Die Tricks der Lebensschützer
In den Südstaaten der USA sind die Abtreibungsgegner auf dem Vormarsch von Jessica Gourdon
Jeden Tag postieren sich die Aktivisten von „Pro Life“ in der Stadt Jackson vor dem Eingang der Women’s Health Organization, der einzigen Klinik für Schwangerschaftsabbrüche im Bundesstaat Mississippi. Jede Frau, die das Gebäude betritt oder verlässt, wird von ihnen belästigt. Als die Übergriffe vor einigen Monaten immer massiver wurden, hat die Leiterin der Klinik, Diane Derzis, dafür gesorgt, dass die Frauen auf ihrem Weg zwischen Auto und Eingangstür begleitet werden: „Seit der Klinik die Schließung droht, ist das Klima noch rauer geworden. Die Demonstranten putschen sich gegenseitig richtig hoch.“
Der Klinik in Jackson wird vorgeworfen, dass sie gegen eine Verordnung verstoße, die der Bundesstaat Mississippi 2012 erlassen hat. Demnach sind Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, verpflichtet, für den Notfall Belegbetten in einem nahe gelegenen Krankenhaus zu reservieren. Doch kein Krankenhaus habe sich darauf eingelassen, mit ihrer ambulanten Klinik einen solchen Vertrag abzuschließen, erzählt Diane Derzis: „Aus ideologischen Gründen, aus Angst oder weil einige unserer Ärzte nicht in Mississippi wohnen. Diese Vereinbarung hat mit einer sicheren Behandlung außerdem rein gar nichts zu tun. Im Notfall müssen die Krankenhäuser unsere Patientinnen sowieso aufnehmen. Der Gesetzgeber wusste ganz genau, dass er damit unsere Existenz gefährdet.“
Derzeit verdankt die Klinik in Jackson, in der etwa 2 000 Abbrüche pro Jahr vorgenommen werden, ihr Überleben dem Bundesrichter Daniel Jordan. Der konnte die Schließung durch eine einstweilige Verfügung vorerst abwenden. Im Frühjahr 2014 soll der Prozess fortgesetzt werden.
Phil Bryant, der Gouverneur von Mississippi, macht derweil keinen Hehl aus seiner Absicht, den Bundesstaat zum ersten „abortion-free state“ der USA zu machen. Sollte Mississippi – 3 Millionen Einwohner, so groß wie Großbritannien und der ärmste Bundesstaat in den USA – als Erster das Recht auf Schwangerschaftsabbruch abschaffen, wäre das ein starkes Signal.
Ein vergleichbares Tauziehen zwischen Gesetzgebern und Ärzten findet in den Staaten North Dakota, Virginia, Indiana und Alabama statt. Nach einer Umfrage der Huffington Post mussten in den letzten drei Jahren insgesamt 54 Abtreibungskliniken schließen.1 In drei Staaten, North Dakota, South Dakota und eben Mississippi, gibt es nur noch eine einzige Klinik für Schwangerschaftsabbrüche.
In den USA steht das Recht auf Abtreibung seit vierzig Jahren auf einer stabilen juristischen Grundlage. Maßgeblich war das Urteil in dem Prozess „Roe vs. Wade“ 1973. Jane Roe, so lautete das Pseudonym der Klägerin, hatte erklärt, nach einer Vergewaltigung schwanger geworden zu sein. Nach texanischer Gesetzgebung – den Staat Texas vertrat der Staatsanwalt Henry Wade – durfte sie aber nicht abtreiben. Ihr Fall landete schließlich vor dem obersten Gerichtshof. Am 22. Juli 1973 entschieden die Richter, das Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten zu legalisieren, die unterschiedlichen Bestimmungen in den einzelnen Bundesstaaten anzugleichen und festzulegen, dass jede Frau bis zur Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Uterus, also bis zur 22. bis 24. Schwangerschaftswoche, abtreiben darf. Das ist eine weitaus längere Frist, als sie zum Beispiel in Deutschland und in der Schweiz gilt, wo der zu rechtfertigende Abbruch nur innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Befruchtung straffrei ist (ein medizinisch indizierter Abort unterliegt keiner Beschränkung).
