Einkaufen in Caracas
von Anne Vigna
Altamira, ein schickes Stadtviertel im Osten von Caracas. Alejandra betritt zum vierten Mal an diesem Tag einen Supermarkt. Ihre Mutter hat gerade angerufen und erklärt, dort gäbe es Toilettenpapier, „ganz sicher“! „Und wenn du Maismehl findest, nimm so viel du kriegen kannst.“ Tatsächlich steht da ein Stapel mit Toilettenpapierrollen wie eine Trophäe mitten in der ersten Reihe. „Endlich“, seufzt Alejandra und schickt ihrer Mutter sofort eine Victory-SMS. Der Preis ist viermal so hoch wie der staatlich festgelegte, der Supermarkt verkauft also illegal, aber das ist Alejandra egal. Sie füllt einen Einkaufswagen mit Paketen zu je zwölf Rollen, wirft einen kurzen Blick auf das leere Mehlregal und geht zur Kasse.
Dort stehen schon andere Kunden an und geben die Ergebnisse ihrer Analysen der Lage zum Besten: „Inflation“, „Rationierung“, „Betrug“. „Wann ist endlich Schluss mit der Inflation?“, ruft einer. „Wenn wir eine neue Regierung haben“, antwortet die Frau neben ihm. „Die brauchen wir auch, wenn es nichts mehr zu kaufen gibt. Das kann ja nicht mehr so weitergehen“, meint eine dritte. Da lächeln sie alle.
Niemand hier glaubt, was die Regierung behauptet: dass die Unternehmer, die für die Lieferung der (fast ausnahmslos importierten) Verbrauchsgüter zuständig sind, den Mangel künstlich herbeigeführt hätten, um den Volkszorn anzufachen. Diese Kunden, mit denen Alejandra diskutiert, warten darauf, dass nach fünfzehn Jahren Chavismus die Opposition die Macht übernehmen wird. Die Kassiererin zieht schweigend die Waren übers Band, darunter einiges an Whisky und Champagner, die Flasche zu 3 600 Bolívar, das sind nach dem offiziellen Wechselkurs 422 Euro, was in etwa ihrem Monatsgehalt entspricht. In der Zwischenzeit klagen die Kunden über die ständigen Unterbrechungen in der Wasser- und Stromversorgung, wodurch die elektrischen Haushaltsgeräte lahmgelegt werden.
Plaza Venezuela im Zentrum von Caracas, ein Mittelschichtsviertel. Das Bicentenario, eine Supermarktkette, die seit 2011 in staatlichem Besitz ist, sieht hier genauso aus wie ein Hypermarché im Ballungsraum Paris. Hier gibt es alles – oder fast alles: keinen Champagner. Bei unserem Besuch (Juni 2013) gibt es ein volles Regal mit Toilettenpapier zum staatlichen Festpreis: 51,56 Bolívar für zwölf Rollen, das entspricht 6 Euro. Die Kunden kaufen maximal zwei Pakete, niemand füllt seinen Einkaufswagen damit. Ich frage einen von ihnen: „Warum nehmen Sie denn nicht lieber mehr?“ Er regt sich gleich auf: „Früher, als wir nicht mal genug zu essen hatten, hat sich keiner darum geschert. Und jetzt sind alle total verzweifelt, weil angeblich das Klopapier knapp wird.“ Tatsächlich wird der Mangel in fast allen Artikeln über Venezuela in der internationalen Presse erwähnt.
Agua Salud im armen Westen von Caracas, am Fuße des Quartiers 23 de Enero, eins der großen Armenviertel der Hauptstadt. Je weiter man die unregelmäßigen Stufen der in den Hang gebauten Stadt in der Stadt emporklettert, desto weiter steigt man die soziale Leiter herab. Vor dem Mercal, einer staatlichen Lebensmittelkette mit subventionierten Produkten, hat sich eine lange Schlange gebildet. Jeden Monat werden hier Waren zu konkurrenzlos günstigen Preisen ausgegeben. Die Mercal-Läden sind unterschiedlich groß, vom einfachen Obst- und Gemüselager bis zum mittleren Supermarkt. Es gibt keine Reklame und keine Sonderangebote, und die Produktpalette ist kleiner als in normalen Supermärkten: kein Alkohol, kaum Markenartikel. Aber man bekommt hier alle Waren, deren Preis staatlich reguliert ist: Lebensmittel (Getreide- und Milchprodukte, Fleisch, Kaffee) wie auch Hygieneartikel (Zahnpasta, Schampoo, Windeln, Seife).
Lebensmittelgutscheine gehören zum Gehalt
Im Mercal von 23 de Enero können die Frauen – Männer zeigen sich hier selten – für 200 Bolívar (23 Euro) ihren Einkaufskorb mit Waren wie Hühnerfleisch, Reis, Öl, Milch und sechs Rollen Toilettenpapier füllen. Meist kaufen sie hier einmal im Monat ein, manchmal auch zweimal. Miriam Maura, die Gesundheitsbeauftragte des Viertels, geht durch die Gänge und sucht besonders bedürftige Familien. Diskret fragt sie manche älteren Kundinnen, aber auch junge Frauen mit Kindern: „Wie geht’s? Hast du Geld für den Einkauf? Du kannst es mir ruhig sagen, mach dir keine Sorgen“, flüstert sie ihnen zu.
