen Teilen Europas vergleichbar war. Afrikaner betrieben zum Beispiel Bergwerke und Manufakturen, Ackerbau und Viehzucht und jahrhundertelang auch schon Fernhandel, vor allem in Richtung Norden. Es war offenbar auch das Wissen um diese kommerziellen Aktivitäten, die das Interesse der Europäer an Westafrika geweckt hatte. Während der gesamten Epoche des Sklavenhandels war Afrika zu keinem Zeitpunkt von den Waren abhängig, die Europa exportierte. Die Europäer hatten schlicht nichts zu bieten, was die Afrikaner nicht selbst produziert hätten. Das Einzige, was die Europäer ihnen verkaufen konnten, waren Dinge, die als Luxusgüter gelten können, insofern sie bei den Afrikanern nur aus Statusgründen oder um der Abwechslung willen begehrt waren.

Der transatlantische Sklavenhandel entstand also im Rahmen der sich intensivierenden Handelsbeziehungen zwischen Europäern und Westafrikanern. Doch dieser Handel konnte – und das ist von entscheidender Bedeutung – an Strukturen der Sklaverei und des Sklavenhandels anknüpfen, die in Afrika längst verbreitet waren. Die herrschende Überzeugung, dass die Sklaverei hauptsächlich eine europäische Erfindung war – und in ihrer rassischen Ausprägung ein Produkt des modernen Zeitalters – ist von der Wahrheit weit entfernt. Umfassende Systeme der Sklavenhaltung gab es bereits in der Antike und später in bestimmten Epochen fast auf der ganzen Welt, unter anderem auch in Asien und Afrika.

Die Nutzung von Sklaven, die vornehmlich Kriegsgefangene waren, war in Afrika schon lange vor dem 15. Jahrhundert verbreitet. Und zwar vor allem bei Kaufleuten oder Staatsbediensteten, die einen Sklaven als private Investition betrachteten oder als loyales Hausfaktotum schätzten. Bereits im 9. Jahrhundert hatte sich zwischen West- und Nordafrika ein lebhafter Sklavenhandel entwickelt, der auch mit den von Muslimen dominierten Handelsnetzen des Mittelmeerraums und des Fernen Ostens verknüpft war. Das bedeutet aber, dass der transatlantische Sklavenhandel den Afrikanern nicht etwa von den Europäern aufgezwungen wurde. Er war vielmehr eine bestimmte – und zunehmend scheußliche – Spielart von etwas, was in Afrika bereits existierte.

Dass es in Afrika so viele Sklaven gegeben und dass ein interner Sklavenhandel schon lange existiert hatte, bedeutete zum einen, dass die Europäer auf Praktiken und Institutionen zurückgreifen konnten, die den Westafrikanern bereits vertraut waren. Zum anderen bedeutete es aber auch, dass der Sklavenhandel vornehmlich in afrikanischen Händen verblieb. Die Europäer hätten es durchaus vorgezogen, entlang der Küste Westafrikas selbst die Macht zu übernehmen und die Versorgungsquellen direkt zu kontrollieren, doch das verhinderten sowohl die politische und militärische Stärke der verschiedenen afrikanischen Staaten wie auch die von Afrikanern aufgebauten ökonomischen Verbindungsnetze.

Mit anderen Worten: Die Afrikaner versklavten sich gegenseitig. Und zwar zumeist im Zuge militärischer Konflikte zwischen den regionalen Staaten, auf die Europäer wenig oder gar keinen Einfluss hatten. Afrikaner waren es auch, die Sklaven – weitgehend ohne Beteiligung von Europäern – aus dem Hinterland an die Küsten transportierten. Und auch hier sorgten wiederum Afrikaner für die Unterbringung der Sklaven und verkauften sie direkt an europäische Händler. Die Europäer blieben auf eine Kette von Stützpunkten entlang der Küste beschränkt. Von hier aus konnten sie ihre Geschäfte betreiben, deren Bedingungen hauptsächlich von Afrikanern bestimmt wurden.1

