Malaien und Malaysier
Im südostasiatischen Tigerstaat hat der alte Ethno-Nationalismus ausgedient von Charles Dannaud
Es war einer dieser typischen Allgemeinplätze, den die Machthaber in Malaysia nicht müde werden herunterzubeten: Die chinesischen Malaysier, behauptete Ende Juli Mahathir bin Mohamad, der langjährige Expremier des Landes (1981–2003), stünden vor einem Dilemma: „Entweder sie reißen auch die politische Macht an sich, da sie ja bereits die wirtschaftliche Macht besitzen, oder sie akzeptieren das Prinzip der Teilung, das aus Malaysia das gemacht hat, was es heute ist.“1
Den Malaien die politische Macht, den Chinesen – ein Viertel der Bevölkerung ist chinesischer Herkunft – die Wirtschaft, das war seit der Unabhängigkeit von 1957 der stillschweigende Gesellschaftsvertrag, der jenes Bild einer polaren Gesellschaftsordnung schuf, das nach den Unruhen von 1969 endgültig in Stein gemeißelt wurde. Damals war es nach einer Parlamentswahl zu tödlichen Zusammenstößen zwischen Malaien und Chinesen gekommen. Danach rechtfertigte die Regierung die Gewaltausbrüche damit, dass sich unter den Malaien schon lange eine große Wut über die Chinesen angestaut hätte, über die der Vorwurf im Raum stand, sie würden alle Reichtümer des Landes an sich reißen.
Tatsächlich hatte das Bündnis der regierenden malaiischen, chinesischen und indischen Eliten verkannt, wie groß die Armut war, die die Gesellschaft zutiefst spaltete. Doch die Regierung konzentrierte sich damals allein auf den ethnischen Aspekt der Auseinandersetzung. Mit der Einführung der „Malaysischen Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) wurde die Unterscheidung zwischen Bumiputras („Söhnen des Landes“), also den muslimischen Malaien, und den übrigen Bevölkerungsgruppen gesetzlich verankert, so dass im Folgenden Erstere bei der Umverteilung der Ressourcen bevorzugt wurden.
Die Theorie vom armen Malaien und reichen Chinesen war ein politisches Konstrukt. Die Volkswirtin Elsa Lafaye de Micheaux hat gezeigt, dass die größere relative Armut der Malaien mit drei Faktoren zusammenhing: dem Dualismus zwischen Subsistenzwirtschaft und Produktion für den Markt, der ethnischen Arbeitsteilung und dem unterschiedlichen Zugang zu Bildung. In Wahrheit gab es innerhalb der einzelnen Gemeinden stark ausgeprägte Klassenunterschiede, und „der Umstand, dass 98 Prozent der Chinesen Arbeiter oder Kleinbauern waren, wurde schlicht ignoriert.“2
Im Wahlkampf 2013 beschwor Mahathir, auch Dr. M. genannt, trotzdem die alten Ängste vor der chinesischen Minderheit. Mit mäßigem Erfolg: Seine Partei, die nationalkonservative United Malays National Organisation (UMNO), und ihre 13-Parteien-Koalition Barisan Nasional („Nationale Front“), die mit der Malaysian Chinese Association (MCA) sowie dem Malaysian Indian Congress (MIC) auch eine chinesische und eine indische Komponente hat, wurden bei den Parlamentswahlen vom 5. Mai 2013 zwar im Amt bestätigt, allerdings fuhren sie das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte ein. Insgesamt erhielten sie sogar weniger Stimmen als das Oppositionsbündnis Pakatan Rakyat („Volksallianz“).3
Zudem wurde die Abstimmung von zahlreichen Unregelmäßigkeiten überschattet: Die Politologin Bridget Welsh von der Managementhochschule in Singapur spricht von „ungleichen Bedingungen, einschließlich Wahlkreismanipulationen, Wählerverlegungen ohne Angabe von Gründen und einseitiger Berichterstattung“. Auch seien staatliche Mittel für den Wahlkampf und Stimmenkauf eingesetzt worden.
