13.12.2013

Traumreise und Therapie

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Traumreise und Therapie

Wie viel Wirklichkeit braucht ein Computerspiel? von Martin Lefebvre

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Das Nintendo-Spiel „Animal Crossing“ ist seit 2001 auf dem Markt und wurde seitdem rund 24 Millionen Mal verkauft. Der Held des Spiels bewohnt ein buntes Dorf, in dem der Konsumismus ein kindliches Antlitz hat: Damit er seinen Immobilienkredit zurückzahlen kann, sammelt er Äpfel und verkauft sie an einen Kaufmann in Waschbärengestalt, fängt Insekten für das Naturkundemuseum und bekommt Geschenke von seinen Nachbarn.

Im Universum von „Die Sims“ (Electronic Arts, auf dem Markt seit 2000, 170 Millionen Mal verkauft) geht es weniger idyllisch zu. In einer typisch amerikanischen Mittelklassevorstadt steuert der Spieler rollentypische Figuren mit „echten“ Grundbedürfnissen nach Essen, Sauberkeit oder Geselligkeit; sie tragen Kleidung der Marke Diesel, richten sich mit Ikea-Möbeln ein oder fahren einen Renault.

Beide Spiele sind Simulationen des Alltags, die kaum gegensätzlicher sein könnten: Während die japanischen Ästheten in „Animal Crossing“ eine Fantasiewelt schaffen, setzen die Spieledesigner aus dem Westen auf eine möglichst realistische Darstellung.

Realismus in Computerspielen bedeutet zuallererst Simulation, das heißt über ein System von Regeln wird eine Realität im wahrsten Sinne des Wortes erst hergestellt. „Europa Universalis IV“ zum Beispiel, der jüngste Titel des schwedischen Spieleentwicklers Paradox, der sich auf historisierende Strategiespiele spezialisiert hat, stellt den Spieler an die Spitze einer Nation, über deren Gedeih und Verderb er während der gesamten Epoche der Neuzeit hindurch zu entscheiden hat. „Wir schauen uns die damaligen Entscheidungsoptionen der einzelnen Länder an“, erklärt, Johan Andersson, der Chefentwickler des Spiels. „Dann bemühen wir uns, diese Optionen in eine Spielelogik zu übersetzen, damit der Spieler sie selbst beim Spielen nacherleben kann.“

Dank der leistungsfähigeren Geräte und einer zunehmend sorgfältigen Ausarbeitung der Spiele liefern die Simulationen der neuen Generation von Computerspielen immer realitätsgetreuere Erlebnisse. Dan Greenawalt, Kreativchef bei der Washingtoner Firma Turn 10 Studios, ist verantwortlich für die Fahrsimulation „Forza Motorsport5“, das vor Kurzem auf den Markt kam. Greenawalt stellt hohe Ansprüche an die technischen Details: „Wir schrecken nicht vor Ausgaben zurück und tun alles, was wir können, um wissenschaftlich auf dem neuesten Stand zu sein.“ Dabei stützt er sich auf Verfahren wie die 3-D-Laser-Modellierung und behauptet, er könne seine Rennstrecken mit einer solchen Genauigkeit darstellen, dass man „das Unkraut an den Rändern und die kleinste Unregelmäßigkeit auf der Fahrbahn“ erkennen kann.

Ein ähnliches Detailbewusstsein pflegt auch Thomas Frey, Kreativchef bei der Züricher Firma Giants. Für das Spiel „Farming Simulator“ habe sein Unternehmen mit einer ganzen Reihe von Profis, Landmaschinenherstellern, Landwirten und Experten, zusammengearbeitet. „Farming Simulator“, in dem der Spieler in die Rolle des Managers eines Agrarbetriebs schlüpft, wurde bisher 4 Millionen Mal verkauft.

