13.12.2013

Chaudhry der Richter

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Chaudhry der Richter

von Christophe Jaffrelot

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Eigentlich sind die Pakistaner an Militärputsche gewöhnt. Doch dieses Jahr gab es eine Premiere: Zum ersten Mal in der Geschichte Pakistans blieb ein gewähltes Parlament bis zum Ende der Legislaturperiode bestehen und wurde danach von einem neuen abgelöst. Das Fundament für die Rückkehr des Rechtsstaats wurde bereits vorher gelegt – weniger durch politische Parteien als durch die Richter und Anwälte des Landes. Die hatten General Pervez Musharraf, der seit dem Putsch von 1999 das Land regierte, unter Druck gesetzt, 2007/2008 Wahlen abzuhalten. Eine Schlüsselfigur war dabei Iftikhar Muhammad Chaudhry, der Präsident des obersten Gerichtshofs. Er hat dem Justizapparat erstmals ein Rückgrat verliehen. Zuvor hatten Justizbeamte jegliche Rechtsverstöße stets abgesegnet und es sich damit im Windschatten des jeweiligen Regimes bequem gemacht.

Dass Chaudhry einmal eine solch bedeutsame Rolle spielen würde, war nicht abzusehen. Nachdem er 2000 zum Richter am obersten Gerichtshof ernannt worden war, leistete er zwei Jahre später den Eid auf die von Musharraf eingesetzte „Provisional Constitutional Order“, eine Art provisorische Notstandsverfassung, welche die bürgerlichen Freiheiten stark einschränkte. Dies war sicherlich ein Grund, warum Chaudhry 2005 von Musharraf zum Präsidenten des obersten Gerichts befördert wurde. Er vertraute auf seine Fügsamkeit. Doch seitdem hat Chaudhry seine Unabhängigkeit immer wieder unter Beweis gestellt.

Zunächst festigte er seine Reputation als oberster Richter des Landes durch hartes Durchgreifen in der Korruptionsaffäre um die Privatisierung von Pakistan Steel Mills: Der Staat wollte das Unternehmen zu einem Spottpreis an einen Vertrauten des damaligen Premierministers Shaukat Aziz verhökern. Berühmt wurde Chaudhry jedoch durch die „Affäre der Verschwundenen“. Der Gerichtshof untersuchte die außergerichtlichen Tötungen an nationalistischen Belutschen und den Verbleib islamistischer Aktivisten, die vermutlich dasselbe Schicksal ereilt hatte oder die gegen Geld an die CIA ausgeliefert worden waren.

Chaudhrys Aktivitäten verärgerten Musharraf dermaßen, dass er ihn im März 2007 zu sich zitierte und zum Rücktritt aufforderte. Vergeblich. Daraufhin wurde Chaudhry von seinem Amt suspendiert, musste vor dem Obersten Justizrat (Supreme Judicial Council, SJC) erscheinen, und es wurde ein neuer Präsident für den obersten Gerichtshof ernannt. Doch die Anwälte in ganz Pakistan gingen für den entlassenen Richter auf die Straße, und auch die Anwaltskammern wurden aktiv.

Einige Wochen später reiste Chaudhry am 5. Mai auf Einladung der dortigen Anwaltskammer nach Lahore. Die Kolonne aus 2 000 Fahrzeugen benötigte 24 Stunden für die Fahrt von Islamabad in die Hauptstadt der Provinz Punjab. Normalerweise braucht man für diese Strecke nicht länger als vier Stunden. In Lahore wurde Chaudhry von 50 000 Anhängern empfangen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Führer der beiden großen Oppositionsparteien, Benazir Bhutto von der Pakistanischen Volkspartei (PPP) und Nawaz Sharif von der Muslimliga (PML-N), noch im Exil. Erst Ende 2007 konnten sie nach Pakistan zurückkehren – dank der Proteste der Richter und Anwälte. Chaudhry und die Anwälte füllten das rechtsstaatliche Vakuum und unternahmen die entscheidenden Schritte zur Stärkung der Dritten Gewalt, im Guten wie im Schlechten.