In der Theorie erlaubt, in der Praxis erschwert
1992 ergänzte ein anderes Urteil (im Prozess „Planned Parenthood vs. Casey“) die Rechtsprechung und erlaubte fortan den einzelnen Bundesstaaten, einschränkende Maßnahmen einzuführen, sofern diese keine „ungebührlichen Belastungen“ für die Frauen nach sich zögen. Allein 2011 wurden in den Bundesstaaten insgesamt 92 Einschränkungen beschlossen.2 Im vergangenen Jahr waren es 43, bis Oktober 2013 bereits 68. Die Lebensschützerbewegung American United for Life gibt sogar ein Handbuch heraus, in dem sie konkrete Vorschläge macht, mit welchen Maßnahmen das Abtreibungsrecht beschnitten werden könnte.
Neuerdings häufen sich die gezielten Maßnahmen gegen Abtreibungskliniken, die von Non-Profit-Organisationen wie der Planned Parenthood Federation of America (PPFA) unterstützt werden. (In den USA ist es nicht üblich, wegen eines Schwangerschaftsabbruchs in ein reguläres Krankenhaus zu gehen.) Dazu gehören etwa bestimmte Bauvorschriften oder der Zwang zur Anschaffung teurer technischer Geräte, die nach den Empfehlungen der WHO in solchen Kliniken gar nicht notwendig wären.
„Der Schwangerschaftsabbruch gehört zu den sichersten medizinischen Eingriffen. Das Risiko für Komplikationen ist minimal“, erklärte das American College of Obstetricians and Gynecologists in einer Pressemitteilung vom Juli 2013, mit dem es auf ein neues restriktives Gesetz in Texas reagierte, das den Abtreibungskliniken gleichzeitig höhere Standards und Verträge über Belegbetten abverlangt. Mit einem äußerst öffentlichkeitswirksamen elfstündigen Redemarathon (Filibuster) im texanischen Senat hatte die demokratische Abgeordnete Wendy Davis die Abstimmung im Juni nur hinauszögern können. Nun ist das Gesetz durch. Die Dallas Morning News schreibt, dass als Folge vier Abtreibungskliniken werden schließen müssen und drei weitere von der Schließung bedroht seien.3
In Virginia, so berichtete die Washington Post, musste die Klinik von Fairfax im Sommer 2013 zeitweise schließen, weil ihr der Stadtrat den Einzug in neue Räumlichkeiten verwehrt hatte. Dabei musste die Klinik nur deshalb umziehen, weil sie sonst gegen neue Auflagen verstoßen hätte.4
Die Verschärfung der Gesetze lässt sich in erster Linie durch den Triumphzug der Republikaner bei den Kongress- und Gouverneurswahlen im Jahr 2010 erklären. Bei dieser Gelegenheit tat sich auch die Fraktion der Tea Party hervor, die in ihrem Programm in puncto Sexualität, Schwangerschaft und Abtreibung besonders reaktionäre Ansichten vertritt. Überhaupt sind die USA bei diesen Themen ein gespaltenes Land. In den Bundesstaaten, die gegenwärtig von den Republikanern regiert werden (27 von 50), im Herzen der USA und im Süden, wie etwa Alabama, Arkansas, Louisiana oder Mississippi, die zu den ärmsten gehören,5 meinen laut einer neueren Umfrage 52 Prozent der Befragten, Abtreibung müsse „in den meisten Fällen“ strafbar sein. 1995 waren noch 45 Prozent dieser Ansicht. In einigen traditionell demokratischen Staaten an der Ostküste (Connecticut, Vermont, New Hampshire, Maine) ist der Anteil der Abtreibungsgegner dagegen auf 20 Prozent gesunken.6
Schusswaffen und Abtreibung seien die beiden Themen, bei denen sich ein großer kultureller Graben in den USA auftue, meint Theodore Joyce, Professor für Gesundheitsfürsorge an der City University von New York. „Darin unterscheiden wir uns von Europa. Das ist erstaunlich, denn bei der Homo-Ehe zum Beispiel entwickelt sich die öffentliche Meinung in den USA eher progressiv. Die Abtreibung jedoch gilt im Namen von Moral oder Religion weiterhin als verwerflich. In wissenschaftlichen Umfragen gibt die Hälfte der Frauen, die abgetrieben haben, dies nicht mal anonym vor dem Computer zu. Die Zahlen sind nur halb so hoch wie die in den Statistiken des Gesundheitsministeriums.“
Konkurrenz um das strengste Gesetz
Die Wahrung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch ist in den von Republikanern regierten Bundesstaaten vor allem Richtern zu verdanken, die wiederholt von den Parlamenten verabschiedete Gesetze unter Berufung auf das Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ für ungültig erklärt haben. So wies Anfang 2013 ein Richter in North Dakota ein Gesetz zurück, das die Lebensfähigkeit des Fötus mit der Darstellung des Herzschlags im Ultraschall (etwa in der 7. Schwangerschaftswoche) für gegeben erklärte und daraus ableitete, dass Abbrüche nach diesem Zeitpunkt zu verbieten seien.