Wenn die Europäer in Afrika weder den Sklavenhandel eingeführt noch den Prozess der Versklavung beherrscht haben, stellt sich die Frage, welchen Einfluss der transatlantische Sklavenhandel auf die afrikanischen Gesellschaften hatte. Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, doch es zeichnet sich immerhin schon ab, in welche Richtung sie geht. Vor nicht allzu langer Zeit ging die Forschung davon aus, dass der transatlantische Sklavenhandel verheerende Folgen sowohl für die betroffene Bevölkerung als auch für die sozialen und politischen Strukturen der afrikanischen Gesellschaften hatte. Damals waren die Historiker überzeugt, die Beteiligung der Europäer habe die Wirkungen des Sklavenhandels drastisch verschärft, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens seien die innerafrikanischen Kriege angeheizt worden, zweitens seien durch den Einsatz europäischer Waffen die politischen Kosten des Kriegführens drastisch gestiegen und sei das menschliche Leid verschlimmert worden, und drittens habe der transatlantische Handel zu einer demografische Katastrophe geführt.

Heute sieht man die Dinge nicht mehr so eindeutig. Die historische Forschung geht offenbar nicht mehr davon aus, dass die europäische Nachfrage nach Sklaven einen wesentlichen Einfluss auf die Kriege zwischen afrikanischen Staaten hatte. Inzwischen nimmt man an, dass diese Kriege zumeist durch die politische Fragmentierung dieser Staaten ausgelöst wurden. Das heißt aber, dass Sklaven sowohl ein Nebenprodukt dieser politischen Kämpfe waren, als auch ein Mittel, das die einander bekriegenden Staaten zum Ausbau und zur Zentralisierung ihrer Macht nutzen konnten. Die von Europäern gelieferten Waffen spielten zwar in einigen Fällen gewiss eine Rolle, aber nichts spricht dafür, dass es eine entscheidende war. Kurzum: Es scheint keine Anhaltspunkte für die Auffassung zu geben, dass die innerafrikanischen militärischen Konflikte infolge des Kontakts mit Europäern eskalierten, woraufhin die Afrikaner gezwungen gewesen wären, sich an dem transatlantischen Sklavenhandel zu beteiligen, um ihr politisches Überleben zu sichern.

Schwieriger ist es, die demografischen Auswirkungen exakt zu messen, die der transatlantische Sklavenhandel kurz- wie langfristig innerhalb Afrikas hatte. Herbert Klein geht davon aus, dass um 1700 etwa die Hälfte der Bevölkerung des subsaharischen Afrika im Einzugsbereich des Sklavenhandels lebte, das wären rund 25 Millionen Menschen.2 Nach diversen Schätzungen, die von unterschiedlichen Zahlen ausgehen, ist die Bevölkerung alles in allem entweder viel langsamer (wenn überhaupt) gewachsen oder womöglich sogar absolut geschrumpft.3 Fest steht jedenfalls, dass die demografischen Folgen in einigen Gebieten Westafrikas erheblich waren, dass viele dieser Gebiete praktisch entvölkert wurden und dass die Auswirkungen auf das afrikanische Wirtschaftswachstum negativ und in einigen Fällen katastrophal waren.

Die Folgen des Sklavenhandels machten sich auf beiden Seiten des Atlantiks und in ganz Nord- und Südamerika bemerkbar. Dieser Handel war entscheidend für die Entstehung einer völlig „neuen Welt“ für diejenigen Afrikaner, Europäer und indigenen Amerikaner, die es innerhalb der westlichen Hemisphäre miteinander zu tun bekamen. Der Sklavenhandel brachte ganz neue Formen gesellschaftlicher Organisation, kultureller Interaktion und politischer Machtausübung hervor. Im Zentrum stand die auf Sklavenarbeit basierende Plantagenwirtschaft, die hauptsächlich Zucker für die aufblühenden europäischen Märkte produzierte.

Die ersten Zuckerplantagen waren – lange vor Beginn des transatlantischen Sklavenhandels – im Mittelmeerraum entstanden und wurden dann auf Madeira, den Kanarischen Inseln und der westafrikanischen Insel Sao Tomé angelegt, bevor sich diese Wirtschaftsweise noch weiter nach Westen über den Atlantik ausbreitete. Mitte des 16. Jahrhunderts erfuhr die Plantagenwirtschaft eine enorme Expansion in der portugiesischen Besitzung Brasilien, und Mitte des 17. Jahrhunderts erreichte sie unter Mithilfe der Holländer die karibischen Inseln, die später unter französische und britische Herrschaft gerieten. Nach einer kurzen Phase von Experimenten mit eingeborenen oder weißen Kontraktarbeitern wurden die Plantagen überall von Afrikanern bearbeitet, die der transatlantische Sklavenhandel anlieferte.

