Im Aus
Frankreichs Nachwuchsförderung verbaut jungen Fußballspielern die Zukunft von Johann Harscoët
Ende der 1980er-Jahre fiel es französischen Fußballfans schwer, sich für die eigene Nationalmannschaft zu begeistern. Noch nie hatte Frankreich bis dahin eine WM gewonnen. Die Trophäen – abgesehen von der Europameisterschaft 1984 – gingen immer an andere. Es gab keine internationalen Spitzenvereine wie Real Madrid oder FC Barcelona. Auch die Leistungen der Ersten Liga waren im europäischen Vergleich bescheiden. Und wenn man den Fußball in Paris mit dem hohen Niveau der zehn besten Londoner Vereine verglich, konnten einem die Tränen kommen.
Dabei waren es Franzosen, die fast alle internationalen Wettbewerbe ins Leben gerufen haben: Jules Rimet, von 1921 bis 1954 Präsident der Fifa, initiierte 1930 die erste Fußball-Weltmeisterschaft in Uruguay. Der ehemalige Profi und Sportjournalist Gabriel Hanot propagierte den Europapokal der Landesmeister (Vorläufer der heutigen Champions League), den 1956 erstmals Real Madrid gewann. Und 1960 fanden auf Betreiben von Henry Delaunay, dem Präsidenten des französischen Fußballverbandes, die ersten Europameisterschaften statt. Auch der Goldene Fußball, der Preis für den besten europäischen Spieler (auch eine Idee von Gabriel Hanot), wird alljährlich von der Zeitschrift France Football verliehen.
Mäzenatentum in ganz großem Stil
Erst Ende der 1980er-Jahre begannen sich einige französische Unternehmer als Mäzene für den Fußball zu interessieren. Der Schauspieler und Geschäftsmann Bernard Tapie und der Medienmogul Jean-Luc Lagardère investierten zwischen 1987 und 1989 ungefähr 500 Millionen Franc (72 Mio. Euro) in die Vereine Olympique Marseille (OM) und Racing Paris. Der Sender Canal+ steckte in 15 Jahren 260 Millionen Euro in den FC Paris-Saint-Germain und steigerte den PR-Wert der Ersten Liga gezielt durch Fernsehübertragungen. 1998 bewarb sich Frankreich um die Austragung der Weltmeisterschaft und stellte dafür den Bau eines großen Stadions in Aussicht.
Der Aufstieg des französischen Fußballs seit Anfang der 1990er-Jahre basiert vor allem auf einer gezielten Nachwuchsförderung. 1991 gründete der Fußballverband das Institut Nationale du Football (INF) Clairefontaine, eine Schule für Fußballer ab 12 Jahren. Dieses Modell wurde von vielen Clubs übernommen und etablierte sich nach dem Sieg der französischen Nationalmannschaft bei der WM 1998 auch außerhalb Frankreichs.
Damit gab es für hoffnungsvolle Sprösslinge des Fußballs plötzlich rasante Aufstiegschancen. Seitdem grasen Talentespäher an den Wochenenden selbst entlegene Provinzsportplätze nach jungen Spielern ab, die anschließend von den Profivereinen ausgebildet werden, um sie später für viel Geld weiterzuverkaufen. Jeder Verein hat durchschnittlich etwa 500 Amateure unter Vertrag. Die besten Geschäfte verspricht die Altersklasse zwischen 10 bis 14 Jahren. Wer 15 Jahre oder älter und noch nicht entdeckt ist, hat praktisch keine Chance mehr. Dieses System erfasst so gut wie alle der 2,2 Millionen Amateurfußballer.
