Wer befreit die Vereinigten Staaten vom Irak
Die Irakpolitik der Bush-Administration steckt tief in der Sackgasse, und doch ist eine Wende nicht in Sicht. Das liegt auch an der Führung der Demokraten, die keine klare Alternativstrategie entwickelt, weil auch sie das Wort „Realist“ für ein Schimpfwort hält von Anatol Lieven
Der Prozentsatz der US-Amerikaner, die mit der Amtsführung von Präsident Bush zufrieden sind, ist seit seiner Wiederwahl im November 2004 unentwegt gesunken und liegt inzwischen bei 33 Prozent.1 Damit ist Bush unpopulärer als Präsident Lyndon B. Johnson nach Beginn der Tet-Offensive in Vietnam, die damals das Scheitern der US-Kriegsführung offenbar machte. In einer ähnlichen Situation befindet sich Bush heute: Der Irakkrieg ist ein auswegloses Unternehmen geworden. Die optimistischen Verlautbarungen der Regierung wurden mittlerweile schon so oft heruntergebetet und genauso oft durch neue Katastrophenmeldungen dementiert, dass viele – selbst patriotische – Amerikaner sie nur noch als Satire wahrnehmen, ganz wie vor dreißig Jahren gegen Ende des Vietnamkriegs.
Doch auch die Opposition ist angeschlagen und außerstande, eine echte außenpolitische Alternative zu entwickeln. Auch ihre Möglichkeiten, innenpolitisch neue Ansätze zu formulieren, sind äußerst begrenzt. Dass heute beide Seiten des politischen Spektrums gleichzeitig versagen, zeugt von schweren institutionellen, gesellschaftlichen und kulturellen Defiziten im politischen System der USA und von einer ernsten Krise der Innen- und Außenpolitik.
Auf internationaler Ebene wird die Krise allerdings durch die Tatsache verdeckt, dass die USA nach wie vor in der Lage sind, jedem ihrer erklärten Feinde schweren Schaden zuzufügen. Ihre Fähigkeit zu positivem Handeln dagegen ist mittlerweile extrem eingeschränkt. Das erklärt, warum zwar eine Reihe von Ländern auf die ein oder andere Weise ein Gegengewicht zu den USA entwickeln wollen, aber nur wenige von ihnen bereit sind, sich Washington direkt entgegenzustellen. Doch auch die Zahl dieser Länder ist, wie die Beispiele Iran, Venezuela und neuerdings Bolivien zeigen, in letzter Zeit deutlich gestiegen.
Auf innenpolitischer Ebene wird die Systemkrise vor allem durch den anhaltenden Konsumboom aufgehalten, der sich aus den billigen chinesischen Importwaren speist, aber auch aus der Bereitschaft Pekings, die Verschuldung der USA durch den Kauf von Staatspapieren abzudecken. Dadurch wird die Unzufriedenheit der US-Bürger abgefedert, doch der Zustand ist natürlich außerordentlich fragil – und in starkem Maße von stabilen internationalen Beziehungen abhängig.
Hinzu kommt, dass der Wirtschaftsboom den Trend zu sinkenden Reallöhnen keineswegs aufhalten konnte. Die zunehmende, wenn auch politisch diffuse Unzufriedenheit der Massen äußert sich exemplarisch in der Forderung nach deutlich verschärften Gesetzen gegen illegale Einwanderung.2
Zwar hat die Bush-Regierung den Hurrikan „Katrina“ ohne Rücktritte hochrangiger Politiker überstanden, aber den Ruf der Unfähigkeit und des Dilettantismus, der ihr seitdem anhaftet, konnte sie nicht wieder loswerden. Und der jüngste Anstieg der Ölpreise bringt viele in Rage und bestätigt in ihren Augen die Vorwürfe der Demokraten, dass die Regierung von ihren Kumpels in der Ölindustrie gesteuert wird.
Im Kongress gehen inzwischen selbst führende Republikaner auf Abstand zur Bush-Regierung. Und neuerdings protestieren erstmals Abgeordnete beider Parteien – Demokraten wie Republikaner – gegen den Präsidenten, dem sie vorwerfen, dass er den Kongress missachte und sich selbst eine außerverfassungsmäßige, ja sogar monarchische Macht anmaße. Das von Bush betriebene Programm zur „Reform“ der öffentlichen Sozial- und Krankenversicherung wurde im Kongress stillschweigend beerdigt. Und die Revolte gegen die Entscheidung der Regierung, dem Kauf der US-Hafenanlagen durch das ausländische Unternehmen Dubai Ports zuzustimmen, macht deutlich, wie begrenzt die Autorität des Präsidenten selbst in seiner eigenen Partei ist.