Der amtierende Premierminister und UMNO-Parteivorsitzende Najib Razak gilt eigentlich als gemäßigt. Doch als Reaktion auf den äußerst knappen Sieg schloss auch er sich dem rassistischen Diskurs an und gab den chinesischen Wählern die Schuld an dem enttäuschenden Wahlergebnis. Tatsächlich hatten die Chinesen der MCA massenhaft den Rücken gekehrt. Die Partei gilt als verknöchert und als Vasall der UMNO. Während Razak vom „chinesischen Tsunami“ sprach, ließ er völlig außen vor, dass auch ein Teil der Malaien zur Opposition übergelaufen war. Die Reaktion Razaks illustriert sehr gut, wie schwer es der Führungsriege der UMNO immer noch fällt, sich einzugestehen, dass die ethnische Trennung ein längst überholtes Konzept ist.
Dann aber vollführte Razak eine 180-Grad-Wende und rief zur „Versöhnung“ auf. Immerhin ist er Initiator der „Ein Malaysia“-Kampagne, mit der die „Harmonie“ zwischen den Volksgruppen heraufbeschworen werden soll. In den Augen des Politologen Ahmad Fauzi von der Science University Malaysia folgt Razak jedoch nur einer leicht durchschaubaren Strategie: „Es ist eine alte Taktik des Barisan Nasional, erst Quertreiber gegeneinander auszuspielen, dann von Versöhnung zu reden und sich selbst als Friedensstifter zu präsentieren.“ Nur käme das eben nicht mehr so gut an, meint der malaysische Wissenschaftler, vor allem nicht bei den städtischen Wählern.
Gerade in einem Land, in dem 56 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind, wirkt die Strategie der UMNO ungeschickt. „Die junge Generation sieht sich als malaysisch [eben nicht als malaiisch, chinesisch, indisch …], und sie ist weniger rassistisch eingestellt als die Älteren“, erklärt Bridget Welsh. Im Barisan Nasional hätten sich hingegen die ethnischen Parteien verbündet, die mit ihrem paternalistischen Auftreten – man macht den jungen Leuten Geschenke und organisiert Auftritte mit Stars aus Film und Funk – offensichtlich immer noch nicht begriffen haben, wie tief die Ablehnung der traditionellen Politik geht, für die Mahathirs Selbstherrlichkeit das Symbol schlechthin ist.
Die Jugend hat den fantastischen Aufstieg des Landes in den 1980er Jahren nicht miterlebt und fühlt sich der alten nationalistischen Partei in keiner Weise verpflichtet. „Das ist das Paradox der UMNO“, erklärt der Politologe Fauzi. „Sie hat die Entwicklung des Landes vorangetrieben und den Malaysiern geholfen, sich zu emanzipieren – und die wollen sie jetzt nicht mehr wählen.“ Lafaye de Micheaux meint, die Büchse der Pandora sei mit der Asienkrise 1997 geöffnet worden. Bis dahin hätten die Malaysier eine autoritäre Gesellschaft akzeptiert, weil das Wachstum allen zugutekam. Dann sei ihnen allerdings klar geworden, dass sie mit der Aufgabe ihrer Freiheiten einen zu hohen Preis gezahlt hätten.
Malaysia, das oft zu den asiatischen „Tigerstaaten“ gezählt wurde, hat heute gute Wirtschaftsdaten vorzuweisen: Offiziellen Statistiken zufolge wächst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 5,6 Prozent jährlich, die Inflation lag 2012 bei nur 1,7 Prozent4 , und die Arbeitslosigkeit erreichte im April dieses Jahres 3,3 Prozent. Im September 2010 hob Razak sein Economic Transformation Programme (ETP) aus der Taufe: Bis 2020 soll sich Malaysia zu einem Hochlohnland entwickelt haben. Mit einem Budget von 300 Milliarden Euro kombiniert das Programm die Unterstützung von staatsnahen Unternehmen (insbesondere im Energiesektor) mit einer Förderung der Privatinitiative, auch in Form von Investitionen aus dem Ausland. Die malaysische Börse hat sich mittlerweile zu einem anerkannten Finanzplatz entwickelt, und das nicht nur im islamischen Finanzwesen. Insgesamt reagierten die Märkte positiv auf die Wiederwahl von Premierminister Razak.