Die Vereine wissen, wie wichtig es ist, möglichst viele gute Pferde im Stall zu haben. Ein 15-Jähriger mit sehr guter Balltechnik bringt womöglich fünf Jahre später keine gute Leistung mehr. Viele frühreife Talente und zukünftige Stars verlieren ihre Unbefangenheit in dem Moment, da ihre Leidenschaft das Spielerische verliert und sie zu ahnen beginnen, dass sie schon ausgebeutet werden, auch wenn sie noch sehr jung und noch lange keine Profis sind.1
Frédéric ist in einer Mittelstandsfamilie in der Nähe von Paris aufgewachsen. Seine Begeisterung für den Fußball hat er von seinem Vater übernommen. Als der Fußballstar Michel Platini, dem dreimal in Folge der Goldene Fußball verliehen wurde, auf dem Höhepunkt seiner Karriere abtrat, war Frédéric noch keine zehn Jahre alt. Aber seine Eltern glaubten, ihr Sprössling könne eines Tages in die Fußstapfen des Idols Platini treten. Eines Tages meldete sich bei Frédéric die Sekretärin des Sportinternats Paris-Saint-Germain, um ihn zu einem Workshop für junge Talente einzuladen. Frédéric war an seiner Schule damals ein kleiner Star, den alle bewunderten. Auf dem Platz seines Vereins schaffte er es manchmal, sämtliche gegnerischen Spieler auszudribbeln, bevor er den Ball ins Tor schoss.
Die Aussicht auf eine Fußballerkarriere ließ den einstigen Musterschüler immer mehr das Interesse an der Schule verlieren. Er träumte sich aus den engen Verhältnissen seines Dorfes hinaus, in einigen Jahren würde er in einem Porsche herumkurven: „So hat sich meine Kindheit und Jugend abgespielt, ohne das kleinste Wölkchen am Himmel. Ich würde mein Hobby zu meinem Beruf machen. Daran zweifelte niemand und ich am allerwenigsten.“
Der Abstieg kam schrittweise. Mit 13 Jahren wurde Frédéric am Sportinternat Poissy des FC Sochaux aufgenommen. Bis dahin hatte er seine kurzen Beine immer mit vorzüglicher Balltechnik kompensiert. Nun merkte er zum ersten Mal, dass er alles, was es zum Profi brachte, von der Pike auf erlernen musste. Das erste Jahr im Internat war auch sein letztes. Er fand sich außerhalb seiner gewohnten Umgebung schwer zurecht und hatte Mühe, sportlich mit den anderen mitzuhalten. Seine schulische Leistungen brachen vollkommen ein. Frédéric versank in der Gruppe und hatte das Gefühl, ein Niemand zu sein. „Ein Albtraum“, sagt er heute. „Vorher war ich der Fußball selbst, ich war das Glück, der Erfolg, die Zukunft. Nach der Hälfte meiner Jugend habe ich begriffen, dass ich ein Nichts bin.“
Die Eltern und ihre Freunde, die Lehrer, die Freunde aus dem Dorf – unentwegt fragten sie bei Frédéric nach, wie es mit seiner Fußballerlaufbahn stehe. Jahrelang spielte er das Spiel mit und betrog sich selbst, bevor er endlich aufgab.
Frédéric ist heute 25 und Maurer. Er raucht einen Joint nach dem anderen, schließt sich am Wochenende zu Hause ein und sieht sich keine Fußballspiele mehr an. „Die Leute sehen in mir vor allem einen Versager. Das Mitleid steht ihnen ins Gesicht geschrieben – oder die Genugtuung darüber, dass ich es nicht geschafft habe. Diese goldene Jugend ist wie ein Klotz am Bein.“ Ein Einzelfall? Ganz im Gegenteil. Kleine Fußballstars wie Frédéric findet man in jedem Dorf, in jedem Verein und in jeder Schule.
Man muss zugeben, dass die Nachwuchsarbeit im französischen Fußball hervorragend ist. Aus ihr sind die meisten Profis der Ersten Liga hervorgegangen, und auch die Erfolge der französischen Nationalmannschaft von 1998 und 2000 verdanken diesem System eine Menge. Aber die Zahl der Gescheiterten ist außerordentlich hoch. Und die Kinder und Jugendlichen, deren Karriereträume jäh zerstört werden, sind auf eine „Umorientierung“ schlecht oder gar nicht vorbereitet.