Trotz der Fortschritte bei der Rechenleistung und des ständig steigenden Aufwands, meint der Schwede Andersson, müsse man sich über die Grenzen der Simulation im Klaren sein. Schließlich seien die Spieler immer noch Menschen und folglich unberechenbar. „Die Realität ist zu vielschichtig, man kann sie nicht reproduzieren“, findet Andersson. „Vor allem, wenn man durch das Spielen ein schönes Erlebnis produzieren möchte.“

Von diesen Grenzen einmal abgesehen, verfügen Computerspiele aber über die Fähigkeit, die Schauplätze und die in ihnen waltenden Kräfte direkt erfahrbar zu machen: „Sie geben den Raum in einer perfekten Weise wieder, vielleicht besser als irgendein anderes Medium“, begeistert sich etwa Dan Houser, der Vizepräsident von Rockstar Games.1

In „Grand Theft Auto V“, der neuesten Produktion der New Yorker Firma, treibt sich der Spieler in Los Santos – einer Kopie von Los Angeles – herum und kann das ganze Stadtgebiet erkunden, von den Elendsquartieren bis zu den Villenvierteln, vom Strand bis zum Industriegebiet, von den Golfplätzen bis zu den Bowlinghallen. Das Spiel ist fraglos kritikwürdig wegen seiner extremen Gewalt, aber auch wegen seiner Tendenz, sowohl Republikaner als auch Gewerkschaftler zu verunglimpfen. Doch die grandiose Art und Weise, mit der „GTA V“ den Spieler in eine virtuelle Welt katapultiert, lässt sich nicht verleugnen. Je nachdem wie alt oder reif der Spieler ist, wird die Reise durch Los Santos zur Sightseeingtour oder zur soziologischen Feldforschung. Man spürt regelrecht die Atmosphäre der Stadt und das in ihr vibrierende Leben.

Videospiele verfügen über ein immer ausgefeilteres Instrumentarium zur Rückübersetzung der Realität. Doch in dem Maße, wie sich die Computerspieleindustrie an ein breiteres Publikum richtet und die ökonomischen Interessen in den Vordergrund rücken, nähert sie sich immer mehr dem Vorbild Hollywoods an und übernimmt das Modell der Antizipation des Massengeschmacks. Die Macher von kriegsverherrlichenden Ego-Shooter-Spielen wie „Call of Duty – Ghosts“ (Activision) rühmen ihre Spiele explizit als „fotorealistisch“: Die 3-D-Bilder von „Call of Duty“ könnten tatsächlich genauso gut aus einem Film stammen.

Explosionen im Sandkasten

Mit Realität im strengeren Sinne haben natürlich auch solche Spiele nichts zu tun. Denn das Ziel ist ja nicht die Rekonstruktion eines „echten“ Schlachtfelds. Welche kommerziellen Aussichten hätte wohl ein Spiel, das einen Infanteristen im Bann des alltäglichen Kriegshorrors zeigte? Die physikalische Simulation und die grafische Meisterleistung dienen in „Call of Duty“ einem Spektakel, das sich mit dem Wahrscheinlichen begnügt. Unter Verwendung von Spezialeffekten können sich die Entwickler beeindruckende Szenen ausdenken. Damit aber der Spieler am Gamecontroller kleben bleibt, muss die Flut der Explosionen als realistisch durchgehen; die Illusionsbereitschaft, das heißt die Fähigkeit des Zuschauers, zu glauben, was er zu sehen bekommt, muss aufrechterhalten werden.

Im Übrigen ist es auch nicht die Realität selbst, die das Spiel wiederzugeben versucht, sondern eine sekundäre, medial gefilterte Realität, wie im Kino oder im Fernsehen. Sportsimulationen wie „Fifa“ oder „NBA2K“ stellen eben nicht ein Fußball- oder Basketballspiel dar, wie es sich in Wirklichkeit abspielt, sondern eher so, wie wir es aus Fernsehübertragungen kennen, mit Wiederholungen in Zeitlupe, verschiedenen Kameraperspektiven und Kommentaren.

Solche Erzähltechniken haben einen enormen Erfolg. Der Zuschauer kann nicht nur über sich selbst hinauswachsen, er spielt dabei auch noch die Hauptrolle. Selbst ein Verfechter des Realismus wie Dan Greenawalt gibt zu, dass er eigentlich eine Art „Sandkasten“ bauen wollte, ein Spielfeld, auf dem man seine eigenen Fantasien ausleben kann. Dort kann man sich dann, beispielsweise hinter dem Lenkrad seines Traumautos, Situationen auszusetzen, „die in der wirklichen Welt schon aus ökonomischen Gründen nicht machbar wären“.