Einige der jungen Mütter zahlen mit Lebensmittelgutscheinen, die in Venezuela einen Teil des Gehalts oder der Rente ausmachen und in allen Supermärkten angenommen werden. Die Frauen haben also Arbeit, oder zumindest ihr Lebenspartner. „Man kann heute nicht mehr Hungers sterben. Auch wenn man kein Geld hat, kann man essen“, erklärt Maura. Für diejenigen, die nicht zahlen können, hat man bereits Warenkörbe vorbereitet. Sie werden nach einem Gespräch mit der Sozialarbeiterin kostenlos überreicht.
In Altamira steigt Alejandra in ihren Geländewagen, den Kofferraum voller Toilettenpapier. Sie ist immer noch schlechter Laune. Jetzt spricht sie über Theater. Das Theaterfestival von Caracas sei „seit Chávez“ verschwunden, sagt sie, die Kunst- und Kulturszene ausgetrocknet, und sie finde keine ausländischen Bücher mehr. „Wie in Kuba“, sagt sie bitter.
Nur ein paar Meter vom Café Venezuela entfernt gibt es eine Librería del Sur, einen Laden der staatlichen Buchhandelskette. Die großen Klassiker der lateinamerikanischen Literatur, Lyrik, Theater, politische Essays – Bücher gibt es hier für ein paar Bolívar, zum Preis einer Tasse Kaffee. „Hier heißt es immer, wir hätten das billigste Benzin der Welt, aber alle vergessen, dass wir auch die billigsten Bücher haben“, meint einer der Verkäufer. Ja, aber was ist mit ausländischen Büchern? „Das stimmt, ausländische Bücher sind teuer und schwer zu bekommen.“ Was die Kultur betrifft, so kosten ein Theater-, Kino- oder Konzertbesuch etwa so viel wie zwei Tassen Kaffee, alle Museen sind gratis. Wurde das Theaterfestival zensiert? Nach einigem Fragen erfahre ich dann, dass der Raum, in dem es stattfand, enteignet wurde, um dort eine experimentelle Universität der Künste unterzubringen. Das Festival wurde von einer privaten Stiftung wiederbelebt – mit elitären Eintrittspreisen.
„Meine Eltern verstehen mich nicht, aber ich habe die Nase voll von diesem Sozialismus!“, schimpft Luis, ein junger Mann von 23 Jahren. „Man kann sich in diesem Land nichts gönnen, es gibt zu viele Einschränkungen, alles ist teuer.“ Die aktuelle Situation passt offensichtlich nicht allen. Die Jugendlichen, vor allem die der Mittelschicht, von denen 95 Prozent ein Mobiltelefon besitzen,2 legen Wert auf Konsumfreiheit. Luis berichtet stolz, er und seine Freunde hätten kürzlich „die Regierung übers Ohr gehauen“: Für eine Reise nach Panama haben sie Devisen zum offiziellen Kurs vom Staat gekauft, „jeder 3 000 Dollar, ein schöner Batzen“, und dafür in Panama Elektronikartikel gekauft: „Man kann nur einmal im Jahr Dollar kriegen. Das machen wir nächstes Jahr wieder, das war ein gutes Geschäft!“
„Neuerdings macht auch die Mittelschicht Reisen, nicht nur die Oberschicht. Früher ging das nicht“, sagt Antonio, der in Frankreich gelebt hat und zwei Kinder mit einer Französin hat. Er ist Journalist, sie Universitätsprofessorin; trotz ihrer mageren Gehälter leben sie hier besser als in Frankreich. „Ich verdiene 6 000 Bolívar [700 Euro], aber ich bekomme außerdem noch 1 000 Bolívar für Gesundheitskosten, 1 200 Bolívar für Lebensmittel, eine private Versicherung und einen Zuschuss für den Kindergarten. Meine Frau verdient 4 000 Bolívar [468 Euro], aber sie kriegt noch 500 Bolívar pro Kind und verschiedene Sozialunterstützungen. Für die Kinder haben wir noch nichts extra bezahlt, weder für die Geburt noch für den Kindergarten, die Schule oder den Arzt.“
In Venezuela ist der Mindestlohn niedrig: 2 700 Bolívar (316 Euro), dazu 1 600 Bolívar in Form von Lebensmittelgutscheinen. In Caracas muss man jedoch für die Miete im Schnitt zwischen 1 500 und 2 000 Bolívar ausgeben. Ein Facharbeiter verdient, die Gutscheine eingerechnet, etwa 6 000 Bolívar, ein Grundschullehrer 5 200. In den ärmeren Vierteln zeigen die Menschen keine Scheu, offen zu sagen, was sie verdienen. In Alejandras Viertel dagegen schon. Doch „der Lohn ist nicht das Wichtigste“, meint ein Arbeiter bei Kraft Food. „Man hat Gesundheitsversorgung und Schulen, man kann sich im Betrieb oder in der Nachbarschaft organisieren, um den Alltag zu verbessern, und all das macht es aus, dass man sich in diesem Land wohlfühlt.“