Die Tschetschenen sind Gefangene ihrer Angst
von Anne Nivat
Auch heute, fast sieben Jahre nach Beginn der zweiten russischen Militäroffensive in Tschetschenien, ist es noch sehr gefährlich – vor allem für Journalisten –, sich in die Gebiete vorzuwagen, in denen „Antiterroroperationen“ laufen.1 Um über Inguschetien ohne Einreiseerlaubnis in die „tschetschenisierte“ Republik zu gelangen, wo nach Jahren des Krieges der Schrecken der russischen Besatzung fast schon banaler Alltag geworden ist, muss man die Hauptstraße mit dem berüchtigten Kontrollposten Kavkas meiden und sich weiter im Osten auf schlammigen Feldwegen durchschlagen.
Auf dem Flug von Moskau erzählte mir Aza, eine schöne Inguschetin mit kastanienbraunem Haar und gepflegtem Make-up, sie reise zur Hochzeit ihrer 18-jährigen Nichte in ihrem Heimatort Sleptsowsk, der an der Grenze zu Tschetschenien liegt. Aza ist 50 Jahre alt und hat Grosny 1994, kurz vor Beginn der ersten Militärkampagne, in Richtung Moskau verlassen. Seitdem ist sie nicht in die tschetschenische Hauptstadt zurückgekehrt. „Ich will diese zerschossene, desolate Trümmerstadt gar nicht sehen. Das würde mir alle Erinnerungen an meine Kindheit und Studienzeit kaputtmachen“, sagt sie unter Tränen. „Wie konnte man nur zulassen, dass dieser Krieg alles vergiftet, sogar das Verhältnis zu unserem ‚Brudervolk‘? Wenn ich sehe, wie dieser Ramsan Kadyrow2 beim Joggen im Kreml neben Putin posiert, könnte ich vor Scham im Boden versinken! Wieso haben sie ihn ausgesucht? Der ist doch unfähig! Dem steht die Dummheit doch ins Gesicht geschrieben!“
Wie viele Inguscheten hielt es Aza stets mit Ruslan Auschew. Der ehemalige General war Präsident von Inguschetien, bis er 2003 abgesetzt wurde. Auschew hatte sich wohl zu sehr um gute Beziehungen zu Aslan Maschadow bemüht, dem Präsidenten des unabhängigen Tschetschenien, der im März 2005 von russischen Soldaten ermordet wurde. „Alle diese Leute sind jetzt nicht mehr da. Was für ein Elend!“, klagt Aza. „Und dabei hat dieser Krieg kein einziges der Probleme gelöst, die von der Unabhängigkeitsbewegung aufgebracht wurden. Wie soll es bloß weitergehen?“
Diese Frage stellen sich alle Menschen in Tschetschenien, die – ob Russen, Inguscheten oder Tschetschenen – in dem ausgebluteten Land geblieben sind, wo es auch heute noch schwierig ist, sich mit Strom und fließendem Wasser zu versorgen.
In Sleptsowsk wohnt Muslim noch immer im Haus seiner Eltern.3 Er ist 28 Jahre alt und der vierte Sohn in einer Familie mit sieben Kindern. Zwischenzeitlich hat er ein paar Monate in Kasachstan auf dem Bau gearbeitet, kehrte dann aber auf Bitten seiner Mutter in die Heimat zurück. Jetzt versucht er hier und dort ein bisschen Geld zu verdienen, doch meistens hängt er gelangweilt herum. Muslim hat von einem ehemaligen tschetschenischen Boxchampion, der nach Moskau ausgewandert ist, fünf Spielautomaten übernommen. Nachdem Ministerpräsident Kadyrow das Glücksspiel auf tschetschenischem Boden verboten hatte, brachte Muslim sie nach Inguschetien. Muslim tut, was er kann, damit seine Spielhalle Geld abwirft, aber er klagt über zu viel Konkurrenz. Eigentlich hätte er schon längst eine Familie gründen müssen. Doch er hat noch nicht „die Richtige“ gefunden, zum Leidwesen seiner Eltern, die ihn erst zu seinem Bruder nach Polen ziehen lassen, wenn er vorher in Tschetschenien geheiratet hat.