In allen Kolonien, die auf der Zuckerrohrplantagenwirtschaft basierten, war das Leben dieser afrikanischen Sklaven „schrecklich, hart und kurz“. Bereits 1650 wurden jedes Jahr 7 000 von ihnen übers Meer verfrachtet, davon die meisten nach Brasilien. Bis 1 700 waren es alljährlich bereits nahezu 25 000, die gleichmäßig auf die portugiesischen, britischen, französischen und spanischen Besitzungen verteilt wurden. Diese Entwicklung erreichte ihren schrecklichen Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als jedes Jahr zwischen 60 000 und 80 000 afrikanische Sklaven in Amerika ankamen, die großenteils in Brasilien, Jamaica und St. Domingo abgeliefert wurden. Die Zahl der Sklaven schoss damals so enorm in die Höhe, weil die Zuckerwirtschaft fantastische Profite abwarf und es für die Plantagenbesitzer im Allgemeinen billiger war, ihre Sklaven zu irrwitzigen Arbeitsleistungen anzutreiben und die zahlreichen „Ausfälle“ durch neue Lieferungen zu ersetzen, als die natürliche Reproduktion ihrer Sklaven zu fördern. Wer die Middle Passage durchgemacht hatte, überlebte die folgende Sklavenarbeit selten länger als fünf Jahre.

Die große Ausnahme in diesem historischen Gesamtprozess war Nordamerika. Auf der einen Seite gab es in den USA bis zur Sklavenbefreiung in der Zeit des Sezessionskrieges (1861–1865) 4 Millionen Sklaven – mehr, als es davor und danach irgendwo in Amerika gegeben hat. Diese Zahl lag doppelt so hoch wie die Höchstzahl in Brasilien und etwa zehnmal so hoch wie im französischen Santa Domingo (Haiti), der lukrativsten Plantagenkolonie der Welt, kurz vor dem großen Sklavenaufstand der 1790er-Jahre. Auf der anderen Seite importierten die Vereinigten Staaten (als Kolonie, aber auch nach der Unabhängigkeit) unter allen Sklavenhaltergesellschaften die wenigsten Sklaven, nämlich zwischen 400 000 und 600 000. Die britischen Karibikinseln importierten dagegen 1,6 und die französischen 1,7 Millionen. Insgesamt 4 Millionen Sklaven gingen nach Brasilien, in das Land der westlichen Hemisphäre, in dem der Sklavenhandel wie die Sklavenhaltung am längsten andauerten.

Diese Besonderheit im Fall Nordamerika erklärt sich nicht so sehr aus einer „besseren Behandlung“ der Sklaven als vielmehr aus der Art der Plantagenprodukte, deren Anbau keine so harte Arbeit erforderte und die auf dem Weltmarkt nicht so hohe Erlöse erzielten. Zuckerrohrplantagen entstanden nur in wenigen Regionen am Unterlauf des Mississippi um New Orleans und großenteils erst nach dem Ende des transatlantischen Sklavenhandels. Anderswo arbeiteten die Sklaven auf Tabakpflanzungen und auf Weizen- und Reisfeldern, wo die Sterblichkeitsraten im Allgemeinen niedriger lagen als in den Zuckerkolonien. So hat sich die Sklavenbevölkerung Nordamerikas bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf natürliche Weise reproduziert. Das mag erklären helfen, warum die Sklavenhalter in den USA schon 1808 dem Verbot des transatlantischen Handels zustimmten, nachdem sie allerdings in den zehn Jahren davor reichlich neue Sklaven importiert hatten. Der Baumwollboom, der die Südstaaten zur größten Sklavenhalterökonomie der Welt machte, kam erst danach in Gang, war dann aber auf eine ausreichende Reproduktion der einheimischen Sklavenbevölkerung angewiesen – und auf einen Sklavenhandel ganz anderer Art.

Die Expansion der Baumwollplantagen in die Binnenstaaten des Südens erforderte keine neuen Arbeiter, wohl aber eine umfangreiche Umsiedlung von Sklaven aus dem so genannten Upper South (Virginia, North und South Carolina) in den so genannten Lower oder Deep South. Einige dieser Sklaven wurden von ihren weiterwandernden Eigentümern mitgenommen, aber andere – vielleicht eine Million – wurden verkauft und damit aus ihrem über lange Zeit entwickelten Netzwerk von Familie und Freunden herausgerissen, um dann, häufig über den Sklavenmarkt von New Orleans, auf den Feldern des Deep South zu landen. Der Sklavenhandel zwischen den US-Staaten übertraf seinem Umfang nach alle transatlantischen Handelsströme des 19. Jahrhunderts, mit Ausnahme der Lieferungen von Afrika nach Brasilien.

