Digitaler Goldrausch
Kanada ist die beste Adresse für Entwicklerfirmen aus aller Welt von Ulysse Bergeron und Jean-François Nadeau
Zwei Schwergewichte aus der Welt der Videospiele haben in diesem Herbst die Investoren in Atem gehalten. Zum einen „Call of Duty – Ghosts“, dessen Spieler den Auftrag haben, in einem apokalyptischen Szenario eine größtmögliche Zahl von Feinden der Reihe nach abzuschießen; zum anderen die fünfte Ausgabe von „Grand Theft Auto“ (GTA V), in dem der Spieler in die Rolle eines Kriminellen schlüpft, der sich im Verbrechermilieu einer Metropole bewegt, die Los Angeles zum Verwechseln ähnlich sieht.
Mitte September verkündete Take-Two Interactive Software Inc., dass „GTA V“ bereits in den ersten 24 Stunden 800 Millionen US-Dollar (595,4 Millionen Euro) Umsätze erzielt habe. Drei Wochen später meldete die Firma Activision, die Call of Duty vertreibt, der erste Verkaufstag des Spiels habe gar eine Milliarde Dollar (739 Millionen Euro) in die Kassen gespült. Zum Vergleich: Das Filmepos „Avatar“, einer der finanziell größten Kinoerfolge der jüngeren Zeit, erreichte erst nach 19 Tagen die 1-Milliarde-Dollar-Marke. Allein im Jahr 2012 verzeichnete die florierende Videospielindustrie einen Umsatz von 63 Milliarden US-Dollar.1 Das ist mehr, als die Filmindustrie erwirtschaftet, und mehr als das Doppelte der Einnahmen in der Musikbranche.
In diesem Wirtschaftszweig, wo das Geld nur so gescheffelt wird, nimmt Kanada überraschenderweise eine Spitzenposition ein. Der Beginn dieser Erfolgsgeschichte fällt in das Jahr 1997, als Bernard Landry, damals Finanzminister der Provinz Quebec, zur Gründung einer Cité du Multimédia in Montreal aufrief. Unter zwei Bedingungen waren die Videospielefirmen bereit, der Regierung diesen Traum zu erfüllen: Sie wollten keine Miete zahlen, und die ihrer Meinung nach zu hohe Steuerlast sollte gesenkt werden. Beide Wünsche wurden erhört. Der französische Spieleentwickler Ubisoft („Assassin’s Creed“, „Rayman“, „Far Cry“, „Splinter Cell“) war eines der ersten Unternehmen, das sich in der Cité niederließ.
Für jeden neu geschaffenen Arbeitsplatz forderte Ubisoft über einen Zeitraum von drei Jahren 25 000 Kanadische Dollar (knapp 18 000 Euro) – per annum. Die kanadische Regierung willigte ein, auch wenn dies bei den Quebecer Medienunternehmen, die keinen Anspruch auf derartige Vergünstigungen hatten, einiges Stirnrunzeln hervorrief. Louise A. Perras, Direktorin des Consortium Multimédia Cesam, brachte damals die allgemeine Unzufriedenheit auf den Punkt: „Wir können die Förderung eines solchen Projekts nicht gutheißen, wenn dabei die hiesige Industrie vergessen wird. Wir sind der festen Überzeugung, dass mit den Ubisoft angebotenen Beträgen die gleiche Zahl von Arbeitsplätzen auch in der heimischen Industrie hätte geschaffen werden können. Firmen aus dem Ausland mit paradiesischen Steuerkonditionen anzulocken, ist unserer Meinung nach keine nachhaltige Strategie und gefährdet eine vielversprechende, aber noch anfällige Industrie.“2 Einige Monate später verkündete die Provinzregierung von Quebec, dass die Steuervorteile auf die gesamte Branche ausgeweitet würden. Damit war das Fundament für den Industriezweig gelegt.
Mit der Ankunft von Ubisoft in Montreal etablierte sich in Kanada ein ökonomisches Modell, das bald im ganzen Land Schule machen sollte. Nach Quebec rollten auch andere Provinzen den Global Players der Computerspielindustrie den roten Teppich aus und gewährten bei den Lohnkosten großzügige Steuernachlässe (von 17,5 Prozent in British-Columbia bis zu 40 Prozent in Ontario). Die Kommunen boten weitere Privilegien an. So stellte etwa Montreal bis vor Kurzem 300 kostenlose Parkplätze zur Verfügung – nur für die Ubisoft-Angestellten und das ausgerechnet in einem Viertel, wo extremer Parkplatzmangel herrscht.