Vor seinem Bildschirm kann der Spieler in unendlich viele verschiedene Rollen schlüpfen, und für jeden Geschmack ist etwas dabei. Sie lieben die Eisenbahn? Dann spielen Sie doch „Train Simulator 2014“! Oder haben Sie schon einmal davon geträumt, als Fernfahrer unterwegs zu sein? Dann sollten sie mit dem „Eurotruck Simulator 2“ ins virtuelle Führerhaus eines Dreißigtonners einsteigen und die endlosen Autobahnkilometer zwischen Danzig und Düsseldorf erkunden. Jedes dieser Spiele versucht die richtige Balance zwischen Realitätsabbildung und Unterhaltung zu finden: „Eine ganz und gar realistische Simulation läuft Gefahr, repetitiv und langweilig zu wirken. Meistens sind wir genötigt, zu vereinfachen, damit das Spiel intuitiver wird und mehr Spaß macht“, erklärt Thomas Frey. „Spaß“ ist der eigentliche Zweck der Computerspiele und setzt damit der Art und Weise, wie Realität wiedergegeben wird, enge Grenzen.

Man sollte den Pseudorealismus jedoch nicht als simple Augenwischerei abtun. Angesichts der aktuellen Welle von „Serious Games“, die meistens Auftragsarbeiten sind und zum Beispiel als Lernmittel eingesetzt werden, muss man zwar nicht in Begeisterung ausbrechen. Doch es ist kaum zu bestreiten, dass einige „News Games“ (Nachrichtenspiele) bestimmte reale Situationen überzeugend problematisieren. So führt zum Beispiel „September 12th“ von Gonzalo Frasca die verheerende Wirkung von sogenannten chirurgischen Schlägen vor Augen, indem es die Spieler dazu zwingt, Terroristen mit einem Zielgerät zu bekämpfen, bei dem sich „Kollateralopfer“ gar nicht vermeiden lassen. Aber auch hier gilt, dass sich das Spiel eher an einem medialen Diskurs orientiert, als eine strikte Simulation der Realität zu verfolgen.

Vielleicht liegt die Zukunft des Realismus in einem eher intimen Naturalismus, der einer ungeschminkten Alltagserfahrung sehr nahe kommt. Dies zeichnet sich etwa bei den relativ neuen Independent Games ab, die zunehmend um nur scheinbar banale Themen kreisen. Man denke hier etwa an das autobiografisch geprägte Rollenspiel „Depression Quest“ (www.depressionquest.com), in dem die junge Entwicklerin Zoe Quinn ihre eigene Depression zum Vorbild nahm. Sie will einerseits die Öffentlichkeit für die Krankheit sensibilisieren und andererseits Leidensgenossen vermitteln, dass sie mit ihrer Krankheit nicht allein sind.

Auch „Papers, Please“ von Lucas Pope führt den realen Alltag in seiner ganzen Banalität und Grausamkeit vor. Hier nimmt der Spieler die Rolle eines Grenzpostens in einer fiktiven Diktatur ein: Er prüft die Pässe der Einreisenden, lässt sie passieren, weist sie ab oder kann sie auch festnehmen, wie ein Grenzsoldat an den Checkpoints von Gaza oder ein Zollbeamter am Flughafen einer europäischen Großstadt. Mit der fortschreitenden Vervielfältigung der Regeln gelingt es „Papers, Please“, das Spielinteresse aufrechtzuerhalten, und zugleich kann es zeigen, wie die Routine abstumpfen lässt: Je mehr der Spieler in Zeitnot gerät, desto unmenschlicher verhält er sich und desto mehr vergisst er, dass auch die Migranten Menschen sind.

Fußnoten: 1 Libération, Paris, 16. September 2013. Aus dem Französischen von Dirk Höfer Martin Lefebvre ist Mitbegründer der Website Merlanfrit.net, die Rezensionen von Videospielen veröffentlicht.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von Martin Lefebvre