In der Folge der Anklage gegen Lewis „Scooter“ Libby, den Stabschef von Vizepräsident Dick Cheney, musste sogar Bushs wichtigster politischer Berater Karl Rove seinen Platz räumen. Ein ebenso schwerer Schlag für die Regierung war der Verlust ihres wichtigstem Verbündeten im Kongress: Tom DeLay, der Fraktionschef der Republikaner im Repräsentantenhaus, musste schmählich abtreten, nachdem er von einem Gericht wegen Korruption verurteilt wurde.
Am negativsten für die Regierung dürfte sich jedoch die Unzufriedenheit auswirken, die ihr aus den Reihen der US-Streitkräfte entgegenschlägt. Diese Unzufriedenheit artikulierte sich am deutlichsten in der scharfen öffentlichen Kritik an Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dessen Kriegsführung im Irak durch einige pensionierte Generäle, deren Meinung erkennbar die Stimmung vieler ihrer aktiven Kameraden widerspiegelt. Hinter den Angriffen auf Rumsfeld steckt zum Teil, dass viele aktive Militärs unbedingt einen Angriff der USA auf den Iran verhindern wollen, von dem sie glauben, dass er für die USA und ihre Streitkräfte furchtbare Folgen hätte.
Diese inhaltliche Kritik der Generäle kommt nicht überraschend. Ähnlich hatten sich schon lange vor ihnen ehemalige höhere Mitarbeiter der Geheimdienste und Experten der Terrorismusbekämpfung wie Richard Clarke und Rand Beers geäußert.
Die Erbitterung dieser Kreise über die Bush-Regierung ist auch der Grund dafür, dass schon seit Jahren aus CIA und FBI, aber auch aus dem US-Militär geheime Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, die vor allem den Missbrauch der Geheimdienste vor dem Irakkrieg und die Absegnung von Foltermaßnahmen durch die Regierung belegen.3 Kürzlich zum Beispiel hat der ehemalige CIA-Mitarbeiter Paul Pillar, vormals zuständig für den Nahen Osten und Südasien, die Bush-Administration beschuldigt, sie habe eine „organisierte Manipulationskampagne“ geführt, um den Irakkrieg vom Zaun brechen zu können.4
Die Militärs befürchten einen großen Krieg
Die Militärs haben intern längst ihre eigenen Iranszenarien durchgespielt und wissen sehr gut, dass die wahrscheinlichste Wirkung eines US-amerikanischen Angriffs auf die iranischen Nuklearanlagen eine Kettenreaktion von sich ständig verschärfenden US-Angriffen und iranischen Vergeltungsschlägen wäre, die vermutlich in einen umfassenden Konflikt münden wird. Die US-Militärs fürchten dabei nicht nur eine direkte Beeinträchtigung der US-amerikanischen Macht, sondern als weitere Besorgnis erregende Konsequenz, dass die USA bei einem weiteren großen Krieg zur allgemeinen Wehrpflicht zurückkehren müssten. Von Wehrpflichtigen aber nehmen sie an, dass sie anfälliger für unzufriedene oder aufsässige Stimmungen und leichter zu demoralisieren sind. Ebenso wichtig ist für sie die Befürchtung, dass eine innenpolitische Protestbewegung gegen außenpolitische Abenteuer für das US-Empire im Nahen Osten ein frühes Ende bedeuten könnte.5
Die Demoralisierung und die Opposition gegen die Regierung in der CIA haben inzwischen zum erzwungenen Abgang von CIA-Chef Porter Goss geführt. Während seiner zweijährigen Amtszeit (seit dem Rücktritt von George Tenet, der die Agentur zur Rechtfertigung des Irakkriegs eingespannt hatte) haben Dutzende von Amtsträgern und Analysten des Geheimdienstes gekündigt, vor allem im Bereich der geheimen Operationen. Goss war ernannt worden, um die Effizienz der CIA zu erhöhen, aber auch um eine strikte politische Kontrolle durchzusetzen, die aus Sicht der Regierung durch die vielen Rücktritte und die „undichten Stellen“ notwendig geworden war. Doch George W. Bush und seine Umgebung unterschätzen die Fähigkeit von Institutionen wie Militär oder Geheimdiensten, eine Regierung nicht durch offene Revolte, sondern durch ständige peinliche Rücktritte und Indiskretionen zu unterminieren. Und die Bemühungen des gescheiterten CIA-Chefs, seine Agentur mit harter Hand zu „disziplinieren“, haben dieser Taktik nur noch weiteren Auftrieb gegeben.