Mobilfunknetz mit Kontakten zum russischen Geheimdienst
Einer von Muslims Freunden hat gerade Hochzeit gefeiert. Achmed will mit seiner 22-jährigen Frau nach Grosny ziehen. Glaubt man seinen Worten, ist Grosny längst wieder die Großstadt, die es früher immer war. Achmed hofft, mit Hilfe eines Onkels, der bei der prorussischen Regierung angestellt ist, irgendeinen Job zu finden. Außerdem will er sein Auto – einen fabrikneuen Jiguli, den er für 10 000 Dollar erstanden hat – gegen eine Zweizimmerwohnung in Grosny eintauschen.
Muslim dagegen macht sich keine Illusionen: Er weiß, dass man einen Job in Grosny nur mit persönlichen oder familiären Beziehungen findet. Ansonsten könnte er noch zu den kadirowtsi gehen – zu den „Muskelarmen“, der persönlichen Schutztruppe von Ministerpräsident Kadyrow. Aber darauf hat er keine Lust. Sein älterer Bruder Anzor versucht unterdessen, sich mit kleinen Betrügereien über Wasser zu halten. Zum Beispiel hat er sich von einem Arzt eine Invaliditätsbescheinigung besorgt, um sich eine kleine Rente zu ergattern. „Das kostet 800 Dollar, aber dann bezieht man bis zum Ende seiner Tage jeden Monat 30 Dollar.“
Nachdem wir die tschetschenische Grenze passiert haben, geht es im Kleinbus weiter in Richtung Grosny. Es fällt nasser Schnee, aus dem Radio plärren die üblichen russischen Hits. In fast jedem tschetschenischen Auto läuft das Radio ständig mit voller Lautstärke, wie um die Fahrer zu berauschen und ihre Sorgen zu vertreiben.
Vor zwei Jahren gab es in Tschetschenien die ersten Mobiltelefone, heute besitzt fast jeder eines. Aber man wartet lieber, dass es klingelt, als selbst jemanden anzurufen, denn die Gebühren sind exorbitant. Tschetschenien gilt noch immer als eine Art technologische „Sperrzone“. Die einzige Lizenz zum Betreiben eines Mobilfunknetzes hat die Firma Megafon, der enge Verbindungen zu den russischen Geheimdiensten nachgesagt werden. Vor der Firmenzentrale in Grosny demonstrieren ab und zu erboste Kunden und schreien: „Megafon bestiehlt uns!“
Entlang der Straße tauchen immer wieder nagelneue Tankstellen der Marke Leader auf. Die Firma gehört der Familie Kadyrow. Schicke Häuser aus rotem Klinker stehen direkt neben halben Ruinen mit kaputten Fenstern, zerstörten Dächern und Einschusslöchern im Putz. An den großen Kreuzungen finden sich neuerdings große Schilder mit Ortsnamen und Werbung.
Auf der gesamten Strecke von Sleptsowsk nach Grosny haben wir elf Kontrollposten gezählt. Vor zwei Jahren waren es dreimal so viele. An der Einfahrt zur Hauptstadt hat man die riesigen Lettern GROSNY repariert und wieder aufgestellt. In der Stadt selbst funktionieren inzwischen auch die Ampeln, allerdings halten die Autofahrer bei Rot nicht unbedingt an. Der Minutkaplatz bietet nach wie vor den Anblick gigantischer Betonruinen. Hier hat der Wiederaufbau noch nicht einmal begonnen. Am Ende eine Tunnels gelangt man in die Siegesallee, die früher Leninallee hieß. Zur Linken erhebt sich auf einem Sockel aus rotem Marmor die pompöse Statue von Achmed Kadyrow, auf dem Kopf die Papacha, die traditionelle Pelzmütze der Tschetschenen, in der rechten Hand einen Rosenkranz. Davor stehen zwei Soldaten mit Kalaschnikows rund um die Uhr Wache.