Von Ubisoft bis Funcom
Dank all dieser Maßnahmen hat sich Kanada nach den USA und Japan zum drittwichtigsten Land für die Videospieleindustrie entwickelt. Bis 2017 wird für die Branche ein jährliches Wachstum von 6,5 Prozent erwartet, mit einem Jahresumsatz von 87 Milliarden US-Dollar. In Kanada haben sich über 325 Spieleentwickler niedergelassen: Neben den Branchenriesen Warner, Ubisoft und Electronic Arts gibt es eine Vielzahl kleinerer Firmen wie Gameloft, Activision, Funcom oder Eidos, die ebenfalls international erfolgreich sind.
Wie in Japan einige Jahrzehnte zuvor, so hat sich auch in Kanada eine eigene Videospielkultur entwickelt. Dafür haben die Unternehmen alles in ihrer Macht stehende getan. So organisiert Philippe Turp, bei Ubisoft zuständig für besondere Projekte, seit 2012 das Ausbildungszentrum Academia, in dem die Teilnehmer ihre eigenen Spiele kreieren und dabei präzise Vorgaben und unternehmerische Zwänge wie Produktionszeiten, Lieferungsverzögerungen et cetera berücksichtigen müssen. Um die kreative Szene zu fördern und kompetentes Personal heranzuziehen, das im Bedarfsfall engagiert werden kann, hat der Konzern 2011 zusammen mit der Universität Montreal außerdem einen Lehrstuhl für industrielle Forschung mitfinanziert (CRSNG-Ubisoft).
Die Unternehmer der Branche behaupten, dass 27 000 direkt und indirekt Beschäftigte von ihrer Anwesenheit in Kanada profitieren. Das durchschnittliche Jahresgehalt in einem Entwicklerbüro beträgt 72 000 Kanadische Dollar (51 000 Euro) und liegt damit weit über dem Durchschnittsgehalt in Quebec. „Das sind junge Leute, die gern in Restaurants gehen und kulturelle Veranstaltungen besuchen“, sagt Samuel Girardin, Mitgründer von Game on Audio, einer in Montreal ansässigen Firma, die sich auf die akustische Ausstattung von Spielen spezialisiert hat. „Diese Leute geben viel Geld aus und halten damit die Wirtschaft am Laufen. So fließt das Geld letztlich zurück an den Steuerzahler“. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine privilegierte Bevölkerungsgruppe.3
Die von der Regierung in Quebec eröffnete Charmeoffensive könnte sich am Ende als Bumerang erweisen. Mit der Ansiedlung der Branchenriesen Warner Bros. Games und THQ erhöhte sich die Fluktuation bei den Arbeitnehmern, und die Abwerbungen von Angestellten anderer Firmen nahmen beträchtlich zu. Ubisoft hat bereits gefordert, dass der Zuzug neuer Unternehmen nach Montreal gestoppt werden müsse, um das Überleben der schon ansässigen Firmen sicherzustellen.
Yannis Mallat, der CEO von Ubisoft Montreal, hob bei einer Anhörung vor der Handelskammer im Winter 2011 extra hervor, dass der Mangel an „alten Hasen“ eines Tages noch zur Schließung gleich mehrerer Entwicklerfirmen führen könne. Als Beispiel führte er den Verlust von 2 000 Arbeitsplätzen in der Provinz British-Columbia an: „In Vancouver hat man blind auf immer mehr Neugründungen von Spielefirmen und ein allzu rasches, aber schlecht abgesichertes Wachstum gesetzt. Dadurch konnte die Computerspieleindustrie die Förderung eines technisch-kreativen Personals nicht gewährleisten. Und das hat sich ganz direkt auf die Qualität der in Vancouver hergestellten Videospiele ausgewirkt. Sie mögen das als Alarmismus abtun. Aber es ist Realität!“
Doch woher kommen eigentlich diese alten Hasen, auf die die Entwicklerfirmen so sehr angewiesen sind? Im Moment rekrutieren die Firmen einen Großteil ihrer erfahrenen Fachkräfte noch im Ausland. Und um diese Spezialisten zu halten, bieten ihnen die wichtigsten Unternehmen nicht nur ein ansehnliches Gehalt, sondern auch spezielle Vergünstigungen. Bei Ubisoft Montreal gibt es für die 2 400 Angestellten zum Beispiel einen eigenen Kindergarten, eine Mediathek, Sportanlagen und sogar eine eigene Klinik. Solange in Kanada die Zahl der Unternehmen, die Videospiele produzieren, weiter wächst, werden sich natürlich die Branchenriesen den Löwenanteil der Fachkräfte sichern. Noch vor einem Jahrzehnt entfiel lediglich ein Drittel der Arbeitsplätze auf die Großen der Branche. Heute ist diese Zahl auf 90 Prozent gestiegen.
