08.11.2013

Der Fall Machiavelli

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Der Fall Machiavelli

von Olivier Pironet

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Vor fünfhundert Jahren verfasste Niccolò Machiavelli das Buch „Der Fürst“ – ein Jubiläum, das unzählige Biografien, Symposien und Studien feiern.1 In diesem kleinen Werk, das der Kunst des Herrschens gewidmet ist, hat sich Machiavelli (1469–1527) sehr direkt mit der Frage befasst, „was Herrschaft sei, von welcher Art und wie man sie erwirbt, wie man sie behält und wie man sie nie verliert“.2

So enthüllte er das Räderwerk der Macht und die Grundlagen der Herrschaft, was ihm einen etwas dämonischen Ruf und recht widersprüchliche Auslegungen eingetragen hat. Sein Werk gilt als das „meistgelesene und meistkommentierte Buch des politischen Denkens“3 der letzten fünfhundert Jahre.

1513 geschrieben, wurde „Il Principe“ 1532 posthum veröffentlicht und wie alle anderen Bücher des Florentiners von der katholischen Kirche ab 1559 bis Ende des 19. Jahrhunderts auf den Index gesetzt. 1576 hat der hugenottische Autor Innocent Gentillet das Wort vom „Machiavellismus“ geprägt und damit der schlechten Reputation des Werks für lange Zeit Vorschub geleistet. Und seit der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529–1596) Machiavelli zum Vorwurf machte, er habe die „heiligen Mysterien der politischen Philosophie entweiht“, galt Machiavelli gemeinhin als zynischer Theoretiker und Einflüsterer der Tyrannen. Der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) bezeichnete den „Fürst“ als ein „Handbuch für Gangster“.

Gleichwohl kann sein Denken auch für ganz andere Auslegungen herhalten. Für Jean-Jacques Rousseau war „Der Fürst“ das „Buch der Republikaner“; für Antonio Gramsci das Buch, in dem „sich Machiavelli selbst zu einem aus dem Volk gemacht hat“. Die Denker der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts, die Autoren der Aufklärung, die Jakobiner, Marxisten, Faschisten, Republikaner – und auch die Neoliberalen des 21. Jahrhunderts haben im Grunde genommen alle ihre eigene Lesart Machiavellis. Heute dient der Mann aus Florenz auch noch als Inspirationsquelle für Kriminalromane und Videospiele4 sowie für Ratgeberliteratur zur Unternehmensführung – oder zum „Familienmanagement“ wie etwa „Machiavelli for Moms“ (Machiavelli für Mütter)5 einer gewissen Suzanne Evans.

In seinem zweiten Hauptwerk, den „Discorsi“ von 1531, untersucht Machiavelli anhand der römischen Geschichte die Prinzipien republikanischer Herrschaft und stellt deren Überlegenheit gegenüber despotischen oder autoritären Systemen (principati) heraus. „Il Principe“ und die „Discorsi“ kreisen um dasselbe Problem: Wie ist eine Herrschaft der Autonomie und der Gleichheit – die Republik – zu errichten und aufrechtzuerhalten, in der Dominanzverhältnisse ausgeschlossen sind? Wie einen „freien Staat“ aufbauen, der auf allgemeinen Gesetzen, Rechtsstaatlichkeit und Gegenseitigkeit beruht und den Interessen des Gemeinwohls dient?

Als Theorie der Republikgründung oder ihrer Wiederherstellung in Krisensituationen, aber auch als Leitfaden für die richtigen – mitunter gewaltsamen – Methoden zum Bau ihrer tragenden Säulen ist „Der Fürst“ eng verknüpft mit den „Discorsi“, den Reflexionen über die Form, die die Republik annehmen muss – nämlich die Demokratie –, sowie über die Methoden, um sie zu erhalten. Beide Werke sind aus dem historischen Kontext erwachsen, in dem Machiavelli sie verfasst hat, und aus der intellektuellen Tradition, der er verbunden war, um sich aus gutem Grund von ihr zu lösen.

Als Machiavelli sich daranmachte, den „Fürst“ zu schreiben, war die von Zwietracht und Korruption ausgehöhlte Republik Florenz, der er vierzehn Jahre lang als hochrangiger Diplomat gedient hatte, gerade von den Parteigängern der Medici und mithilfe der Spanier gestürzt worden (im September 1512). Das republikanische Zwischenspiel hatte 18 Jahre gedauert: von 1494 bis 1498 war Florenz – unter der Autorität des Mönchs Girolamo Savanarola – eine theokratische, von 1498 bis 1512 eine weltliche Republik.