Sie wurde von derartigen Institutionen in der Vergangenheit immer wieder gegen progressive und linke Regierungen anderer Staaten eingesetzt. Deshalb ist es eine herzerfrischende Ironie, dass sich diese Waffen nunmehr gegen eine US-Regierung kehren, die sich regelmäßig zu ihrem Engagement für die „Sicherheit“ gratuliert hat. Gerade weil die Bush-Administration die öffentliche Beweihräucherung der US-Armee so forciert betrieben hat, werden ihr heute Proteste von ehemaligen Generälen besonders gefährlich. Und umso schwerer fällt es der Regierung, diese Proteste durch eine öffentliche Diffamierungs- und Einschüchterungskampagne zu ersticken.
Im Prinzip ist es natürlich eine die Demokratie gefährdende Entwicklung, wenn Elemente des Militärs und der Geheimdienste eine solche politische Rolle übernehmen. Dass sie sich als die effektivste oppositionelle Kraft gegen die Bush-Regierung erweisen, ist aber nicht etwa ein Beweis für ihre Ambitionen, sondern eher dafür, dass der Kongress seiner verfassungsmäßigen Funktion als Aufsichts- und Kontrollorgan bislang nicht gerecht geworden ist. Und ebenso ein Beweis dafür, dass die Demokratische Partei auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik die Rolle der Opposition nicht wirklich ausfüllt.
Das Ausmaß des Niedergangs der Regierung Bush erklärt zum Teil, dass die Demokraten keine besonderen Anstrengungen unternehmen, diesen Niedergang für sich auszunutzen – jedenfalls rechtfertigt so die Führung der Demokraten ihr eigenes mangelndes Engagement. Die Bush-Regierung, so argumentieren sie, schaffe es von ganz allein, sich bei den Wählern zu disqualifizieren. Angesichts dessen sei es für die Demokraten sinnvoller, sich als nüchterne und patriotische Kraft darzustellen und nicht etwa parteipolitische Attacken gegen Bush zu starten, was sie in den Augen der Wähler nur in Misskredit bringen könne.
Unter vier Augen sagen die Sprecher der Demokraten allerdings auch, dass die Dinge erheblich anders liegen werden, wenn die „Zwischenwahlen“ vom November dieses Jahres ihrer Partei die Mehrheit in zumindest einer der beiden Kammern des Kongresses bescheren sollten. Dann nämlich wären die Demokraten in der Lage, der Bush-Regierung die Verantwortung für die Katastrophen der letzten fünf Jahre anzulasten. Dann könne man im Kongress Untersuchungsausschüsse einrichten, die das Recht haben, offizielle Zeugen vorzuladen, sie unter Eid aussagen zu lassen, und eine ganze Reihe hochrangiger Regierungsmitglieder verurteilen oder zum Rücktritt zwingen. Auf diese Weise könnten die Demokraten das Versagen der republikanischen Regierung bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen im November 2008 im öffentlichen Bewusstsein wach halten. Zwar werde man vielleicht nicht in der Lage sein, den Präsidenten des Amtes zu entheben, aber unterhalb dessen werde man alles tun.
Angesichts der strukturellen Besonderheiten der Wahlen sowohl zum Senat als auch zum Repräsentantenhaus wird es den Demokraten allerdings schwer fallen, in beiden Kammern des Kongresses deutlich mehr Sitze dazuzugewinnen. Mindestens ebenso schwer wird es für radikalere, auf alternative Konzepte setzende Demokraten sein, sich in diesen Wahlen durchzusetzen. Damit sind die konservativen und konformistischen Kräfte in der Partei von vornherein im Vorteil. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten in deren außenpolitischen Konzepten. Das aber heißt: Selbst wenn die Demokraten in den zwei Jahren zwischen den Kongresswahlen im November 2006 und den Präsidentschaftswahlen von 2008 dem Republikaner Bush die Hölle heiß machen, dürfte das am Auftreten der USA auf der weltpolitischen Bühne wenig ändern.
