Versuch, Syrien zu verstehen
Al-Assad hat ohne Reformen keine Zukunft von Eric Rouleau
Selbst Experten ist Syrien ein Rätsel. Wer regiert eigentlich dieses Land – der Präsident, die Partei, das Parlament oder die Armee? Dienen die sozialistischen und panarabischen Parolen nur der Tarnung eines opportunistischen Militärregimes?
Für die Undurchschaubarkeit dieses Systems bieten sich mehrere Erklärungen an: Die Baath-Partei, seit mehr als vierzig Jahren an der Macht, ist im Untergrund entstanden. Ihre Führung hat die Tradition der konspirativen und klandestinen Politik nie aufgegeben. Die Repräsentanten des Regimes misstrauen den eigenen Bürgern nicht weniger als der internationalen Öffentlichkeit. Und gerät die Führung vor allem ins Visier westlicher Mächte, die Informationen – und Falschmeldungen – geschickt zu lancieren wissen, fehlt es Damaskus an Kompetenz oder Glaubwürdigkeit, um sich dagegen zu verwahren.
Land gegen Stadt, Alawiten und Drusen gegen Sunniten
Die Gründung der Baath-Partei in den 1940er-Jahren gehört in die Geschichte des Befreiungskampfs. Damals schlossen sich die Parteigründer den Führern des Drusenaufstands (1925–1927) gegen die französische Kolonialmacht an.1 Beide Bewegungen rekrutierten sich aus dem ländlichen Kleinbürgertum und den religiösen Minderheiten (Drusen, Alawiten, Ismaeliten, Christen), die traditionell in Opposition zu den städtischen Eliten des konservativen sunnitischen Lagers standen, weil diese bis Ende des Ersten Weltkriegs erst mit der osmanischen Obrigkeit und nach dem Krieg mit der französischen Mandatsmacht kollaborierten.2
Nationalistisch waren beide Bewegungen, aber mit unterschiedlichen Vorstellungen von dem, was „nationale Einheit“ bedeutet. Die Aufständischen der 1920er-Jahre wollten die Provinzen des Osmanischen Reichs, die von den Siegern des Ersten Weltkriegs untereinander aufgeteilt worden waren – Mandatsgebiet Syrien, Libanon, Transjordanien und Palästina – zu einem neuen „Großsyrien“ vereinen. Die Gründer der Baath-Partei verfolgten noch ehrgeizigere Pläne: Sie strebten einen Zusammenschluss der gesamten arabischen Welt gegen den westlichen Imperialismus an. Erst 1954 fügte die Partei ihrem Namen – „Partei der arabischen Wiedergeburt“ – das Attribut „sozialistisch“ hinzu. Ob damit ein „arabischer“ oder der „wissenschaftliche“ Sozialismus gemeint war, hing davon ab, ob gerade der „rechte“ oder der „linke“ Flügel der Partei an der Macht war – genauer bestimmt wurden diese Begriffe allerdings ohnehin nicht.
Michel Aflak, Gründervater und Generalsekretär der Partei, der nicht eben als überzeugter Sozialist galt, rechtfertigte 1963 in einem Interview die Staatsstreiche der Baathisten, die einige Wochen zuvor mit Unterstützung des Militärs in Damaskus und Bagdad stattgefunden hatten. Er billigte das Massaker unter den Kommunisten in der irakischen Hauptstadt und war der Ansicht, dass die Armee bei alledem lediglich „williger Vollstrecker“ der „Volkskräfte“ gewesen sei.3
Die syrische Baath-Partei hatte damals etwa 400 Mitglieder, darunter die 60 Militärs, die den Putsch vom 8. Februar 1963 anführten. Die Schlüsselpositionen in Syriens Armee besetzen noch heute Angehörige der konfessionellen Minderheit der Alawiten, denen auch der Assad-Clan angehört.
