08.11.2013

Die Nostalgie der Diplomaten

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Die Nostalgie der Diplomaten

Die Nostalgie der Diplomaten
Info Kasten Die Nostalgie der Diplomaten

Das Gebäude des Außenministeriums in Moskau mit seinen 27 Stockwerken und seiner so pompösen wie massiven Architektur erinnert an Russlands Vergangenheit als Supermacht. Während der Bauphase, die von 1948 bis 1953 dauerte, erstreckten sich die diplomatischen Aktivitäten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) auf alle Kontinente.

Eine berufliche Laufbahn beim Außenministerium genoss das denkbar höchste Prestige. Die Kandidaten waren handverlesen und mussten sich durch schulische Leistungen und ihr Engagement in der kommunistischen Jugendorganisation hervorgetan haben. Ausgebildet wurden sie an der 1934 gegründeten Diplomatischen Akademie des Außenministeriums oder am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Sie verfügten über exzellente Fremdsprachenkenntnisse, eine Fertigkeit, die in anderen Ministerien nur selten anzutreffen war.

Natürlich war die Möglichkeit von Auslandsreisen verlockend, aber entscheidender war das Gefühl, eine wichtige Rolle zu spielen, nicht nur für das sowjetische Vaterland – das weitgehend mit Russland verwechselt wurde –, sondern für die gesamte Menschheit. Denn damals war der Glaube, die Weltrevolution hänge von Moskau ab, noch lebendig. Nachdem man lange an einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Europa gelitten hatte, besaß Russland eine so große internationale Bedeutung, dass die Diplomaten von heute mit nostalgischen Gefühlen an diese Zeit zurückdenken.

Die westlich orientierte Elite in Moskau, die den Niedergang der Sowjetmacht durchaus wohlwollend betrachtete, hatte mit dem architektonischen Erbe der Stalinzeit kein Problem: Als Michail Gorbatschow am 25. Dezember 1991 von seinem Amt als Präsident der UdSSR zurücktrat und den Atomkoffer mit dem roten Knopf an den Präsidenten der russischen Föderation Boris Jelzin weitergab, hatte sich der russische Außenminister Andrei Kosyrew mit seinen Mitarbeitern bereits im Haus am Smolensker Platz niedergelassen. Kraft eines am 18. Dezember 1991 unterzeichneten Erlasses hatte die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik auch die Gebäude der sowjetischen Botschaften und Auslandsvertretungen in Beschlag genommen.

Die russischen Machthaber, die zuvor die Totengräber der UdSSR gespielt hatten, gingen dennoch ganz von einer diplomatischen Kontinuität aus. Gleichzeitig beruhigten sie die westlichen Regierungen aus dem Wunsch heraus, in der – wie sie es nannten – „zivilisierten Welt“ akzeptiert zu werden, und versicherten, dass Russland allen Verpflichtungen aus internationalen Verträgen mit der Sowjetunion nachkommen werde, insbesondere im Hinblick auf die Abrüstung. In einem einfachen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gerichteten Brief, datiert vom 24. Dezember 1991, teilte Präsident Boris Jelzin mit, dass Russland von nun an den Sitz der UdSSR im Sicherheitsrat einnehmen werde, als sei dies selbstverständlich.

Nicht minder bemerkenswert war, dass Außenminister Kosyrew in einer kurzen Note, die am 2. Januar den Leitern der diplomatischen Vertretungen in Moskau übermittelt wurde, die ausländischen Regierungen aufforderte, die in ihren Ländern akkreditierten sowjetischen Diplomaten von nun an als solche der Russischen Föderation zu betrachten – und brachte damit die noch in den Botschaften und Konsulaten der einstigen UdSSR arbeitenden nichtrussischen Diplomaten in eine absurde Situation.