Jahrzehntelang war die italienische Halbinsel dem territorialen Expansionsstreben der großen Monarchien ausgesetzt gewesen, die sich entsprechend ihren jeweiligen Interessen mit den zahlreichen Stadtstaaten Italiens verbündet und die von Machiavelli als Hoffnung geäußerte territoriale und nationale Vereinigung verhindert hatten. Nur im Lichte dieser historischen Situation lässt sich „Der Fürst“ verstehen: Machiavelli ging es darum, über die Mittel nachzudenken, mit denen in der toskanischen Stadt die Republik wiederherzustellen und ein Staat aufzubauen wäre, stark genug, um Italien „zu ergreifen“ (zu vereinigen) und von den fremden Mächten zu „befreien“. „Der Fürst“ richtet sich an eine Person, die imstande wäre, dieses doppelte Ziel zu erreichen.

„Der Fürst“ ist eine Handlungsanleitung für Krisensituationen und eine Reflexion über die Natur der Macht nach Art der unter den damaligen Humanisten beliebten didaktischen Werke. Gleichwohl bricht das Buch mit den klassischen Idealen. Es verordnet Rezepte und Methoden, die der Begründer oder Wiederbegründer eines Staates befolgen soll, und kehrt dabei im Namen der „tatsächlichen Wahrheit der Dinge“ das Verhältnis der Unterordnung der Politik unter die Moral um: Die Kunst des Herrschens folgt besonderen Regeln, die sich aus der Unbeständigkeit der menschlichen Beziehungen (die Menschen folgen ihren Interessen und Leidenschaften, so auch ihrem Ehrgeiz) und aus der Irrationalität der Geschichte ergeben. Jeder Regent muss diese Regeln kennen, will er den Staat schützen und am Leben erhalten.

Machiavelli hat die Politik als ein unabhängiges Feld des Handelns und Nachdenkens definiert, auf das die Moral keinen Zugriff hat, und hat damit, wie Louis Althusser meinte, eine „echte Revolution des Denkens“ ausgelöst,6 die später zur Herausbildung der modernen politischen Wissenschaften führen sollte. Dieser Neuerung schuldet er seinen schlechten Ruf. Die einen legen ihm zur Last, die Mechanismen der Herrschaft aufgedeckt und die Regierten gelehrt zu haben, wie sich die Regierenden ihrer bedienen, um ihre Macht zu sichern; die anderen werfen ihm vor, er habe um des wirkungsvollen Handelns willen die inhärenten Bindungen zwischen Politik, Moral und Religion zerstört.

Machiavelli entwickelte jedoch eine grundlegend andere Fragestellung. Ihm zufolge beruht jedes Herrschaftssystem auf dem fundamentalen Gegensatz zweier großer Gruppen oder sozialer „Wesensarten“ (umori), durch die seine Form bestimmt wird: das Volk, also die Gemeinschaft der Bürger, und die Herren, die die soziale, politische und wirtschaftliche Elite stellen. Letztere sind in der Minderheit und wollen die Herrschaft; Erstere sind in der Mehrheit und widersetzen sich ihr. „Aus diesen zwei gegensätzlichen Bestrebungen entstehen in einer Stadt drei verschiedene Wirkungen, und zwar entweder die Alleinherrschaft oder die Freiheit oder die Anarchie.“

Kein Staat kommt um diese soziale Aufteilung herum: Der Konflikt zwischen den beiden Gruppen, hinter dem Rangunterschiede, ungleiche Verteilung des Reichtums und unterschiedliche Bestrebungen stecken, ist universell und lässt sich nicht auflösen. Um zu führen, muss man sich für ein Lager entscheiden. Für Machiavelli kann dies nur das des Volkes sein, „denn das Streben des Volkes ist rechtschaffener als das der großen Herren, da diese das Volk unterdrücken wollen, das Volk dagegen nur nicht unterdrückt werden möchte.“ Die Alleinherrschaft, diese autoritäre Herrschaftsform, die Machiavelli auch in der Oligarchie sieht, sei unfähig, die soziale Frage zu lösen. Es sei also ein republikanisches Regime vorzuziehen, das einzige System, das die Gleichheit der Bürger, die Interessen des Gemeinwohls und die Unabhängigkeit des Landes gewährleisten kann.

Eine solche Republik aber, so führte er in den „Discorsi“ weiter aus, kann sich nur auf die Institution der bürgerlichen Zwietracht zwischen Eliten und Volk stützen, anders ausgedrückt: auf die politische Anerkennung des der Stadt innewohnenden Konflikts. Die Vorstellung einer befriedeten Gesellschaft sei ein Mythos, ja sogar eine Absurdität. Machiavelli geht daher davon aus, dass die Römische Republik „nur aufgrund der Meinungsverschiedenheit zwischen Volk und Senat zur Vollkommenheit gelangt“ ist.