Gewiss wollen die führenden Demokraten eine pragmatischere und zurückhaltendere Außenpolitik betreiben als die Bush-Regierung, aber sie sind genauso wenig wie die Republikaner in der Lage, die Einstellung der USA zur Außenwelt grundsätzlich zu überdenken. Schließlich gehört die Spitze der Demokraten – genau wie die der Republikaner – zur traditionellen Elite der US-Sicherheitspolitiker, die ja unter den demokratischen Präsidenten Roosevelt und Truman entstanden ist.
Die Demokraten bieten keine außenpolitische Alternative
Die Vorstellung von globaler Hegemonie, die von der Clinton-Regierung gepflegt wurde, war natürlich gemäßigter als die der Republikaner. Und Clinton setzte auch mehr auf einen Führungsanspruch innerhalb der Bündnisstrukturen und weniger auf unilaterale Entscheidungen oder „Diktate“. Doch der weltpolitische Ehrgeiz war unter Clinton keineswegs geringer.
Und was vielleicht am wichtigsten ist: Beide Parteien pflegen eine Art von Nationalismus, der von der Prämisse ausgeht, dass die USA eine weltpolitische Sonderstellung einnehmen und nutzen müssen. Demokraten und Republikaner sind sich einig in dem unantastbaren Glaubensgrundsatz, dass die Macht der USA prinzipiell gutartig sei und dass die Legitimation, diese Macht einzusetzen, außer Zweifel stehe.
Diese Ähnlichkeit zwischen den beiden Parteien ist ausgerechnet dort am größten, wo sie am folgenreichsten ist, nämlich in der Nahostpolitik. Wie Clinton demonstriert hat, bestehen beide auf einer Hegemonie der USA in der Region, und das bedeutet, dass weitere Kriege ziemlich wahrscheinlich werden. Beide sind auch gegen jede Beschränkung dieser Hegemonie, mithin gegen jeglichen Kompromiss mit Staaten, die von der sicherheitspolitischen Elite der USA als „Schurken“ definiert werden.
Der Bush-Regierung wurde zu Recht vorgehalten, dass sie 2001 und 2002 zwei Angebote des Iran zu umfassenden Verhandlungen zurückgewiesen hat.6 Aber bereits die Clinton-Regierung hatte die Chance nicht genutzt, nach der Wahl des reformistischen Präsidenten Mohammed Chatami 1997 wieder direkte Verhandlungen mit dem Iran aufzunehmen. Ebenso hat es Clinton versäumt, auf eine Friedensvereinbarung zwischen Israel und Syrien zu dringen. Heute unterscheiden sich die Reden, die demokratische Spitzenfiguren wie Hillary Clinton und Evan Bayh halten, in keinem wichtigen Aspekt von den Positionen der Bush-Regierung.7
Beide Parteien sind stark von der israelischen Lobby beeinflusst, und beide haben gezeigt, dass sie nicht willens sind, einen entschiedenen Anlauf zur Beendigung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu unternehmen. Führende Köpfe der Demokraten einschließlich Hillary Clinton und Nancy Pelosi drängen Bush nicht etwa, sich stärker für einen Frieden zu engagieren, sie versuchen im Gegenteil, Bush zu übertrumpfen, indem sie noch bedingungsloser Partei für Israel ergreifen.