Im November 1970 putschte sich der damalige Verteidigungsminister General Hafis al-Assad an die Macht. Als Präsident knüpfte al-Assad enge Beziehungen zur Sowjetunion, sandte aber immer wieder auch positive Signale an die USA: So löste er die unter seinen Vorgängern gebildeten Volksmilizen zur „Befreiung Palästinas“ auf und akzeptierte die Resolution 242 des UNO-Sicherheitsrats – was eine indirekte Anerkennung des Staates Israel bedeutete. Nach dem Oktoberkrieg (Jom-Kippur-Krieg) von 1973, der durch den Überraschungsangriff syrischer und ägyptischer Truppen auf den Sinai und die Golanhöhen angezettelt worden war, erklärte der syrische Präsident, ihm sei es nur darum gegangen, Verhandlungen über einen „gerechten Frieden“ zu erzwingen. Kurz darauf, nach dem Scheitern einer von Syrien unterstützen Friedenskonferenz in Genf, kommentierte er gegenüber einem US-Journalisten die Haltung des damaligen US-Außenministers: „An Henry Kissingers so genannter Politik der kleinen Schritte stört mich vor allem das Schneckentempo – ich will große Fortschritte sehen.“
Al-Assad ließ sich weder durch die israelische Annexion der syrischen Golanhöhen (1981) entmutigen noch durch die Hasskampagnen gegen seine Person irritieren. 1990 erklärte er den Frieden zum „strategischen Ziel“ Syriens, und im Oktober 1991, direkt nach dem zweiten Golfkrieg, gehörte er zu den Initiatoren der Konferenz von Madrid, die unter US-Schirmherrschaft erstmals alle gegnerischen Parteien im israelisch-arabischen Konflikt an den Verhandlungstisch brachte. Nach dem Scheitern dieser Initiative nahm er direkte Verhandlungen mit Israels Ministerpräsident Jitzhak Rabin auf. Sie sollten zu einem Grundlagenabkommen als Vorstufe eines Friedensvertrags führen. Im gegenseitigen Einvernehmen, das Verhältnis beider Länder zu normalisieren, engagierte sich Rabin damals dafür, die 1967 eroberten Golanhöhen zurückzugeben. Kurz darauf wurde er ermordet, und Rabins Nachfolger stellten die Annäherung wieder infrage. Hafis al-Assad starb, ohne seinen letzten Wunsch erfüllt zu sehen: seinem Sohn den Friedensschluss mit Israel zu vermachen.
Baschar al-Assad hat offensichtlich nicht das Format seines Vaters, den Henry Kissinger als „gefürchteten Verhandlungspartner – verschlossen, undurchschaubar, geradezu machiavellistisch geschickt“, aber zugleich „vorsichtig und maßvoll“ – würdigte. Dass es dem neuen Präsidenten, einem Augenarzt, der sich zuvor wenig für Politik interessiert hat, eher an Charisma und Erfahrung fehlt, fand die US-Regierung in gewisser Hinsicht ganz beruhigend, wie der Nahostexperte Flynt Leverett in seiner Studie über die Amtsnachfolge in Syrien berichtet.4
Hafis al-Assad hat seinem Sohn ein erprobtes System mafioser Machtstrukturen hinterlassen. Alle innerparteilichen Gegner waren ausgeschaltet worden, die Opposition war liquidiert – vor allem die Muslimbruderschaft, deren Mitglieder 1982 Opfer eines grauenvollen Massakers in der Stadt Hama wurden. Seither regiert der Assad-Clan mit uneingeschränkter Macht und kann sich überdies auf die Loyalität der Bauern – denen die Landreform Vorteile brachte – und des Bürgertums – das von der Liberalisierung der Wirtschaft profitiert – verlassen. In den Reihen der Parteifunktionäre herrscht Korruption und Vetternwirtschaft. Flynt Leverett meint, dass die USA in Baschar al-Assads Regime einen sehr verlässlichen Partner haben könnten, wenn Washington nur diplomatischer vorginge und die Führung in Damaskus nicht ständig brüskierte und unter Druck setzen würde.
Leverett weiß, wovon er spricht: Bevor er 2003 den Staatsdienst verließ, war er Syrienexperte bei der CIA gewesen, hatte Studien für das Außenministerium zusammengestellt und zuletzt die Nahostabteilung des Nationalen Sicherheitsrats geleitet.
Nach Leveretts Ansicht verdient Baschar al-Assad etwas mehr Nachsicht. Schließlich habe er nach seiner Amtsübernahme, ganz im Geiste seines Vaters, den Frieden mit Israel zum „strategischen Ziel“ erklärt und der Regierung in Jerusalem wiederholt Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“ angeboten. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon wollte davon nichts wissen und erklärte, der Rückendeckung aus Washington gewiss, Syrien müsse zuvor mindestens die libanesische Hisbollah entwaffnen und alle Vertreter radikaler palästinensischer Organisationen ausweisen. Als wolle er al-Assad jr. endgültig abschrecken, ließ Scharon auch noch verlauten, eine Rückgabe der Golanhöhen sei ausgeschlossen, man werde vielmehr die Zahl der knapp 20 000 jüdischen Siedler innerhalb von drei Jahren verdoppeln.
