Chiles gute alte Präsidentin
Die Wahl wird sie gewinnen, aber was kommt dann? von Gerhard Dilger
Die Schüler- und Studentenproteste von 2011 haben Chile für immer verändert. Monatelang zogen Zehntausende, manchmal Hunderttausende für ein gutes, kostenloses Bildungssystem auf die Straße und wussten dabei die meisten ihrer Landsleute hinter sich. Seit der Linksregierung von Salvador Allende (1970 bis 1973) hatte Chile nicht mehr eine solche breite Volksbewegung erlebt.
Der Soziologe Alberto Mayol sah einen epochalen Bruch, das Ende von fast 40 Jahren Entpolitisierung: „2011 haben wir begonnen, zu gesunden […] Die politische Architektur Chiles hält den Bürgerrechten und dem Auftauchen der Politik nicht stand, sie toleriert nicht, dass die Ordnung infrage gestellt wird. Unsere Lebensweise war die Agonie, die Studierenden haben das Leben angeboten“, schreibt er in der Einleitung zu seinem Politbestseller „No al lucro“ (Nein zum Profit), dessen Titel ein zentrales Motiv der Protestbewegung aufgreift.1
Vor zwei Jahren schien die Kluft zwischen dem politischen Establishment und der Straße über Monate unüberwindbar, Mayol konstatiert einen tiefgreifenden Legitimationsverlust des politischen und wirtschaftlichen Systems. Die schöne Studentensprecherin Camila Vallejo, Mitglied der Kommunistischen Jugend, wurde als lateinamerikanische Ikone der weltweiten Jugendproteste gefeiert. Im Fernsehen lieferte sich Francisco Figueroa, einer ihrer Kommilitonen, einen historischen Schlagabtausch mit Sergio Bitar, Minister unter den Sozialisten Salvador Allende, Ricardo Lagos und Michelle Bachelet. Figueroa beschuldigte Bitar, der als Bildungsminister ein Gesetz zur staatlichen Absicherung von privaten Bildungsdarlehen umgesetzt hatte, mit Steuergeldern die Profite der Banken und der Privatuniversitäten begünstigt zu haben. Der Politiker reagierte verständnislos und bezeichnete den 25-jährigen Studenten empört als „Kind“. Figueroa machte gegen Schluss der TV-Debatte klar: „Unsere Generation ist in die Politik gekommen, um zu bleiben.“2
Die Regierung des rechtsliberalen Milliardärs Sebastián Piñera (im Amt seit 2010) saß den Bildungsstreit einfach aus. 2012 ebbten die Demonstrationen ab, und nach wie vor ist Hochschulbildung nirgendwo auf der Welt so teuer wie in Chile.3 Nun scheint es sogar, als stehe ein ganz normaler Regierungswechsel bevor.
Das liegt vor allem an einer Person: Michelle Bachelet. Wie schon vor acht Jahren schickt sich die populäre Sozialistin wieder an, Präsidentin zu werden. Ihre – rechnerisch durchaus wahrscheinliche – Wiederwahl 2009 war aus Verfassungsgründen nicht möglich, stattdessen übernahm sie in New York den Vorsitz der neu gegründeten Organisation UN Women.
Mit Piñera endete die 20-jährige Ära der „Concertación“, die seit dem Abgang des Diktators Augusto Pinochet (1973 bis 1990) regierte. Dieses technokratische Bündnis von Christ- und Sozialdemokraten hatte Pinochets neoliberales Wirtschaftspolitik fortgeführt und trotz aller Fortschritte in der Armutsbekämpfung zugleich die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich zementiert.4 Das alles geschah auf dem Boden der in ihren Grundzügen bis heute gültigen Verfassung aus dem Jahr 1980.
Piñeras „Allianz für Chile“, eine Koalition aus Wirtschaftsliberalen, konservativen Katholiken und Ex-Pinochetistas, setzte den Kurs der Concertación fort, allerdings mit bemerkenswertem politischem Ungeschick. „Piñeras ‚Regierung der Besten‘ ähnelt eher einem Aufsichtsrat als einem Kabinett“, schrieb Franck Gaudichaud 2011, unmittelbar vor Beginn der Studentenproteste. Schamloser denn je bediente die „Regierung der Unternehmer“ ihre eigenen Interessen. Vier Familienclans, darunter Piñeras eigenes Imperium, kontrollierten „die Hälfte aller an der Wertpapierbörse in Santiago notierten Vermögenswerte“.5 Diese und andere Oligarchien waren meist direkt in der Regierung vertreten, bildeten Kartelle und profitierten zudem von einem Steuersystem mit institutionalisierten Schlupflöchern für Großunternehmer.
