09.06.2006

Nie wieder billiges Öl

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Nie wieder billiges Öl

Die Zeit der sicheren Energieversorgung mit Erdöl und Erdgas ist vorbei von Nicolas Sarkis

Das Problem der Sicherheit der Energieversorgung betrifft nicht mehr nur die Ölexporte aus dem Nahen und Mittleren Osten, sondern das weltweite System von Förderung, Verarbeitung und Transport von Erdöl und Erdgas.

In dem Ende 2005 veröffentlichten World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur (IEA) heißt es, die Energieversorgung werde in unmittelbarer Zukunft „deutlich unsicherer“ und wahrscheinlich noch störanfälliger werden.1 Seit Russland Anfang 2006 seine Erdgaslieferungen an die Ukraine und Georgien stoppte und davon auch westeuropäische Kunden betroffen waren, gilt die Versorgung mit Erdgas ebenfalls nicht mehr als sicher. Nicht zufällig beherrschte die Frage der Energiesicherheit im Februar 2006 die G-8-Gespräche in St. Petersburg.

Am 31. Januar erklärte Präsident Bush in seiner Rede zur Lage der Nation, die USA müssten ihre Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen verringern. Und Luc Werring, Referatsleiter im EU-Kommissariat für Verkehr und Energie, sagte kürzlich, eine Verringerung der Abhängigkeit Europas vom Nahen Osten und Russland liege ebenso im „strategischen Interesse“ der EU wie verstärkte Sicherheitsmaßnahmen.

Anders als nach der Befreiung Kuwaits durch die USA 1991 zu erwarten war, hat die allgemeine Verunsicherung schon damals zugenommen. Und auch der US-Einmarsch in den Irak 2003 hat nicht etwa – wie geplant – die Ölversorgung gesichert. Die Folge war vielmehr ein Rückgang der Ölförderung von 2,5 auf 1,5 Millionen Barrel2 pro Tag in einem der wichtigsten Öl exportierenden Länder. Der Ölpreis lag im Jahresdurchschnitt 2002 noch bei 24,36 Dollar pro Barrel. Bis 2005 hat er sich – freilich nicht nur aufgrund der Situation im Irak – mehr als verdoppelt.

Die Ölkrisen 1973 bis 1974 und 1979 bis 1980 resultierten noch aus Embargos, Exporteinschränkungen oder dem Versuch einiger Öl produzierender Staaten, ihre Kontrolle über das „schwarze Gold“ als Druckmittel zu nutzen. Die aktuelle Ölpreisentwicklung und die Besorgnis über die Sicherheit der Ölversorgung resultieren dagegen zum einen aus geopolitischen Gründen (die Situation im Nahen und Mittleren Osten, die Irankrise, ethnische Konflikte in Nigeria), zum anderen aus der mangelnden Balance von Angebot und Nachfrage.

Nach einem mittleren jährlichen Anstieg von 1,54 Prozent im Zeitraum 1992–2002 wuchs die weltweite Nachfrage nach Erdöl 2003 um 1,93 Prozent und 2004 um 3,7 Prozent. Insgesamt nahm die Erdölnachfrage in den letzten Jahren um 5,5 Millionen Barrel pro Tag zu. Allein China erhöhte seine Nachfrage 2003 um 7,6 Prozent und 2004 nochmals um 15,8 Prozent. Inzwischen gehen die Ölförderländer bis an die Grenzen ihrer Förderkapazität. Aber auch die Transport- und Raffineriekapazitäten sind voll ausgelastet. Auch das treibt die Preise weiter in die Höhe.

Nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) und des US-Energieministeriums (DoE) soll sich der weltweite Erdölverbrauch in den nächsten 25 Jahren rasant erhöhen: von 83,2 Millionen Barrel pro Tag 2005 auf 115,4 Millionen Barrel pro Tag 2030 (nach Angaben der IEA) bzw. auf 131 Millionen Barrel pro Tag (nach Schätzung des DoE). Wie es in einem Werbetext von ChevronTexaco heißt, benötigte die Welt 125 Jahre, um die erste Billion (1.000 Milliarden) Barrel Erdöl zu konsumieren, aber für die zweite Billion wird sie nur noch 30 Jahre brauchen (diese Menge entspricht den gesamten heute nachgewiesenen Erdölreserven).

Wie und zu welchen Preisen diese gewaltige Nachfrage zu decken sein könnte, hängt von zwei Variablen ab: den tatsächlich vorhandenen Erdölreserven, über die in jüngster Zeit wieder viel spekuliert wird, und der Entwicklung der Förderkapazitäten.