Damit entfernt er sich radikal vom klassischen Modell, wonach der Staat auf friedlichen Verhältnissen aufbauen muss. Die Institution der bürgerlichen Zwietracht stellt für Machiavelli sogar das Fundament der Freiheit dar: „In der ganzen Republik gibt es zwei Parteien […] und alle Gesetze zum Wohle der Freiheit entstehen allein aus ihrer Gegensätzlichkeit.“ Deshalb sei es wesentlich, einen gesetzlichen Rahmen zu entwickeln, über den das Volk seine Rechte und Ansprüche geltend machen kann.

Wenn anerkannt sei, dass das Volk und die Herren gerade aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit gemeinsam an der Macht teilhaben, stelle sich die Frage, wem die „Wahrung der Freiheit“ und die Überwachung der Institutionen anzuvertrauen sei. Das Problem sei von vordringlicher Wichtigkeit, denn von der Kontrolle des öffentlichen Interesses durch die eine oder andere dieser beiden Kategorien hängt die Stabilität und die Einheit des Staates ab. Soll die Republik also eine aristokratische oder eine demokratische Form annehmen? Während zu Machiavellis Zeit die meisten republikanisch gesinnten Denker eine Oligarchie befürworteten, empfahl der Mann aus Florenz für die Regelung der stadtstaatlichen Angelegenheiten die Einführung einer Volksrepublik (stato popolare), deren höchste Autorität eine Ratsversammlung darstellt, an der das Volk ebenso teilnehmen kann wie die Herren.

In „Über die Angelegenheiten von Lucca“ bezeichnet Machiavelli den Umstand, dass ein „Großer Rat Befehlsgewalt über die Bevölkerung besitzt“, als „eine gute Einrichtung“, denn dies „stellt ein wirksames Hindernis gegen die Ansprüche gewisser Leute dar. […] Die große Zahl dient dazu, gegen die großen Herren und die Ansprüche der Reichen vorzugehen.“ Zudem schütze die Freiheit und die Gleichheit all jene, die an ihrer Aufrechterhaltung interessiert sind. „Man vertraue stets denjenigen [die Wahrung der Freiheit] an, die an ihrer Beeinträchtigung das geringste Interesse besitzen.“

Eine der größten Bedrohungen sieht Machiavelli jedoch weiter bestehen. Wenn nicht „die mit dem größten Verdienst, sondern die mit der meisten Macht“ die höheren Staatsämter besetzen, werde ein anderer Konflikt auftauchen: die Zwietracht von Interessengruppen, die meistens aus Familienclans, Klientelsystemen oder Kapitalmonopolen hervorgehen, welche Machiavelli mit dem Begriff „sette“ (Sekten) bezeichnet. Sobald „allein die Reichen und die Mächtigen die Gesetze vorschlagen, wohl weniger zugunsten der Freiheit denn für die Erweiterung ihrer Macht“, werde der Staat in seinen Fundamenten untergraben. Aus diesem Grund sei die Römische Republik zugrunde gegangen, ebenso wie die von Florenz. Was also tun? „Die Bürger müssen die Kräfte des Bösen diagnostizieren, und wenn sie sich in der Lage fühlen, sie zu heilen, ohne Zögern gegen sie vorgehen.“

Fußnoten: 1 Siehe unter anderem: „Machiavelli: a multimedia project“, www.brunel.ac.uk/sss/politics/research-groups-and-centres/machiavelli sowie John P. McCormick, „Machiavellian Democracy“, Cambridge (University Press) 2011, und: Volker Reinhardt, „Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie“, München (C. H. Beck) 2012. Die Zitate aus „Der Fürst“ sind entnommen: Machiavelli „Der Fürst“, übersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart (Kröner) 1978. 2 Brief an Francesco Vettori, 10. Dezember 1513. 3 Emmanuel Roux, „Machiavel, la vie libre“, Paris (Raisons d’agir) 2013. 4 Siehe Ranieri Polese, „Machiavel mène l’enquête“, Books, Nr. 46, Paris, September 2013. 5 New York (Simon & Schuster) 2013. 6 Louis Althusser, „Die Zukunft hat Zeit“, Frankfurt am Main (Fischer) 1993. Aus dem Französischen von Dirk Höfer

Le Monde diplomatique vom 08.11.2013, von Olivier Pironet