Der Traum ist ein Posten im Innenministerium
Die pastellblaue orthodoxe Kirche auf der linken Straßenseite wurde als einer der ersten Sakralbauten in Tschetschenien wieder aufgebaut. Dahinter beginnt das eigentliche Zentrum von Grosny mit seinem um die Mittagszeit sehr geschäftigen Markt. Rundum stehen lauter zerschossene Gebäude, und obwohl die Markthalle inzwischen provisorisch mit Sperrholz repariert wurde, legen die Händler ihre Ware weiterhin im Freien aus.
In den Straßen sieht man vor allem Jugendliche. Viele von ihnen hatten Grosny im Winter 1999/2000 verlassen, als die Russen die Stadt am heftigsten beschossen. Die nächtliche Ausgangssperre ist aufgehoben, man kann sich nach Einbruch der Dunkelheit wieder frei bewegen, obwohl das immer noch gefährlich ist. In den kleinen Cafeterias kostet eine Schüssel Laghman (Teigtaschen mit Gemüse und Fleisch) weniger als einen Euro. Wer hier die Studenten fragt, hört über ihren Ministerpräsidenten Kadyrow nur Positives. Einige brüsten sich, dass sie vor den Kameras des Lokalfernsehens eine Unterredung mit ihm führen konnten. Einer meint: „Er ist offen, direkt und wirklich bereit, uns zu helfen. Wir brauchten einen Bus, um aus unseren Dörfern zur Universität zu kommen. Ramsan hat sofort die nötigen Anweisungen gegeben. Am nächsten Tag war das Problem gelöst.“
Obwohl die meisten dieser jungen Leute spüren, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist und dass die Bojewiki (die tschetschenischen Kämpfer) wiederkommen können, wollen sie die zerstörte Republik nicht verlassen. Der 17-jährige Aslan verrät uns am Ende eines längeren Gesprächs seinen Traum: einen Posten im Innenministerium. Dann könne er völlig legal eine Waffe tragen und einen Ausweis bekommen, mit dem er sich frei in der ganzen Republik bewegen könne. Seine zehn Jahre ältere Schwester verdreht die Augen, als sie das hört. Aber Aslan ist nicht davon abzubringen: „Was bleibt mir anderes übrig? Vielleicht könnte ich ja auch Geschäfte machen und reich werden. Eines steht jedenfalls fest: Studieren bringt gar nichts. Es ist viel zu teuer, das Niveau ist miserabel, und am Ende hat man keine Aussicht auf einen Job.“
Die Geräuschkulisse des Krieges, die von 2000 bis 2004 ständig präsent war, ist inzwischen fast verschwunden. Die oft kilometerlangen Kolonnen gepanzerter Militärfahrzeuge sind seltener geworden. Auch von den Satschistki, den willkürlichen und extrem brutalen Säuberungsaktionen der russischen Armee, wird nicht mehr so viel gesprochen. Aber diese Entwicklung hat ihre Kehrseite: Die Zeit der Abrechnungen ist angebrochen, nur dass sich diesmal die Tschetschenen untereinander bekämpfen, wobei Moskau virtuos die Strippen zieht. Die neue Geschäftigkeit in der Hauptstadt, sagen die Einheimischen, sei nur Fassade. Und dasselbe gelte für die wiederaufgebaute Siegesallee und die neu gewählte politische Klasse, die ihrem moskautreuen Chef loyal ergeben ist, wobei dieser Kadyrow „wie der alte Stalin“ gefürchtet wird.