Diese geografische Verlagerung von Sklaven innerhalb der USA wurde selbst von seriösen Forschern, die sich mit der Sklavenfrage beschäftigt haben, unterschätzt oder ganz ignoriert. Sie wird erst jetzt in wichtigen Forschungsarbeiten aufgegriffen. Diese beschäftigen sich nicht nur mit der Anzahl der Sklaven, die zwischen den US-Bundesstaaten gehandelt wurden, sondern auch mit deren komplexen Erfahrungen, zur Ware gemacht und wie Ware transportiert zu werden. Mit anderen Worten: die Middle Passage des inneramerikanischen Handels stellt eine neue Herausforderung für die US-amerikanische Forschung dar. Aber auch die größere Middle Passage des transatlantischen Sklavenhandels bleibt ein wichtiges Gebiet, was zum Teil daran liegt, dass die darauf bezogenen Bilder innerhalb der Ikonografie der Sklaverei eine so gewaltige moralische Wucht entwickelt haben. Die überfüllten Sklavenschiffe wurden ebenso zum Sinnbild für die Schrecken der Sklaverei wie die Peitsche oder zerfetzte Sklavenhaut. Die Aktivisten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, richteten ihren Kampf zunächst gegen den Sklavenhandel, weil sie hofften, dessen Beendigung werde den Plantagensklaven bessere materielle Bedingungen verschaffen und könnte auch den Sklavenhaltern ökonomisch vorteilhaft erscheinen.

Doch die Beendigung des Sklavenhandels bedeutete keineswegs schon die Abschaffung der Sklaverei, die sich als weitaus komplizierter und langwieriger herausstellte und am Ende nicht ohne die aktive Beteiligung der Sklaven selbst möglich war. Allerdings lag es zu einem gut Teil an der Annahme einer solchen Verknüpfung, dass die Gegner der Sklaverei in Großbritannien 1807 und in den USA 1809 in der Lage waren, die offizielle Beteiligung ihrer Staaten am transatlantischen Sklavenhandel zu beenden.4 Die Briten setzten damals sogar ihre Kriegsflotte gegen den weiter betriebenen Sklavenhandel in Richtung Kuba und Brasilien ein, der dann aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig unterbunden wurde.

Die Ikonografie der Middle Passage war deshalb so wirkungsvoll, weil sie eine neue kulturelle Sensibilität ansprach, die für Themen wie Familie und Geschlechterverhältnis, Sexualität und Körper empfänglich war. Durch das Zwangsverhältnis der Middle Passage wurden die Betroffenen aus ihren Familien- und Gemeinschaftsbezügen gerissen. Sie wurden tage- und wochenlang zusammengepfercht, ohne nach Geschlecht zu trennen und ohne minimale Regeln des Anstands zu gewährleisten. Die Menschen waren so furchtbaren Ängsten und Leiden ausgesetzt, dass sich viele lieber das Leben nahmen.

Seit einigen Jahrzehnten haben die Historiker der Middle Passage immer mehr Informationen über die Sterblichkeitsrate zutage gefördert, die ein finsteres Bild ergeben. Philip Curtin schätzte noch, dass zwei von zehn Sklaven, die an der Westküste Afrikas auf die Schiffe geladen wurden, vor ihrer Ankunft in Amerika verstarben, und in vielen Fällen lag dieser Anteil noch weit höher. Neuere Forschungen bestätigen, dass eine Sterberate von 20 Prozent in der Frühzeit des Sklavenhandels, im 16. und weit ins 17. Jahrhundert hinein, der Normalfall war. Aber die Historiker haben auch ein genaueres Bild dieser Middle Passage gewonnen. Ein maßgeblicher Faktor für die hohe Sterblichkeit war demnach wohl die Länge der transatlantischen Überfahrt: Je mehr Tage die Sklaven auf hoher See waren, desto mehr von ihnen starben. Entsprechend wurde die niedrigste Sterberate (etwa 6 Prozent) für den Handel mit Brasilien ermittelt. Und am Ende des 18. Jahrhunderts war die durchschnittliche Sterberate im gesamten transatlantischen Handel auf unter 10 Prozent gesunken.