Anfänglich wollte Kosyrew die von Gorbatschow bereits eingeleitete Annäherung an den Westen rasch vorantreiben und ging sogar so weit, einen möglichen Beitritt Russlands zur Nato anzudeuten und auch den geringsten Widerspruch der Interessen zwischen Russland und den freiheitlichen Demokratien zu leugnen. Aber diese haltlose Romantik stieß auf große Skepsis im diplomatischen Apparat, der viel mehr von der Realpolitik als vom Marxismus-Leninismus geprägt war. Präsident Jelzin verließ sich instinktiv nicht auf Kosyrew und sprach sogar in der Öffentlichkeit von der Inkompetenz des neuen Außenministers bei der Ausübung seines Amts.

Wegen des immer knapperen Budgets sah sich Russland zwischen 1991 und 1993 gezwungen, 36 Botschaften und Konsulate zu schließen. Als es neue Abteilungen für die aus der Peripherie des Sowjetreichs hervorgegangenen Staaten einzurichten galt, hatte das Ministerium Mühe, die Posten zu besetzen. Viele Angestellte des diplomatischen Dienstes mit Sprachkenntnissen arbeiteten nun lieber für ausländische Firmen. War bereits die ultrawestlich orientierte Politik des Außenministers wenig förderlich für die Moral des diplomatischen Korps gewesen, so beschädigte eine Serie von internationalen Demütigungen, die Russland in den 1990er Jahren einstecken musste, das Ansehen des Berufsstands noch mehr. Die Wirtschaftstätigkeit war verglichen mit 1990 um etwa 40 Prozent zurückgegangen und die – jedenfalls dem Namen nach – demokratischsten Kräfte in der Geschichte Russlands verloren massiv an Glaubwürdigkeit.

Im Januar 1996 versprach die Berufung von Jewgeni Primakow in das Amt des Außenministers einen Kurswechsel hinsichtlich eines möglichen Beitritts zum transatlantischen Bündnis. Dessen glänzende akademische Karriere als Experte für die arabische Welt und Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen spielten für seine Ernennung sicher eine größere Rolle als seine Tätigkeit als Leiter der Ersten Hauptverwaltung des KGB – ein Posten, den er auf Bitten Gorbatschows nach dem Putschversuch vom August 1991 angetreten hatte. Dass der Chef des Auslandsgeheimdienstes die Leitung des Außenministeriums übernahm, war gleichwohl symbolträchtig. Der Respekt, den er mit seiner klassischen Auffassung von Realpolitik erzielte, und seine Forderung nach einer neuen multipolaren Weltordnung haben dauerhafte Spuren hinterlassen.

Jelzin jedoch misstraute seinem Minister zu sehr, als dass er ihm bei der Gestaltung der Außenpolitik viel Spielraum gewährt hätte. Zum einen wollte Jelzin die Annäherung an den Westen nicht gefährden, zum anderen war er besorgt darüber, dass sein Minister sehr viel Sympathien auch von Jelzins Gegnern gewonnen hatte, indem er den Kurs seines Vorgängers revidierte. Unter dem Vorwand, der Opposition entgegenkommen zu wollen, berief der Präsident Primakow im September 1998 zum Premierministers, enthob ihn aber im Mai 1999 seiner sämtlichen Funktionen – sehr zur Freude der Oligarchen, allen voran Boris Beresowskis, der bei Primakow keinen Fuß in die Tür bekommen hatte.

Vergleicht man die aktuelle Situation des diplomatischen Apparats mit den ersten Jahren der Ära Jelzin, fällt das Ergebnis deutlich weniger düster aus. Mit dem Machtantritt von Wladimir Putin begann ein nachdrücklicher Wiederaufbau der staatlichen Strukturen, der durch die Übernahme des Energiesektors und durch den spektakulären Anstieg des Erdölpreises möglich gemacht wurde. Die Auswirkungen auf die Außenpolitik ließen auch nicht lange auf sich warten.