Das Beispiel des Vereins FC Paris-Saint-Germain und seines Sportinternats steht für viele. Jeden Morgen beginnen hier ungefähr 80 Spieler zwischen 12 und 18 Jahren ihre Aufwärmübungen. Der Schwerpunkt liegt so sehr auf dem Sport, dass der restliche Unterricht zu kurz kommt. Wenn fünf dieser Schüler es eines Tages in eine Profimannschaft schaffen, ist das schon ein Erfolg. Sollte irgendwann auch nur ein einziger in der Nationalmannschaft spielen, wäre das eine Sensation.
Paris-Saint-Germain hat mit weniger als 3 Prozent die niedrigste Professionalisierungsrate seiner Schüler. Aber auch in den anderen Sportinternaten des Landes schaffen es im Durchschnitt weniger als 10 Prozent – nach Jahren der harten Auslese.
Beim INF Clairefontaine, dem hoch angesehenen Internat des Fußballverbands, bewerben sich jedes Jahr fast 1 000 meist zwölfjährige Schüler. Aufgenommen werden nur zwanzig. Nach jedem der ersten beiden Schuljahre werden einige aussortiert, weil ihre fußballerischen Leistungen nicht gut genug sind. Die Übrigen wechseln nach drei Jahren in das Fußballinternat eines Profivereins.
Am Ende schaffen pro Jahr nur vier oder fünf dieser Ausnahmetalente den Sprung in den Profifußball – und auch das nur ganz selten in wirklich gute Vereine. Das INF Clairefontaine sagt seinen Schülern klipp und klar, dass drei von vieren ihre Brötchen anderswo verdienen müssen als beim Fußball. Und diese Aufrichtigkeit ist schon eine Ausnahme. In fast allen anderen Profivereinen dominieren eher Selbstzufriedenheit und Zweckoptimismus. Schließlich will und muss man auch die Eltern bei der Stange halten.
Dass es auf die Dauer unmöglich ist, sich intensiv auf eine Fußballerlaufbahn vorzubereiten und daneben genügend Zeit für die Schule zu finden, wird an den Internaten gern verschwiegen. Die Schüler haben keine Privatsphäre und entfernen sich nur ungern von der Gruppe. Das Training nimmt einen Großteil ihrer Zeit und Kraft in Anspruch. Am INF Clairefontaine werden im entscheidenden zweiten Jahr zwei von drei Schülern nicht versetzt, oder sie wechseln auf die Berufsschule und fangen eine Lehre an. Insgesamt sind gute schulische Leistungen fast ebenso rar wie Erfolge beim Fußball.
Etwa 5 000 Ausnahmetalente zwischen 12 und 18 Jahren schnüren in Frankreich Tag für Tag ihre Fußballschuhe, um „den Beruf zu erlernen“, obwohl im französischen Fußball insgesamt nicht viel mehr als 1 000 Profispieler zwischen 18 und 35 Jahren beschäftigt sind.
Kürzlich überraschte der FC Sochaux auf seiner Homepage mit der Ankündigung, eine „Fußballschule“ für Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren aufzumachen. Beginnt die Talentesuche demnächst an der Wiege?
Falsche Versprechungen mit tragischen Folgen
Fast immer ist die Enttäuschung der jungen Talente vorprogrammiert. Tragisch ist es für viele junge Afrikaner, deren Eltern sich von den Verheißungen des Fernsehens und den Versprechungen dubioser Agenten nach Frankreich und Belgien locken lassen, nachdem sie es geschafft haben, 3 000 bis 4 000 Euro Reisekosten für ihr kleines Wunderkind aufzutreiben.