Die USA wollten keine gemeinsame Grenzpatrouille
Ein Friedensvertrag zwischen Syrien und Israel sei der US-Regierung offenbar nicht mehr so wichtig, meint Leverett. Die Führung in Washington verüble Damaskus den Protest gegen die Besetzung des Irak und unterstelle, dass Syrien die Infiltration von „Terroristen“ aus seinem Territorium in das Nachbarland dulde und die Aufständischen mit Waffen beliefere. Vergeblich blieb Baschar al-Assads Vorschlag, eine 500 Kilometer breite Zone entlang der Grenze Syriens und Iraks mit gemeinsamen Truppen zu überwachen.
Eine Reihe weiterer unbewiesener Vorwürfe wurden erhoben: Syrien habe Massenvernichtungswaffen aus dem Arsenal Saddam Husseins versteckt, es verfüge auch über eigene biologische und chemische Waffen, die eine „Bedrohung der Sicherheit der Vereinigten Staaten“ darstellen – und es strebe die Herstellung eigener Atomwaffen an. Damaskus dementierte, protestierte und rief zum „konstruktiven Dialog“ auf, konnte die Verleumdungskampagne aber offenbar nicht stoppen.
Vielleicht hätte der syrische Präsident die Aufforderung Frankreichs und der USA, sich aus dem Libanon zurückzuziehen, ernster nehmen sollen. Er schien sich immer noch daran festzuhalten, dass die Westmächte und Israel 1976 Syriens Einmarsch ins Nachbarland geduldet hatten – in der Hoffnung, die syrischen Truppen würden den rechten christlichen Gruppierungen im Bürgerkrieg Schützenhilfe gegen die palästinensischen und „linksislamischen“ Milizen geben. Damals verlor die „internationale Gemeinschaft“ kein Wort über die Mordanschläge des syrischen Geheimdienstes im Libanon – wie 1977 das Attentat auf Kamal Dschumblat, den Führer der Linken. Baschar al-Assad hat offenbar nicht begriffen, dass sich die Lage inzwischen radikal geändert hat. Frankreich und die USA duldeten die syrische Besatzungspolitik im Libanon nicht mehr.5
Zweifellos ist das Baath-Regime geschwächt – Syriens Rückzug aus dem Libanon hat bereits zu einem Rückgang von Investitionen geführt, auch wenn die offiziellen Statistiken dies noch verschleiern. Das überalterte Wirtschaftssystem, das immer noch nach den Prinzipien der untergegangenen Volksdemokratien funktioniert, versperrt den Ausweg aus der Krise. Dennoch scheint dem Regime auf absehbare Zeit kein Machtverlust zu drohen. Das Oppositionsbündnis hat in seinem Manifest von Damaskus im Oktober 2005 eine „friedliche, einvernehmliche und schrittweise“ Einführung der Demokratie gefordert und gewarnt, das Land könne in Anarchie versinken wie der Irak. Die westlichen Mächte fürchten allerdings vor allem den wachsenden Einfluss der wichtigsten oppositionellen Kraft – der Muslimbrüder. Das Regime hat aber noch ein paar Trümpfe in der Hand: das Bündnis mit dem Iran, seinen Einfluss im Libanon – vor allem durch die Beziehungen zur Hisbollah und einigen christlichen Gruppen. Außerdem hat Syriens Einfluss in Palästina seit dem Wahlerfolg der Hamas noch mehr zugenommen.
Syriens Zukunft wird dennoch davon abhängen, ob sich das Regime demokratisiert oder zumindest reformiert. In einem kürzlich erschienenen Sammelband zur „Demokratisierung des Nahen Ostens“ verfolgt der Beitrag von Samir Aita die vorsichtigen und mühsamen Versuche Baschar al-Assads, die ein oder andere kleine Reform im wirtschaftlichen und politischen System durchzusetzen – und das Scheitern dieser Bemühungen.6 Der Autor verweist darauf, dass dieses Land durchaus eine demokratische Tradition besitzt, kommt aber zu dem ernüchternden Schluss, dass trotz aller öffentlichen Appelle weder den USA noch anderen Mächten an der Einführung der Demokratie in Syrien gelegen sei.