Konkrete Schritte wurden unternommen, um das Ansehen des diplomatischen Dienstes wieder zu steigern. 2002 wurde ein „Tag der Diplomaten“ eingeführt, und zwar am 10. Februar, dem Tag, an dem eine von Iwan dem Schrecklichen 1569 geschaffene „Botschaftsabteilung“ zum ersten Mal erwähnt ist. Dieser Bezug auf die Geschichte des auswärtigen Dienstes ist danach noch beträchtlich erweitert worden. Nicht nur staatliche Symbole aus der Zeit des Kommunismus wurden rehabilitiert, sondern auch bei der ruhmreichen zaristischen Vergangenheit bediente man sich munter.

Natürlich unterstehen die Aktivitäten des Außenministeriums weiterhin der Macht des Präsidenten. Doch das gegenseitige Misstrauen zwischen Staatsspitze und diplomatischem Apparat ist von einer Art Symbiose abgelöst worden. Besonders spürbar wurde dies seit dem Amtsantritt des derzeitigen Außenministers Sergei Lawrow im März 2004. Der erfahrene Diplomat hatte zuvor zehn Jahre lang das Amt des russischen Botschafters bei den Vereinten Nationen inne.

Besagte Symbiose beruht auf dem nostalgischen Verhältnis zur einstigen Sowjetmacht und der tiefen Enttäuschung im Hinblick auf den Westen. Die russische Diplomatie weiß sehr wohl, dass die messianische Epoche des Sowjetregimes ein für alle Mal vorbei ist, und begnügt sich damit, von einer zugleich slawophilen wie eurasischen kulturellen Renaissance zu träumen. Da das postsowjetische Russland von der Anmaßung Abstand genommen hat, das Schicksal der Menschheit in Händen zu halten, kann es schwer hinnehmen, dass die USA es ihm nicht gleichtun.

Die Kritik am US-amerikanischen Exzeptionalismus, wie sie Wladimir Putin in der New York Times1 geäußert hat, trifft in Moskau wie in Washington einen wunden Punkt – und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Solange dieser Exzeptionalismus nicht verschwunden sein wird, wird die Unipolarität des gegenwärtigen internationalen Systems Widerstand provozieren. Russland wird dadurch zu einer Politik des Engagements auf internationalen Foren motiviert, wo es Unterstützung für seine Interessen findet.

Man denke etwa an die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der neben Russland und China vier zentralasiatische Staaten angehören,2 die fordert, die Stationierung von US-Truppen in Zentralasien nach dem Ende der Mission in Afghanistan aufzuheben. Oder an die Brics-Gruppe, bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die daran interessiert ist, die Rolle des Dollars als globale Leitwährung zu schwächen.

Erst im vergangenen September war auf dem G-20-Gipfel in St. Petersburg zu beobachten, wie Russland die Führung einer breiten Oppositionsbewegung gegenüber einem unilateralen Einschreiten der USA im Nahen Osten übernahm. Die schließlich bilaterale russisch-amerikanische Übereinkunft zur Zerstörung der syrischen Chemiewaffen konnte im stalinistischen Hochhaus am Smolensker Platz die Nostalgie des russischen Diplomatenapparats ein wenig mildern.

Yves Breault

Fußnoten: 1 „A plea for caution from Russia. What Putin has to say to Americans about Syria“, The New York Times, 11. September 2013. 2 Beim letzten SOZ-Gipfel in Bischkek am 13. September waren unter anderen die Präsidenten Afghanistans und Irans vertreten. Aus dem Französischen von Dirk Höfer

Junge Garde

Über die dauerhaften Vertretungen bei internationalen Organisationen hinaus unterhält das russische Außenministerium zurzeit 149 Botschaften und 93 Konsulate in 190 Ländern. Der zentrale Verwaltungsapparat des Ministeriums und die Einrichtungen im Ausland beschäftigen insgesamt um die 12 000 Personen, ein Drittel davon sind Diplomaten. Ein Viertel des Personals ist jünger als 30 Jahre. 80 Prozent dieser jungen Leute besitzen einen Diplomabschluss des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen und der Diplomatischen Akademie des Außenministeriums. Y. B.

Le Monde diplomatique vom 08.11.2013, von Yves Breault