Um soziale Verbesserungen zu erzielen, verkündete Razak den Ausbau des Binnenmarkts: Damit soll bis 2020 nicht nur die Exportabhängigkeit des Landes verringert werden, sondern auch das Einkommen der Bevölkerung wachsen. Im Mai 2012 wurde ein Mindestlohn eingeführt, der angesichts der hohen Lebenshaltungskosten in den Städten aber tatsächlich minimal ist (bei umgerechnet 7,50 pro Tag kommt man auf ungefähr 200 Euro im Monat). Nach dem Wahlergebnis zu urteilen, ist die Bevölkerung jedoch skeptisch. Sorgen macht den Malaysiern die Stagnation der Kaufkraft, und sie fordern schon lange eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur und des Hochschulwesens. Im Zentrum der Kritik steht jedoch die mit der wirtschaftspolitischen Reform von 1969 festgeschriebene Bevorzugung der Malaien, auch wenn diese tatsächlich zu weniger Ungleichheit geführt hat.
Junge Bürger wollen gleiche Rechte
Politisch habe diese Strategie jedoch die Gräben in der Gesellschaft noch vertieft, meint Lafaye de Micheaux. Denn die Angehörigen der chinesischen und der indischen Minderheit seien damit zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden: Sie haben erschwerten Zugang zum öffentlichen Dienst und zu den Universitäten, können kaum Eigentum erwerben und bekommen in den großen staatlichen Unternehmen, die im Zuge der NEP entstanden sind, schwieriger eine Stelle. Außerdem hat das System staatlicher Schirmherrschaft die Korruption verschlimmert, vor allem dort, wo es um die Kontrolle der öffentlichen Märkte und um staatliche Einnahmen, etwa aus dem Verkauf von Rohstoffen oder aus dem Tourismus, geht.
Mit der 1986 in Gang gesetzten Privatisierungswelle bekam die Vetternwirtschaft Aufwind. „Die reichsten 20 Prozent besitzen mehr als die Hälfte des Reichtums im Land“, sagt Lafaye de Micheaux. Inzwischen profitiert vor allem eine zahlungskräftige Oligarchie, die der UMNO nahesteht, von einer Politik, deren Nutznießer eben nicht mehr die armen Malaien sind, so wenig wie die indigenen Völker Borneos, dessen Bodenschätze in großem Maßstab ausgebeutet werden.
Unabhängige Journalisten decken immer wieder Finanzskandale auf. Razak selbst war in seiner Zeit als Verteidigungsminister in eine Korruptionsaffäre rund um den Kauf französischer U-Boote verstrickt. Nachdem eine malaysische Organisation Anzeige erstattet hatte, wurden nun zwei Untersuchungsrichter mit dem Fall betraut.
Die politische Opposition der Pakatan Rakyat, der Volksallianz, gründete ihren Wahlkampf auf die Forderung nach mehr Transparenz. Ihr Wahlerfolg aber ist zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass sie sich für ein alternatives Gesellschaftsmodell einsetzte. Die Allianz besteht aus Parteien, die ethnische Grenzen nicht anerkennen, und mit der Forderung, dass die Umverteilung nicht an ethnischen, sondern allein an sozialen Kriterien orientiert sein müsse, „schuf sie einen Vertretungsanspruch im staatsbürgerlichen, nicht im ethnischen Sinn“, erklärt Lafaye de Micheaux. Die Identitätsfrage ist der Opposition derart wichtig, dass Anwar Ibrahim, der Vorsitzende der Pakatan Rakyat, als „Geburtshelfer der multikulturellen Identität in Malaysia“ gilt. Er wurde übrigens lange als Nachfolger von Premierminister Mahathir gehandelt, dessen Finanzminister er war. 1998 fiel er jedoch in Ungnade: Wegen Korruption wurde Anwar zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, von dem politisch motivierten Vorwurf der „Sodomie“, der ihn diskreditieren und seine Kandidatur verhindern sollte, sprach man ihn jedoch frei.
Diese Entwicklung in Richtung einer gesellschaftlichen Öffnung ist noch von weiteren Faktoren beeinflusst. Da sind einerseits verschiedene Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die, vom Arabischen Frühling inspiriert, eine politische Wende fordern – allen voran zwei Großdemonstrationen für eine Reform des Wahlsystems. Andererseits sorgen die sozialen Netzwerke für eine enorme Verbreitung solcher Initiativen. Mehr als die Hälfte der Malaysier ist inzwischen bei Facebook aktiv.