Jean-Claude Mbvoumin leitet den Verein „Culture Foot Solidaire“. Er kennt hunderte von gescheiterten Talenten aus Afrika, die ohne Papiere irgendwann auf der Straße landen. „Die Afrikaner glauben, dass die größten Schwierigkeiten überwunden sind, sobald sie das Geld für die Reise zusammengekratzt haben. Wenn sie es nicht schaffen, trauen sie sich aus Angst und Scham nicht mehr nach Hause. Allein Kamerun hat in diesem Jahr 850 Ausreisegenehmigungen ausgestellt. Dazu kommen weitere Spieler, die direkt von Agenten nach Frankreich geholt werden.“ Malier, Senegalesen, Ivorer, Nigerianer – für alle ist Frankreich das Sprungbrett für eine Karriere im spanischen, italienischen oder englischen Fußball. „Die Vereine verdienen damit viel Geld“, sagt Mbvoumin. „Warum sollten ausgerechnet sie das System in Frage stellen?“
Zwar hat die Fifa 2001 die internationalen Spielertransfers neu geregelt und die Anwerbung von Minderjährigen verboten. Doch die Agenten korrigieren das Alter ihrer Spieler häufig nach oben. Später werden dann wiederum inzwischen 22-Jährige als 18-jährige Zukunftshoffnung angeboten, um ihren Wert zu erhöhen.2 Es kommt auch vor, dass der Agent mit Zustimmung des Spielers dessen Identität fälscht, um den Verein, bei dem der Spieler ausgebildet wurde, um seinen Anteil an den Transfergeldern zu prellen.
Frankreich profitiert von seinem guten Ausbildungssystem auch insofern, als es das einzige europäische Land mit einem „Handelsbilanzüberschuss“ bei Spielertransfers ist, der sich 2005 auf 12 Millionen Euro belief.
Seit dem berühmten Bosman-Urteil von 1995 können die Vereine beliebig viele ausländische Spieler in ihre Kader aufnehmen. Die Fans identifizieren sich heute weniger unmittelbar mit ihren Spielern. Kein Wunder, denn nicht nur der Fußball, sondern auch der Fußballer ist immer mehr zur Ware und zum Träger von Werbebotschaften geworden.
Die zwanzig werbekräftigsten Spieler verdienen durchschnittlich 3 Millionen Euro im Jahr mit Sponsorenverträgen. Doch wenn ihre Karriere vorzeitig ein Ende nimmt, beginnen die Probleme. Dann fallen sie in die Anonymität zurück und können nur noch nostalgisch an die ruhmreichen Zeiten zurückdenken. Die ehemaligen Stars müssen einen neuen Beruf und ein anderes Leben erlernen und damit zurechtkommen, dass sie nur wegen ihres fußballerischen Könnens bewundert wurden. Oft wird ihnen erst dann klar, in welchem Maß sie williges Opfer einer extremen Form von Fremdbestimmung gewesen sind.
Obwohl jeder Fußballer davon träumt, wie ein Michel Platini oder ein Zinedine Zidane dem Fußball seinen persönlichen Stempel aufzudrücken, dauert eine durchschnittliche Karriere nur fünf bis sechs Jahre. Die Spieler wechseln so häufig die Vereine, dass sie kaum Kontakte knüpfen können, die ihnen nach dem Ende ihrer Laufbahn beruflich weiterhelfen.
Mit monatlich 45 000 Euro brutto in der Ersten Liga und 15 000 Euro in der Zweiten verdienen sie in den wenigen Jahren, in denen sie ihr Talent vermarkten können, zwar sehr gut. Doch das muss nicht so bleiben. Das gesamte finanzielle Gleichgewicht des Sports beruht auf den Fernsehrechten, die zurzeit etwa 600 Millionen Euro pro Jahr allein für die Erste Liga einbringen. Wenn konkurrierende TV-Sender fusionieren, könnte dieser Betrag demnächst drastisch sinken. Und mit der Übertragung von Spielen im Internet könnten diese Rechte bald völlig wertlos sein. Die Zeiten, da die Spielergehälter in Frankreich kontinuierlich anstiegen, sind also auch für die Spitzenspieler vorbei. Doch auch das wird in Zukunft zehntausende Jugendliche wohl nicht davon abhalten, um jeden Preis ihre „Chance“ zu suchen.