Die Zweifel an den offiziellen Schätzungen der Opec-Länder begannen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, als die Golfstaaten eine spektakuläre Neubewertung ihrer Ölreserven vornahmen. Die Vereinigten Arabischen Emirate erhöhten ihre Schätzung der eigenen Erdölreserven von 33,9 auf 97,2 Milliarden Barrel, Saudi-Arabien sprach statt von 169,6 von 254,9 Milliarden Barrel.3

Dieser „Zuwachs“ erklärt sich daraus, dass die Opec-Staaten damals eine Begrenzung der Gesamtfördermenge beschlossen und deshalb nationale Förderquoten zuteilten, die sich hauptsächlich an den nachgewiesenen Ölreserven des jeweiligen Landes orientierten. Insgesamt stiegen die „nachgewiesenen“ Ölreserven der Opec-Länder zwischen 1983 und 1988 um 62 Prozent von 470 auf 761,4 Milliarden Barrel. Bis Anfang 2005 erhöhte sich die geschätzte Gesamtmenge nochmals auf 896,6 Milliarden Barrel. Zum Teil wurde dies auf neu entdeckte Vorkommen und die Weiterentwicklung der Fördertechnologie zurückgeführt.

Zweifelhafte Daten über nachgewiesene Ölreserven

Dennoch sind Zweifel angebracht, zumal nahezu die gesamten geschätzten Vorkommen von staatlichen Ölgesellschaften kontrolliert werden, die keinerlei externe Überprüfung zulassen. Die offiziellen Schätzungen der „nachgewiesenen“ Opec-Ölreserven liegen um etwa 400 Milliarden Barrel über den Schätzungen unabhängiger privater Organisationen wie der Association for the Study of Peak Oil (Aspo). Das bedeutet nicht, dass die Zahlen der unabhängigen Institutionen stimmen müssen. Aber die Diskrepanz zeigt, wie komplex die technischen und ökonomischen Kriterien zur Erfassung der Ölreserven sind – und wie zweifelhaft die offiziellen Angaben.

Manche Opec-Staaten haben diese Zweifel genährt, indem sie über lange Zeiträume unveränderte Mengenangaben machten, so als würde jede geförderte Tonne durch neu entdeckte Vorkommen ersetzt. Zum Beispiel gab Kuwait seine nachgewiesenen Ölvorkommen von 1991 bis 2002 konstant mit 96,5 Milliarden Barrel an, obwohl in dieser Zeit 8,5 Milliarden Barrel gefördert wurden. Dazu hieß es in der Petroleum Intelligence Weekly vom Januar 2006, im strengen Sinne nachgewiesen seien für Kuwait maximal 48 Milliarden Barrel. Auch die nachgewiesenen russischen Ölreserven gelten wegen undurchsichtiger Statistiken und Messmethoden als zweifelhaft. Nach westlichen Quellen liegen die tatsächlichen Reserven um 30 bis 40 Prozent niedriger als die offizielle Zahl von 72,3 Milliarden Barrel.

Schließlich sind auch bei den Zahlen der internationalen Ölkonzerne erhebliche Zweifel angebracht, obwohl diese Unternehmen durch externe Rechnungsprüfer kontrolliert werden. Nehmen wir den Fall Shell. Nach einem deutlichen Rückgang der Förderung auf seinem größten Ölfeld in Oman und weiteren Rückschlägen in anderen Förderregionen musste Shell im Januar 2004 seine Angaben über nachgewiesene Reserven um ein Drittel nach unten korrigieren. Kurz darauf senkte auch der US-Konzern El Paso seine Schätzzahlen um etwa 11 Prozent. Und Anfang 2006 musste die spanische Repsol-YPF-Gruppe ihre Erdöl- und Erdgasreserven um 25 Prozent niedriger ansetzen.

Beunruhigend ist auch, dass seit gut zwanzig Jahren mehr Öl gefördert als neues entdeckt wird. Manche Ölkonzerne müssen andere Firmen aufkaufen, um ihr Förderniveau halten zu können. So hat ChevronTexaco 2005 die US-Ölgesellschaft Unocal geschluckt. Ohne diese Übernahme hätte der Konzern die Abnahme seiner Reserven nur zur Hälfte ausgleichen können.

In einigen Ländern geht die Erdölproduktion absolut zurück, was zum Teil daran liegt, dass zu wenig Investitionen in neue Kapazitäten fließen. Als Folge der reduzierten Förderung und eines wachsenden Eigenbedarfs wird deshalb so mancher Nettoexporteur zum Nettoimporteur.