In dem Maße wie sich die Leistungsfähigkeit der Rechner und der Konsolen erhöht, müssen die kleineren Unternehmen eigene Nischen finden. Die für Mobiltelefone und Tablets entwickelten Spiele können zum Beispiel weit billiger produziert werden. Hier scheint für die unabhängigen Studios zwar die Zukunft zu liegen; dafür müssen sie sich aber auch den Bedingungen der Vertriebsplattformen wie iTunes oder GooglePlay beugen.
Wie anderswo auch teilt sich in Kanada der Markt für Videospiele mehr und mehr in zwei Geschäftsfelder auf. Auf der einen Seite die AAA-Spiele wie „GTA V“, für die die Branchenriesen enorme Budgets aufwenden. So hat etwa „GTA V“, das zum Verkaufsstart im September weltweit, von Montreal über London bis Paris und anderswo, mit riesigen Plakaten beworben wurde, allein 270 Millionen Dollar nur für die Entwicklungskosten verschlungen.
Zum Hauptgeschäftsfeld kleinerer Betriebe gehören hingegen vor allem Spiele für mobile Anwendungen, wie Smartphones und Tablets. Der von der Computerspielewirtschaft erhoffte nächste Entwicklungsschritt wird vermutlich auf diesem Feld stattfinden – durch eine Reihe kleinerer Innovationen von Firmen mit begrenzten Mitteln.
Bei mobilen Spielanwendungen setzen die Macher auf den Reiz von Bonusausstattungen: In dem recht simplen Spiel „Adventure Quest World“ zieht zum Beispiel eine Figur gegen Monster zu Felde, die noch leichter zu besiegen sind, wenn der Spieler online einen virtuellen Schutzpanzer kauft. Solche einfachen Spiele machen zurzeit bis zu 10 Prozent des weltweiten Umsatzes in der Spieleindustrie aus. Sie erklären zum Teil auch die verfehlten Erwartungen bei ambitionierten Spielen mit hohem Budget, die auf herkömmliche Zahlungsweisen setzen. So war zum Beispiel Ubisofts „Prince of Persia“, das vor dem Tabletboom und den immer zahlreicheren Handyanwendungen konzipiert worden war, ein Flop; daran konnte 2010 auch die Verfilmung der Geschichte durch die Disney-Studios nichts mehr ändern.
Nach Angaben der International Data Corporation wurden 2012 weltweit 128 Millionen Tablets verkauft, ein Anstieg um 78 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nicht minder explosiv stiegen die Verkaufszahlen bei Smartphones: 2013 wurden über eine Milliarde Geräte abgesetzt. Es ist dieser Bereich, der expandiert und mit dem die größten Anstrengungen und die höchsten Gewinnerwartungen verknüpft werden, nicht so sehr die klassische kostenintensive Sparte der Konsolenspiele.
Die mobilen Anwendungen haben frischen Wind in die Welt der Computerspiele gebracht. Sie haben ein neues Publikum erschlossen, insbesondere unter Frauen und älteren Menschen. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil werden Computerspiele nämlich nicht mehr nur von Jugendlichen konsumiert, die sich in ihrem Kinderzimmer auf die Suche nach virtuellen Erlebnissen machen (siehe den Beitrag von Mathieu Triclot auf Seite 21). In Nordamerika liegt zum Beispiel das Durchschnittsalter der Computerspielekonsumenten bei 35 Jahren. Und der typische Spieler ist überraschenderweise sogar eher weiblich als männlich.
Konkurrent Indien
Mit dem Aufkommen der neuen Plattformen hat sich auch der übliche Ablauf bei der Produktion von Computerspielen verändert. „Manche Entwickler von AAA-Spielen arbeiten inzwischen wie die Produzenten von US-amerikanischen Fernsehserien“, erklärt Samuel Girardin von Game on Audio. „Entsprechend der Pilotsendung im Fernsehen lancieren sie eine kürzere Spielepisode und sondieren das Terrain, bevor sie das Projekt mit weiteren Investitionen vorantreiben.“
So wurden etwa die fünf Missionen der ersten Staffel des beliebten Spiels „The Walking Dead“ nacheinander in einem Zeitraum von acht Monaten veröffentlicht. Die Spielerkommentare, die nach jeder Episode eingingen, halfen der Entwicklerfirma Telltale Games, das Spiel laufend zu verbessern.