Zainap Gaschaewa leitet die Nichtregierungsorganisation „Echo des Krieges“ und pendelt ständig zwischen Grosny und Moskau. Im April konnte die NGO mit Hilfe deutscher Spenden den Bau eines Waisenhauses vollenden. Gachaewa ist noch bedrückt von ihrem Gespräch mit dem 33-jährigen Raschid, den sie gebeten hatte, die zwei Treppenhäuser des Gebäudes auszumalen: „Ich wollte etwas Fröhliches, aber er hat lauter sehr traurige Dinge gemalt und gemeint, er könne nichts anderes malen, das sei ein Spiegel seiner Seele. Am Ende habe ich ihn dazu gebracht, seine Bilder zu überarbeiten. Er hat gesagt, dass er auf ein Ende des Chaos hofft. Aber er erwartet nicht, dass in Tschetschenien jemals weniger korrupte Politiker an die Macht kommen.“
Ich treffe Raschid im Innenhof des Waisenhauses, er ist mit dem Fahrrad gekommen. Nachdem wir uns mehrere Stunden unterhalten haben, taut er allmählich auf. Was er sagt, lässt die Tiefe der Depression erkennen, in die Tschetschenen seines Alters abgesackt sind: „Alles, was in diesem Land geschieht, widert mich an. Nichts hier geht sauber zu, und alle Menschen leiden. Meine Zuflucht ist die Religion. Aber ich finde sie nicht in der Moschee an der Ecke, wo jeder hingeht, um über seine Probleme zu klagen, über sein Vieh, seine Rente oder über seine Krankheiten. Wir treffen uns mal bei dem einen, mal bei dem anderen.“
Raschid und seine Freunde verabreden sich für ihre Gebete per SMS. „Wir haben keinen Respekt mehr vor den Alten, denn die haben keinen mehr vor sich selbst. Sie sind viel zu tief in die Politik verstrickt. Militärisch ist der Krieg sicher vorbei. Aber er geht weiter, als ständiger psychologischer Druck.“ Auch Raschid hat man angeboten, für die kadirowtsi zu arbeiten. Aber er hat abgelehnt, er will sich nicht „beschmutzen“. Aber er will sein Land auch nicht verlassen. „Wenn alle weggehen, wer ist dann noch hier?“
Auf den ersten Blick gewinnt man in Tschetschenien den Eindruck, dass sich die Dinge tatsächlich ändern: Der Handel auf den Märkten, der öffentliche Verkehr, die Verwaltung, die Baustellen in der Stadt, die Cafés und Restaurants lassen eine wirtschaftliche Belebung erkennen. Und mit der Verfassungsreform, den Präsidenten- und Parlamentswahlen scheint auch die politischen Normalisierung zu beginnen. Doch der Schein trügt. Im Denken und Fühlen aller Tschetschenen ist das Gespenst des Krieges allgegenwärtig. Dieser Zustand hat eine neue Art zwischenmenschlicher Beziehungen hervorgebracht, die durch prinzipielles Misstrauen geprägt ist.
Zainap Gaschaewa drückt es so aus: „Früher haben sich die Leute mehr oder weniger aufeinander verlassen, aber das ist vorbei. Jetzt denunzieren sich die Tschetschenen gegenseitig bei den Behörden, um bei dieser oder jener einflussreichen Persönlichkeit gute Karten zu haben oder einfach nur um eines lächerlichen Vorteils willen. Aber das Schlimmste ist: Sie sind alle Gefangene ihrer Angst. Sie schlafen mit ihr ein und wachen mit ihr auf. Wie es weitergehen soll? Niemand weiß es genau. Wird sich Kadyrow als Ministerpräsident längere Zeit halten können? Oder werden sie ihn umbringen wie seinen Vater?4 Wann werden die Bojewiki zum nächsten Gegenschlag ausholen? Können sie jemals wieder an die Macht kommen? Keiner will zu viel mit der Politik zu tun haben, denn es könnte ja sein, dass sich die Verhältnisse wieder umkehren, und dann muss man mit Repressalien rechnen.“ Zum Schluss meint Gaschaewa: „Niemand hier kann sich vorstellen, dass dieses Regime von Moskaus Gnaden auf Dauer stabil ist.“
Keiner einziger der Konflikte, die im Krieg zutage getreten sind, wurde beigelegt oder auch nur entschärft. Schlimmer noch: Diese Konflikte sind heute tabu. Wer wagt noch, an Dschochar Dudajew, das erste Staatsoberhaupt des unabhängigen Tschetschenien, zu erinnern?5 In der Schule lernen die kleinen Tschetschenen offiziell, dass ihr erster Präsident Achmed Kadyrow war, der Vater des heute regierenden Ramsan.