Als die Opposition nach der Wahl vom 5. Mai aufstand und die Wahlergebnisse anfocht, begann damit eine neue Phase des politischen Engagements. Mehrere zehntausend Malaysier demonstrierten friedlich in den Fußballstadien des Landes und forderten den Rücktritt des Wahlausschusses. Razaks Regierung erhob daraufhin Anklage gegen Abgeordnete, Studenten, Blogger und Oppositionelle. „Die Zivilgesellschaft ist erwachsener geworden, und das staatsbürgerliche Engagement wird jetzt, wo die Angst verschwunden ist, noch zunehmen“, sagt Welsh.
Trotz der Vielzahl eingereichter Beschwerden ist es wenig wahrscheinlich, dass der Wahlausschuss, der vom Büro des Premierministers eingesetzt wurde, die Ergebnisse überprüft. „Aber es wird sich etwas ändern, das ist unausweichlich, und sei es nur aufgrund der demografischen Entwicklung“, meint der Politologe Fauzi. „Für die UMNO wäre es kein Schaden, wenn sie die Macht abgeben müsste. Dann könnte sie dem Vorbild der alten nationalistischen Parteien folgen – etwa der indischen Kongresspartei oder der Kuomintang in Taiwan – und sich korrupter Elemente entledigen und mit einer neuen Identität zurückkehren.“ Mahathirs Zeithorizont, das Jahr 2020, bis zu dem Malaysia in die Gruppe der entwickelten Länder aufgestiegen sein soll, könnte mit der Geburt einer demokratischen Nation einhergehen, die in der Lage ist, zu erkennen, dass ihre Multikulturalität ein großer Reichtum ist.
Land und Leute
Unabhängigkeit: 31. August 1957. 1965 verlässt Singapur, die „Föderation Malaya“ und wird unabhängig.
Verwaltung: Malaysia ist in zwölf Bundesstaaten und drei Bundesterritorien aufgeteilt (Kuala Lumpur, Labuan und Putrajaya). Ostmalaysia, der Nordteil der Insel Borneo, besteht aus den Bundesstaaten Sarawak und Sabah und dem Bundesterritorium Labuan. Westmalaysia besteht aus den restlichen elf Bundesstaaten und den zwei Bundesterritorien Kuala Lumpur und Putrajaya.
Einwohnerzahl: 29,24 Millionen Menschen.
Staatsform: Föderale parlamentarische Wahlmonarchie.
Amtssprache: Malaiisch.
Staatsoberhaupt: König Abdul Halim Mu’adzam Shah (seit 2011). Er wird von neun Sultanen für fünf Jahre gewählt.
Regierungschef: Najib Razak (seit 2009).
Alphabetisierungsrate: 93,1 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre.
Bevölkerung: 60 Prozent Malaien, 25 Prozent Chinesen, 10 Prozent Inder, 5 Prozent indigene Volksgruppen.
Religion: Der Islam ist Staatsreligion, aber die Glaubensfreiheit ist garantiert. 75,9 Prozent der chinesischen Bevölkerung sind Buddhisten.
Das koloniale Erbe
Malaysia mit seinen zwei Landesteilen, der malaiischen Halbinsel und dem Norden der Insel Borneo, zählt knapp 30 Millionen Einwohner. Das Land erlebte mehrere Einwanderungswellen: Ab dem frühen 19. Jahrhundert kamen Chinesen aus Südchina, und am Ende desselben Jahrhunderts strömten Inder ins Land, vor allem Tamilen. Als das Land 1957 unabhängig wurde, erhielten alle Einwanderer und ihre im Land geborenen Nachkommen zwar die malaysische Staatsbürgerschaft. Doch in jeden Pass wird die ethnische Herkunft und Religionszugehörigkeit eingetragen.
Wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Elsa Lafaye de Micheaux erklärt, handelt es sich dabei um „willkürliche, weitgehend erfundene Kategorien“, die mit der malaysischen Realität nichts zu tun haben: Es waren die britischen Kolonialherren, die zum Zweck einer effizienten Verwaltung die Bevölkerung nach der im späten 19. Jahrhundert herrschenden Rassenlehre klassifizierten. Weil die Kolonialverwaltung der Volkszugehörigkeit eine solch hohe Bedeutung beimaß, ist das Denken in ethnischen Kategorien auch heute noch in der malaysischen Gesellschaft fest verankert. C. D.