Mit der zunehmenden Komplexität des technischen Universums der Videospiele ist die Auslagerung an Subunternehmen gang und gäbe. Im letzten Jahr haben 40 Prozent der kanadischen Unternehmen einen Teil ihrer Produktion ausgelagert, davon 11 Prozent ins Ausland, vor allem in die Vereinigten Staaten, nach Osteuropa, China und Großbritannien. In Quebec bieten gut dreißig Firmen Zulieferdienste an. Die Kernproduktion der Spiele und die künstlerische Ausrichtung findet in Quebec statt, danach werden verschiedene Teile an Studios im Ausland vergeben, sei es an Tochterfirmen oder an externe Dienstleister.
Für viele Firmen ist die Versuchung immer größer, einen Teil der Produktion nach Asien zu verlegen, wo die Gehälter nur ein Fünftel oder gar ein Zehntel betragen. In den USA kann ein Programmierer bis zu 55 000 Dollar jährlich verdienen, in Indien hingegen nur umgerechnet 4 700 Dollar. Die Arbeit eines Designers wird in den USA mit etwa 66 000 Dollar im Jahr vergütet, für dieselbe Arbeit fallen in Indien zurzeit etwa 7 000 Dollar an.
Es ist also kaum überraschend, dass die indische Videospieleindustrie im Laufe der letzten Jahre stark expandierte. Ihr Jahresumsatz ist von etwas mehr als 50 Millionen Dollar 2006 auf 277 Millionen Dollar 2012 gestiegen. Die Analysten der internationalen Unternehmensberatung KPMG prophezeien, dass die indische Computerspieleindustrie in den kommenden fünf Jahren ein durchschnittliches Wachstum von 22 Prozent pro Jahr verzeichnen wird. Für 2018 rechnen sie mit einem Umsatz von 776 Millionen Dollar. Wird der indische Subkontinent also bald zum neuen Eldorado der Videospiele?
Japan hat verschlafen
„In Bezug auf die Auslagerung an Subunternehmen unterscheidet sich die Computerspielebranche nicht sehr von anderen verarbeitenden Industrien“, erklärt Samuel Girardin. In Japan geben bereits 80 Prozent der Entwicklerfirmen an, eine oder mehrere Stufen des Produktionsprozesses in andere Länder auszulagern; 65 Prozent der Animationen, 58 Prozent der Programmierarbeit und 47 Prozent der künstlerisch-kreativen Aufgaben werden ausgelagert.
Der Firmensitz fungiert dabei vor allem als Schaltzentrale, die die verschiedenen Entwicklerteams koordiniert. Die Intensivierung des Wettbewerbs, die steigenden Produktionskosten und die hohen Renditeziele, die sich die Unternehmen aufbürden, zwingen die Entwickler zu Kostenreduzierungen um jeden Preis. Insofern unterliegt die Branche denselben Zwängen wie andere Industrien auch.
In der Vergangenheit kamen die zentralen Neuerungen des Videospielesektors fast ausschließlich aus Asien. Im goldenen Zeitalter der Arkade-Spiele – von den 1980er Jahren bis Mitte der 1990er – nahm Japan, zum Teil aufgrund seiner technologischen Überlegenheit, eine Vorreiterrolle ein. Damit ist es nun vorbei. Denn die klassischen konsolebasierten Spiele aus Japan haben die Entwicklung verschlafen. 2002 hatte die japanische Computerspieleindustrie in dieser Sparte einen Marktanteil von 50 Prozent. Heute ist er auf magere 10 Prozent gesunken. Dieser Rückgang könnte vor allem damit zu tun haben, dass westliche Konsumenten bei hochelaborierten Spielen kein nationales oder regionales Kolorit mehr akzeptieren, wenn es Alternativen gibt, die ihrer Vorstellungswelt mehr entsprechen.
Keiji Inafune, einer der Masterminds der populären Serie „Megaman“ und heute Chef des weltweit operierenden Herstellers Capcom, wusste schon vor drei Jahren, dass Japan in seiner Entwicklung mindestens fünf Jahre zurückliegt: „Ich glaube nicht, dass die japanischen Spiele in Übersee noch einmal erfolgreich sein können. Das ist wie mit Sushi“, sagte Keiji. „Überall im Westen liebt man Sushi, aber wenn man es wie in Japan servierte, würde es niemand kaufen.“