Im Mai 2013 blockierte ein anderer Richter ein in Arkansas beschlossenes Gesetz, das den Abbruch nach zwölf Wochen untersagt hätte. „Es war von vornherein klar, dass diese Gesetze dem Urteil ‚Roe vs. Wade‘ widersprachen und abgewiesen werden würden“, erklärt der Rechtsprofessor David Garrow. „Diese irrationalen Vorstöße sind reine Taktik, um die Debatte in Schwung zu halten und die Medien mit dem Thema zu vereinnahmen.“ Für Elizabeth Nash, Wissenschaftlerin am Guttmacher Institute, „konkurrieren die Staaten geradezu darum, wer das strengste Gesetz beschließt“.
Während sich die Prozesse und Berufungsverfahren häufen, könnten einige Fälle bis zum obersten Gerichtshof gelangen, wo ein Umschwenken in dieser Frage nie ausgeschlossen ist. „Das Fortbestehen des Urteils von ‚Roe vs. Wade‘ hängt von einer einzigen Stimme ab. Wenn ein neuer, von einem republikanischen Präsidenten ernannter Richter das Gleichgewicht verändert, kann der Gerichtshof kippen“, fürchtet Garrow. Einige Staaten warten ungeduldig auf diesen Tag. In den beiden Dakotas, Mississippi und Louisiana wurden bereits „vorläufige“ Gesetze beschlossen, die nach einer Aufhebung des Grundsatzurteils von 1973 die sofortige Wiedereinführung des Abtreibungsverbots zur Folge hätten. Zwölf andere, darunter Wisconsin, Alabama, West Virginia oder Oklahoma, haben ihre alten Verbotsgesetze niemals annulliert, sodass sie im Falle einer Änderung der Rechtssprechung automatisch wieder gültig werden würden.
Bisher gibt es nur wenige soziologische Studien, die die Auswirkungen der neuen Gesetze auf die Patientinnen untersuchen. Die Abtreibungsquote in den USA liegt seit zehn Jahren stabil bei etwa 19 von 1 000 Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter. In den Bundesstaaten mit restriktiven Gesetzen ist sie niedriger, aber die Tendenz hat sich in den letzen Jahren nicht verändert.
In einem 2011 in The Journal of Policy Analysis and Management veröffentlichten Artikel stellte Theodore Joyce fest, dass nachdem 2004 in Texas ein Gesetz eingeführt worden war, das den Kliniken, die Abtreibungen im zweiten Schwangerschaftsquartal vornehmen, eine Ausstattung wie in Krankenhäusern vorschreibt, „die Zahl der Abtreibungen nach der 16. Woche (in einem Jahr) um 88 Prozent gesunken ist“, während sich die Zahl der Frauen, die zur Abtreibung in einen anderen Staat fuhren, vervierfachte. Die Pflicht zur Ultraschalluntersuchung hingegen scheint keine Auswirkungen auf die Patientinnen gehabt zu haben. „Das ist vor allem ein Mittel, um die Frauen, die Ärzte und den Eingriff zu stigmatisieren, aber nach den Untersuchungen gibt es kaum Meinungsänderungen.“
Auch an der University of California beschäftigt man sich mit diesem Thema. „Wir haben den Eindruck, dass diese Maßnahmen vor allem die ärmsten Frauen treffen. Weil es keine Klinik in der Nähe mehr gibt, müssen sie immer weiter fahren. Die hohen Reisekosten bringen sie manchmal von ihrer Entscheidung ab“, vermutet Sarah Roberts, Professorin an der Fakultät für Medizin. Ihr Forschungszentrum, Advancing New Standards in Reproductive Health, führt eine große Studie durch, die bereits in den Medien für Aufsehen gesorgt hat: Über einen Zeitraum von fünf Jahren vergleicht sie die Entwicklung der Lebenssituation von Frauen mit geringem Einkommen, die abgetrieben haben, mit derjenigen, die abtreiben wollten, es aber nicht geschafft haben.7 Die ersten Ergebnisse haben bereits gezeigt, dass aus der zweiten Gruppe viel mehr Frauen unterhalb der Armutsschwelle leben und auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Nun wurde der Beweis erbracht, dass die gerade von republikanischen Hardlinern favorisierte Antiabtreibungspolitik hohe Kosten für die Gesellschaft verursacht. Das dürfte ihnen eigentlich ganz und gar nicht gefallen.