Die Clinton-Regierung hat sich in ihrer Nahostpolitik sieben Jahre lang verzettelt und dabei die Errungenschaften des Oslo-Prozesses verspielt. Ein ernsthaftes Engagement entwickelte Clinton erst am Ende seiner zweiten Amtszeit, als es nichts mehr nützen konnte. Heute sieht es nach dem Antrittsbesuch des israelischen Regierungschefs Olmert in Washington aus, als werde Bush am Ende eine von Israel unilateral vollzogene „Lösung“ schlucken. Die aber wird für die Palästinenser, die gesamte muslimische Welt und die Mehrheit der Europäer völlig unakzeptabel sein.8
Unter den Normalbürgern außerhalb Washingtons – in „Middle America“ – gibt es noch immer einen tief verwurzelten Isolationismus, der vor allem in den konservativen Arbeiterschichten dominiert. Wenn sich diese nicht gerade durch Angriffe wie die vom 11. September bedroht fühlen, sind sie sehr viel stärker auf die Belange des eigenen Landes fokussiert und sehr viel skeptischer gegenüber Politikern, die ihnen sagen, dass ihr Land die Welt verändern könne oder müsse. Und sei es nur, weil sie glauben, dass „die Welt das gar nicht verdient“. Das Gefühl dieser schweigenden Mehrheit drückt vielleicht am besten der Country-Sänger Merle Haggard aus, dessen Song „Okie From Muskogie“ die Aversion der patriotischen, religiösen Mittelklasse gegen die diversen Revolutionen der 1960er-Jahre zusammenfasste. In seinem neuesten Song, „America First“, fragt er sich programmatisch: „Warum befreien wir nicht diese Vereinigten Staaten?“ Er fordert nicht nur den Abzug aus dem Irak, sondern auch eine wirkliche Konzentration auf das eigene Land, das dringend wiederaufgebaut gehöre.9
Zuerst kommt Amerika, dann der Rest der Welt
Die Demokraten versuchen, solche Gefühle auszunutzen, und fordern immer häufiger einen frühen Rückzug aus dem Irak. Aber ihre Aufrufe wirken nicht überzeugend. Denn nicht einer der demokratischen Spitzenfiguren ist bereit, eine alternative Strategie für den gesamten Nahen Osten vorzuschlagen, die verhindern könnte, dass die US-Truppen den Irak im Zustand des totalen Bürgerkriegs zurücklassen. Was andere Weltregionen betrifft, so sind die Ziele der Demokraten genauso ambitioniert wie die der Bush-Regierung, insbesondere wenn es darum geht, den Einfluss Russlands in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zurückzudrängen. Und sollte die Bush-Regierung tatsächlich beschließen, den Iran anzugreifen, kann sie sicher sein, dass viele normale US-Bürger, die Merle Haggard hören, und viele führende Demokraten instinktiv eine derartige Aggressionspolitik unterstützen werden, während andere Demokraten allenfalls murren oder schweigen werden, sodass die Partei insgesamt ein inkonsistentes, opportunistisches und jämmerliches Bild abgeben wird. Ein Angriff auf den Iran würde zwar auf monströse Weise gegen die Interessen der USA verstoßen, doch innenpolitisch könnte er sich für die Republikaner als durchaus geschickter Schachzug erweisen.
Dennoch zeigt die Opposition gegen einen solchen Angriff, wie sie aktive Militärs, sicherheitspolitische Experten und Vertreter des Außenministeriums verkünden, dass es in der politischen Elite der USA noch viele kluge, informierte, besonnene und patriotische Elemente gibt. Doch sie verfügen zurzeit – ähnlich wie die patriotischen Isolationisten vom Schlage Merle Haggard – über kein politisches Vehikel, und keine der beiden Parteien kann ihnen, jedenfalls in ihrer aktuellen Zusammensetzung, ein solches bieten. Zu diesem „realistischen“ Lager gehören viele respektable Figuren, die in ihrer Mehrzahl allerdings Akademiker oder Elder Statesmen im Ruhestand sind, also Leute wie Brent Scowcroft, Gary Hart oder Zbigniew Brzezinski. Weder bei den Demokraten noch bei den Republikanern gibt es eine starke Fraktion, die eine realistische Außenpolitik verfolgen würde. Und in beiden Parteien wird das Wort „Realist“ sogar häufig als gezielte Beleidigung eingesetzt.
Es spricht einiges dafür, dass sich eine neue Kraft in der US-amerikanischen Politik erst herausbilden kann, wenn das bestehende, seit dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1867) existierende Zweiparteiensystem zerstört wird. Das aber ist nur denkbar als Folge einer wirklich tief gehenden nationalen Krise, die allerdings früher oder später, wenn die aktuellen politischen Entwicklungen so weitergehen, tatsächlich eintreten wird.
Die große historische Krise der 1860er-Jahre hat Abraham Lincoln, die „Great Depression“ der 1930er-Jahre hat Franklin Delano Roosevelt hervorgebracht. Wir alle können nur hoffen, dass das politische System der USA imstande sein wird, noch einmal ähnliche Leitfiguren zu produzieren. Angesichts des heutigen Zustands der politischen Kultur ist allerdings eher zu befürchten, dass eine solche Krise nur noch extremere Spielarten eines irrationalen Chauvinismus ausbrüten würde.