Außerdem hängt Chile, ähnlich wie seine südamerikanischen Nachbarn, wirtschaftlich immer mehr von seinen Rohstoffen ab, die 89 Prozent aller Exporte ausmachen. Im letzten Jahrzehnt hat sich der Anteil des Bergbausektors am BIP auf 20 Prozent verdoppelt, und mehr als drei Viertel aller Sozial- und Umweltkonflikte wurden durch Minen- oder Energieprojekte wie Staudämme oder Thermalkraftwerke ausgelöst. Allerdings haben sich – anders als in den links regierten Staaten Südamerikas – dadurch die Steuereinnahmen kaum erhöht, und auf den Bergbausektor entfielen 2011 gerade einmal 2,7 Prozent aller Arbeitsplätze.
2012 erzielten die ausländischen Konzerne in Chile Gewinne in Höhe von 16,4 Milliarden Dollar. Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) wurde diese Zahl nur noch von dem 200-Millionen-Einwohner-Land Brasilien übertroffen.6
Dieses extraktivistische Wirtschaftsmodell, das die Lebensgrundlagen vieler ländlicher Gemeinschaften bedroht, wird innerhalb der chilenischen Linken kaum grundsätzlich infrage gestellt – in Peru, Bolivien oder Ecuador sind die kritischen Stimmen lauter, auch wegen der Stärke indigener Bewegungen. Allerdings wächst auch in Chile der Widerstand, und manch unsinniges Megaprojekt wie das von Eon und dem brasilianischen Milliardär Eike Batista geplante Kohlekraftwerk La Castilla samt Hafenanlage in der Atacama-Wüste konnte durch die Zusammenarbeit der Betroffenen vor Ort und NGOs in Santiago gestoppt werden.7
Furchtbares Paradies der Bergbaukonzerne
Im Süden des Landes sind es die Mapuche, die sich seit vielen Jahren beharrlich, manchmal auch mit Gewalt, gegen die Ausweitung der schon jetzt enormen Pinien- und Eukalyptus-Monokulturen wehren. Auch die Regierungen der Concertación haben darauf immer wieder mit den Antiterrorgesetzen aus der Pinochet-Diktatur reagiert, etliche junge Indigene wurden in zweifelhaften Prozessen zu langen Haftstrafen verurteilt, andere von der Polizei erschossen. 2008 bat Bachelets Innenminister die USA sogar um geheimdienstliche Hilfe bei der Überwachung der Mapuche. Der US-Botschafter teilte die Befürchtungen bezüglich „terroristischer Verbindungen“ zur kolumbianischen Guerilla Farc und der spanischen ETA allerdings nicht, wie über Wikileaks bekannt wurde.8
Unter Sebastián Piñera änderte sich an diesem Konflikt wenig. Zur Kandidatin der Allianz wurde schließlich die farblose Evelyn Matthei gekürt, die in allen Umfragen weit abgeschlagen hinter Bachelet auf Platz zwei liegt.
Zwar wird die Sozialistin kaum in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 17. November die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, denn unter den neun Kandidaten befinden sich die ausgewiesenen Linken Marcel Claude und Roxana Miranda, der Grüne Alfredo Sfeir und schließlich Marco Enríquez-Ominami, der vor vier Jahren immerhin auf 20 Prozent der Stimmen gekommen war. Doch spätestens im Dezember wird Bachelet triumphieren.
Kernpunkte ihres Wahlprogramms sind eine Steuerreform, ein kostenloses Bildungssystem sowie eine neue Verfassung. Damit greift sie zentrale Forderungen aus dem Protestjahr 2011 auf, doch der Teufel steckt im Detail. Aufschlussreich ist der ziemlich detaillierte Fahrplan, den Michelle Bachelet drei Wochen vor der Wahl vorstellte: Innerhalb von hundert Tagen nach ihrem Amtsantritt im März 2014 soll es einen Gesetzentwurf mit dem Ziel geben, die Geschäftemacherei „im gesamten Bildungswesen“ zu beenden, doch im Hochschulbereich werde es sechs Jahre dauern, bis die „effektive universelle Kostenfreiheit“ erlangt sei. Und Privatschulen soll es auch weiterhin geben. Ermöglicht werden soll die Bildungsreform durch eine schrittweise höhere Besteuerung von Unternehmen. Stärken will Bachelet zudem die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Für einen Gesetzentwurf zur Homo-Ehe will sie eine „offene Debatte mit breiter Beteiligung“.