Das gilt bereits für Indonesien, Ägypten, Tunesien und natürlich für die USA, in absehbarer Zukunft auch für Gabun, Oman und Syrien. In Mexiko rechnet die staatliche Pemex mit einem viel schnelleren Rückgang der Fördermengen als bislang angenommen. In der Nordsee, wo 2002 noch 6,6 Millionen Barrel täglich gefördert wurden, erwartet die IEA bis 2010 einen Rückgang auf 4,8 Millionen Barrel und bis 2010 auf nur noch 2,2 Millionen Barrel.

Selbst Kuwait zeigt erste Anzeichen von Erschöpfung

Ob der Ausfall von anderen Förderländern abgefangen werden kann, ist höchst ungewiss. Für den Nahen und Mittleren Osten, wo sich die Förderung bis 2025 verdoppeln soll, sind die Prognosen der IEA und des US-Energieministeriums vollkommen unrealistisch. Nur Saudi-Arabien hat ein Programm zur Erhöhung der Fördermenge von heute 10,8 Millionen Barrel auf 12,5 Millionen Barrel pro Tag bis 2009 aufgelegt. Im Irak und im Iran fehlt dagegen die Basis für eine gesteigerte Förderung. In Kuwait kommt die geplante Verdopplung der Förderkapazitäten von fünf großen Erdölfeldern seit zehn Jahren nicht voran, während die beiden wichtigsten Ölfelder Burgan und Raudhatain, die zwei Drittel des kuwaitischen Öls hergeben, erste Anzeichen von Erschöpfung zeigen.

Angesichts der steigenden Nachfrage nach einem knapper werdenden Rohstoff konkurrieren die Bezieherländer (USA, EU-Länder, China, Japan, Indien) um den Einfluss auf die Öl- und Gasförderstaaten und die Kontrolle der wichtigsten Transportwege. Groß angelegte Manöver zur Sicherung der Energieversorgung waren etwa der Irakkrieg, der die französischen, russischen und italienischen Ölfirmen vertrieb, der Bau der neuen Pipeline von Baku (Aserbaidschan) über Tiflis (Georgien) zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan, oder der deutsch-russische Vertrag über die Ostsee-Gaspipeline.

Seit dem Ölembargo von 1973 haben die Opec-Länder kein Lieferembargo mehr verhängt. Neuerdings versuchen eher die Industrieländer, bestimmte Länder per Abnehmerembargo unter Druck zu setzen. Tatsächlich aber sind die Interessen beider Seiten komplementär: Die Importländer wollen ihre Energieversorgung sichern, die Exportländer ihre Märkte und Exporterlöse. Deshalb dürften die Divergenzen über die Preise mit der Zeit schwinden. Ohnehin wird es gewaltiger Investitionen bedürfen, um die Förderkapazitäten auszubauen und andere, teurere Energiequellen zu erschließen.

Weil Erdöl ein immer knapperes und teureres Gut wird, erfordert die Versorgungssicherheit eine ganz andere Politik als vor dreißig Jahren. Gegensätze existieren heute weit weniger zwischen Förderländern und Importländern als zwischen den großen Abnehmerländern selbst. Die werden durch ihren wachsenden Bedarf und den Rückgang der heimischen Förderung unausweichlich immer mehr von Importen abhängig. Manche alten Rezepte zur Versorgungssicherung sind nicht mehr praktikabel, etwa eine geografische Diversifizierung der Bezugsquellen oder Druck auf die Förderländer. Viel eher werden die neuen Herausforderungen einen Ausgleich der Interessen erzwingen.

Fußnoten: 1 Siehe www.iea.org/Textbase/press/pressdetail.asp?PRESS_REL_ID=163. 2 Ein Barrel sind 159 Liter Erdöl. 3 Der Irak erhöhte die Schätzung seiner Reserven von 1981 auf 1983 von 32 Milliarden auf 65 Milliarden Barrel und 2001 erneut auf 115 Milliarden Barrel. 4 Siehe die UN-Sanktionen gegen den Irak von 1990 bis 2003 sowie die Sanktionen der USA gegen Libyen und den Iran. Aus dem Französischen von Michael Bischoff Nicolas Sarkis ist Leiter des Centre arabe d’études pétrolières und der Zeitschrift Le pétrole et le gaz arabes, Paris.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2006, von Nicolas Sarkis