Unbeantwortet bleibt dabei natürlich die historische Frage, wie sich die Sterberate der Sklaven während der Middle Passage im Vergleich zu der von anderen Seereisen dieser Epoche darstellt. Und hier ist das Bild nicht so klar. Auf der Transatlantikroute verkehrten ja nicht nur die Sklavenschiffe mit den Afrikanern und einer europäischen Besatzung, sondern auch Soldaten, Sträflinge, Kontraktarbeiter, freiwillige Auswanderer und Seeleute. Die besten verfügbaren Indizien legen den Schluss nahe, dass die Sterberate für all diese Atlantikfahrer bis Ende des 18. Jahrhunderts mit der Sterberate der transportierten Sklaven vergleichbar war und dass weiße Besatzungsmitglieder der Sklavenschiffe noch rascher verstarben als ihre Kollegen auf anderen Schiffen. Aber wir wissen auch, dass die Sterberate bei den Europäern schneller und auf ein niedrigeres Niveau zurückging als die auf den Sklavenschiffen. Die Seefahrt war damals eine tödliche Sache, aber am tödlichsten war sie für die Sklaven auf der Middle Passage.

Eine jahrzehntelange gewissenhafte und kreative Forschung hat zwar unser Wissen über die Sterblichkeit auf der Middle Passage stark erweitert, doch über die unmittelbaren Erfahrungen der Sklaven und der Besatzungen wissen wir noch immer fast nichts. Zwar erfährt man über die tägliche Routine auf den Sklavenschiffen einiges aus den Logbüchern oder aus den Planungen der Kapitäne und der Unternehmen, die den Sklavenhandel finanzierten, aber auch diese Quellen geben kaum Aufschluss über die Sichtweise der Sklaven oder derjenigen Seeleute und Arbeiter, die als Aufsichtspersonal angeheuert waren.

Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Sklaven und Besatzungsmitgliedern, aber auch für die Beziehungen unter den Sklaven selbst. Man kann sich vorstellen, welches Durcheinander von Gefühlen und Verhaltensweisen hier vorherrschte: eine Mischung aus Wut und Verwirrung, Fatalismus und Depressionen, aber auch aus heimlichen Absprachen, Verschwörungen und gelegentlich auch Rebellionen.5 Aber es ist noch nicht gelungen, aus originalen Quellen zu dokumentieren oder zu verstehen, wie sich die kulturelle Transformation, die an der afrikanischen Westküste begonnen hat, auf Deck und im Innern der Sklavenschiffe fortgesetzt hat. Das heißt, wie die afrikanischen Sklaven selbst diese Middle Passage beeinflusst haben und wie sie zugleich von ihr beeinflusst wurden. Auf diesem Gebiet steckt die Sozial- und Kulturgeschichte noch in den Kinderschuhen.

Fußnoten: 1 Siehe John Thornton, „Africa and Africans in the Making of the Atlantic World, 1400–1800“, New York (Cambridge University Press) 1998. 2 Herbert S. Klein (Hg.), „The Atlantic Slave Trade“, New York (Cambridge University Press) 1998. 3 Die vorsichtigste Schätzung geht von einem um 0,2 Prozent reduzierten Bevölkerungszuwachs aus, die extremste von einem absoluten Rückgang um nahezu 17 Millionen. Siehe David Eltis, „Economic Growth and the Ending of the Transatlantic Slave Trade“, New York (Oxford University Press) 1987; Joseph Miller, „Way of Death: Merchant Capitalism and the Angolan Slave Trade, 1730–1830“, Madison (University of Wisconsin Press) 1988. 4 In Frankreich hatte der Konvent am 4. Februar 1794 die Sklaverei abgeschafft, aber dieser Schritt blieb in den Kolonien ohne greifbare Folgen. 5 Diese Mischung wurde besonders gut von dem britischen Autor Barry Unsworth in seinem Roman „Sacred Hunger“ beschrieben, der den Sklavenhandel im 18. Jahrhundert behandelt. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Steven Hahn ist Professor für Nordamerikanistik an der University of Pennsylvania und Autor von „A Nation Under Our Feet: Black Political Struggles in the Rural South From Slavery to the Great Migration“, Cambridge (Harvard University Press) 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2006, von Steven Hahn