Bisweilen scheint es, die künftige Staatschefin wolle es möglichst allen recht machen, auch dem Unternehmerlager. Letzteres hat sich der Favoritin bereits demonstrativ zugewandt, um „die Reformen zu unterstützen, die es erlauben würden, dem ausgelaugten neoliberalen Modell Sauerstoff zuzuführen“, wie es in einem Leitartikel der linken Zeitschrift Punto Final heißt.9 „Realpolitik“ sei das Gebot der Stunde, meint das Internetportal El Mostrador, Bachelet erhalte ihre „taktische Ambivalenz“ aufrecht, sie müsse die Krafteverhältnisse im Parlament abwarten.10
Eine verfassunggebende Versammlung, wie sie von großen Teilen der Linken gefordert wird und auf breite Zustimmung bei der Bevölkerung stößt, bleibt daher unwahrscheinlich. Bachelet will sich auf einen „legalen und verfassungsmäßigen Weg“ konzentrieren, die Hauptrolle käme damit dem neu gewählten Parlament zu. Das wiederum wird auch künftig vom Parteienestablishment der letzten Jahrzehnte dominiert werden, das gründlich diskreditiert ist: Vier Fünftel aller Chilenen wollen sich mit keiner Partei identifizieren. Doch Pinochets eigenwilliges „binominales“ Mehrheitswahlrecht lässt politischen Kräften außerhalb der beiden dominierenden Machtblöcke keine Chance und garantiert zugleich dem unterlegenen Lager nahezu dieselbe Anzahl von Abgeordneten und Senatoren wie den Siegern.
Für die kommende Wahl hat Bachelet die Concertación, die Umfragen zufolge selbst von der breiten Ablehnung von Piñeras „Allianz“-Regierung nicht profitieren konnte, nach links geöffnet. Das Mitte-links-Bündnis „Nueva Mayoría“ (Neue Mehrheit) umfasst nun neben Christ- und Sozialdemokraten die Kommunistische Partei, zwei kleinere Linksparteien sowie linksliberale „Unabhängige“. Aus diesem Spektrum werden je zwei Kandidaten in einem komplizierten Aushandlungsprozess für die Wahlkreise ausgewählt.
Michelle Bachelet und das Bildungsdesaster
Bereits vor vier Jahren hatten ähnliche Absprachen die Wahl dreier kommunistischer Abgeordneter ermöglicht. Diesen Pragmatismus setzte die KP-Führung fort, als sie einwilligte, ganz offiziell in die Nueva Mayoría einzusteigen – trotz deutlichen Murrens an der Basis, die diese Linie als ein Abrücken von den sozialen Bewegungen oder als Kooptierung durch die Concertación interpretiert.
Die Nominierung von Camila Vallejo, Karol Cariola und Giorgio Jackson, drei bekannten Protagonisten der Studentenbewegung, weist in dieselbe Richtung. Vallejo und Cariola kandidieren für die Kommunisten, Jackson für die Neugründung „Demokratische Revolution“. Alle drei haben große Chancen, dem kommenden Parlament anzugehören – anders als ihre radikaleren Mitstreiter Gabriel Boric und Francisco Figueroa von der „Autonomen Linken“, die in ihren Wahlkreisen gegen Kandidaten der Nueva Mayoría antreten.
„Die derzeitige Verfassung legt fest, dass Bildung ein Konsumgut ist und dass der Privatsektor daraus ein Geschäft machen kann“, erklärte Camila Vallejo auf einer Kundgebung in ihrem Wahlkreis La Florida, einem Mittelschichtsbezirk im Süden von Santiago, „wir haben das Bild widerlegt, dass wir ein entwickeltes Land sind, dass es uns wunderbar geht, dass alles mit persönlichem Ehrgeiz zu schaffen ist. Das haben wir mit einem Schubser erreicht, denn das Volk war schon müde.“11
Die Debatte, wer „am linkesten“ sei, interessiere sie nicht, sagt Vallejo, ebenso wenig hält sie von Prinzipienreiterei: „Ich habe meine Prinzipien, aber ich weiß auch, was Taktik ist und was Strategie.“ 2012 hatte sie noch ausgeschlossen, für das Bachelet-Lager zu kandidieren, heute will sie im Kongress zusammen mit anderen Vertretern sozialer Bewegungen „politische Räume entwickeln, die es uns erlauben, die strukturellen Veränderungen zu machen, die unsere Gesellschaft fordert“.
Doch das Vertrauen, dass Wahlen etwas ändern werden, ist nicht groß: Viele Chilenen, gerade auch junge und politisch engagierte, werden am Wahlsonntag zu Hause bleiben. Dass die kommende Regierung das institutionelle Korsett, das deutliche Reformen blockiert, überwinden kann oder will, glauben nur wenige – und ob es eine Renaissance der Proteste oder gar eine verfassunggebende Versammlung gibt, ist völlig offen.
Auch Vallejos Mitstreiter Figueroa, der unabhängige Linke, der einst dem Bachelet-Vertrauten Sergio Bitar im Fernsehen Paroli bot, zeigte sich skeptisch: In ihrer ersten Amtszeit habe Bachelet nichts erreicht, „und jetzt will sie Teile der Bewegung absorbieren“.12 Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie sei erst vollbracht, „sobald dieses Staatsmodell, die Merkantilisierung des Lebens, am Ende ist“. Das Neue könne erst keimen, sobald das Alte weg sei, die Wahlen sind für ihn nur Zwischenstation. „Wir sind nicht verrückt, wir wissen, dass es schwer ist, aber wir sind zuversichtlich. Und wir haben Zeit.“