Blitzgescheit und nicht vermittelbar
von Mona Chollet
Ich bin eine aus der intellektuellen Unterschicht. Eine von denen, die Berge von Büchern, Zeitschriften, Webseiten, Flugblätter und Petitionen lesen und es damit trotzdem zu nichts bringen.“ Diese bittere Feststellung findet sich im anonymen Blog1 von Séverine, einer 28-jährigen Pariser Hochschulabsolventin, die zwischen Praktika, Sozialhilfe (RMI), Zeitverträgen und Arbeitslosigkeit hin und her pendelt.
So wie Séverine geht es Zehntausenden, die die „Vorstädte der Intelligenz“ bevölkern, wie Anne und Marine Rambach in ihrem Buch „Les intellos précaires“ (Die prekären Intellektuellen, Hachette 2002) schreiben. Hier stößt das übliche journalistische Verfahren, Aussagen zu sammeln und sie dann von angeblichen Experten bewerten zu lassen, an seine Grenzen, denn die „prekären Intellektuellen“ verfügen selbst über das notwendige theoretische Rüstzeug, haben ein starkes Interesse an der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung und sind somit kompetente Beobachter ihrer eigenen Situation. Zudem arbeiten einige von ihnen regelmäßig über das Thema Prekarität.
Die junge Zeitschrift Les Inrockuptibles beispielsweise hat hier eine Marktlücke entdeckt und lässt ihre Artikel von Heerscharen freier Journalisten schreiben, die kaum oder gar nicht bezahlt werden. Anne und Marine Rambach, beide um die dreißig, gehören selbst zu den „prekären Intellektuellen“, deren Merkmale sie wie folgt beschreiben: „Sie stammen aus privilegierten Verhältnissen oder haben sich das ‚symbolische Kapital‘ der ‚höheren‘ Klassen angeeignet, gehören dabei aber, was ihre Lebensbedingungen und ihr Einkommen anbelangt, den unteren sozialen Schichten an.“
Der Schriftsteller Yves Pagès, der in seinen Büchern die heutigen Patchwork-Karrieren2 vorweggenommen hat, arbeitet in einem Verlag. Dort trifft er Praktikanten, die manchmal, wie er sagt, „allein drei volle Schichten fahren“: „Manche verkaufen nachts um zwei Tickets an der Autobahn-Mautstelle 40 Kilometer vor Paris, andere arbeiten an der Kasse im Supermarkt.“
Gibt es da einen Zusammenhang? Die „prekären Intellektuellen“ geben mit ihrer Bildung nicht an. „Ich ziehe daraus kein Überlegenheitsgefühl“, sagt Séverine. „Das Minderwertigkeitsgefühl der anderen hat jedoch oft eine reale Grundlage.“ Wenn er Vorträge über sein Buch hält, findet Alexandre, dessen Promotion über ein ökologisches Thema ein großer Verlag veröffentlicht hat, die Anmerkungen der Zuhörer „mindestens genauso klug“ wie seine Thesen: „Die Leute lesen, sie informieren sich, besonders übers Internet.“ Er bedauert, kein Handwerk gelernt zu haben: „Meine einzige Qualifikation besteht darin, dass ich Word beherrsche. Das ist auf dem Arbeitsmarkt nicht viel wert.“ Lionel Tran, der in Lyon den Kleinverlag Terre Noire betreibt, verdankt sein handwerkliches Können einer geförderten Arbeitsmaßnahme in einer Druckerei: „Das hat mir gut getan. Als ich mit dem Studium fertig war, fühlte ich mich hilflos; ich hatte ja nichts Handfestes gelernt.“
Die weißen Masken der demonstrierenden Praktikanten, die zunehmende Verbreitung von Pseudonymen, die anonymen Blogs: Hier scheint eine ganze Bevölkerungsschicht am Gängelband willkürlicher Arbeitgeber zu einer Art Untergrundexistenz und ideologischer Guerilla verdammt. „In einer gesunden Arbeitssituation müssten die neu Eingestellten bestimmte Konflikte mit den älteren Kollegen austragen“, sagen Anne und Marine Rambach. „Dazu kommt es aber überhaupt nicht. Ein Wissenschaftler ohne Festanstellung wird die Ideen seines Laborchefs gutheißen, schon weil davon sein Broterwerb abhängt.“ Es gibt auch Sozialwissenschaftler, die befristet und ohne Sozialversicherung für die Europäische Kommission arbeiten und so dazu beitragen, dass die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse gerechtfertigt wird.
Intellektuelle ziehen oft auch, ohne dass sie politisch engagiert sind, Misstrauen auf sich. Yves Pagès erzählt von seinen Praktikanten: „Viele sind Idealisten, die Kleinstverlage oder Zeitschriften gegründet haben. In den etablierten Verlagen werden sie dafür oft schief angesehen. Die Schlüsselpositionen halten dort nämlich Alt-68er aus verschiedenen politischen Lagern, die im Lauf bunter, verschlungener Lebenswege auf ihre Posten gelangt sind. Ihr Credo lautet: ‚Wir sind dabei gewesen damals, es war fantastisch, aber es ist vorbei.‘ So haben sie beschlossen, von der nächsten Generation nur die jungen Leute vorzuladen und anzustellen, die frisch von den Eliteschulen kommen und auf wirtschaftlichen Pragmatismus gedrillt sind – eine ähnliche Entwicklung wie übrigens auch bei der Tageszeitung Libération. Es gibt daher eine ganze Menge als Verleger maskierte Geschäftsleute, die voll Hass auf die blitzgescheiten Praktikanten herabblicken, weil sie ihnen ihre eigene Halbbildung vor Augen führen.“
Anne und Marine Rambach führen in ihrem Buch den ganzen Reichtum der Gegenkultur auf, von alternativen Medien (Fernsehen, Radio, Websites u. a.) bis hin zu Suppenküchen, die von prekären Intellektuellen außerhalb der offiziellen Warenwelt betrieben werden.
Séverine war durch ihre Herkunft nicht gerade zur Politaktivistin prädestiniert, doch im Lauf vieler enttäuschender Erfahrungen in der Arbeitswelt ist sie politisch bewusster geworden und engagiert sich seitdem in verschiedenen Initiativen und Verbänden: „Ich habe eine andere Gesellschaft entdeckt, die neben der offiziellen existiert. Das hat mich gerettet.“
In ihrem neuen Roman „L’argent, l’urgence“ (POL 2006) erzählt Louise Desbrusses von einer prekären Intellektuellen, die unter dem Druck ihrer Schulden einen Zeitvertrag annehmen muss und nun den ganz normalen Wahnsinn der Arbeitswelt erlebt. Einige Kritiker nahmen an dieser Darstellung Anstoß – wo doch so viele Menschen verzweifelt auf der Suche nach einer Stelle seien. Die Autorin hielt ihnen entgegen: „Das wäre ja so, als wollte man den Einarmigen mit Rücksicht auf die Einbeinigen verbieten, sich zu beschweren.“