Als der demokratische Übergangsprozess durch die Parlamentswahl im Februar 2008 in Gang kam, gingen die Richter erneut auf die Straße: Entgegen allen Erwartungen hatte die siegreiche PPP beschlossen, Chaudhry nicht wiedereinzusetzen. Asif Ali Zardari, der neue starke Mann, fürchtete nämlich, dass der oberster Richter gegen ihn Ermittlungen aufnehmen würde. 2009 musste Zardari jedoch dem Druck der Straße nachgeben.

Als er wieder im Amt war, konzentrierte sich Chaudhry auf Korruptionsaffären, in denen auch Präsident Zardari eine Rolle spielte. Der oberste Gerichtshof bat Premierminister Gilani, die Schweizer Behörden zu kontaktieren, damit diese ihre Untersuchungen über die Konten der Familie Zardari-Bhutto, auf denen man Bestechungsgelder in großen Summen vermutete, wieder aufnahmen. Doch Yousaf Raza Gilani verwies auf die Immunität des Präsidenten und unternahm nichts. Daraufhin stellte der oberste Gerichtshof Zardaris Immunität infrage und verurteilte Gilani am 26. April 2012 wegen Missachtung des Gerichts.

Am 19. Juni 2012 musste Gilani den Posten des Premierministers räumen, nachdem der oberste Gerichtshof verkündet hatte, als Verurteilter könne Gilani sein Amt nicht mehr ausüben. Nicht nur die PPP, sondern auch einige Juristen sahen darin einen „richterlichen Staatsstreich“, der den laufenden Demokratisierungsprozess untergrabe.

Chaudhry interessierte sich jedoch nicht nur für Politiker. Er rollte auch einen alten Fall wieder auf, bei dem es um die Verwicklung des ehemaligen Armeechefs Mirza Aslam Beg und des früheren Chefs des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Asad Durrani, in die heimliche Finanzierung von Bhutto-Gegnern ging, darunter auch Nawaz Sharif. Beg und Durrani sollen mehrere Millionen Rupien gezahlt haben. Die Affäre war bereits Mitte der 1990er Jahre aufgedeckt worden, doch der damalige Präsident des obersten Gerichtshofs war nach der Machtübernahme Sharifs 1997 zum Rücktritt gezwungen worden und hatte der Sache nicht mehr nachgehen können.

Im März 2012 wurde der Fall neu aufgerollt, sogar die wichtigsten Protagonisten wurden wieder vorgeladen. Während sich Gilani vom Gericht gedemütigt fühlte, da er bereits das zweite Mal erscheinen musste, wies Beg alle Anschuldigungen zurück. Durrani hingegen lieferte neue Details über die Verteilung der geheimen Gelder. Niemals zuvor waren die betrügerischen Machenschaften der pakistanischen Armee in dieser Weise vor der Öffentlichkeit ausgebreitet worden. Sogar die Anklageschrift, in der das Gericht in einem noch nie da gewesenen Ton über die Armee sprach, wurde veröffentlicht. Die Generäle Beg und Durrani hätten „gegen die Verfassung verstoßen“, hieß es da, und sie hätten „das Ansehen Pakistans, seiner Armee und seiner Geheimdienste in den Augen der Nation beschädigt“.1

Pervez Musharraf, der nach seinem Rücktritt 2008 das Land verlassen hatte, wurde viermal angeklagt: wegen der Verhaftung von Richtern – darunter auch Chaudhry – nach der Verhängung des Ausnahmezustands 2007, wegen seiner Verantwortung für die Morde an Benazir Bhutto und an dem Belutschen-Führer Akbar Khan Bugti und wegen der Erstürmung der von Islamisten besetzten roten Moschee in Islamabad 2007, bei der etwa 100 Menschen umgekommen waren.2

Nach vier Jahren im Exil und ungeachtet der gegen ihn erhobenen Vorwürfe kehrte Musharraf im März 2013 nach Pakistan zurück, um an den Wahlen teilzunehmen. Seine Kandidatur wurde jedoch in allen vier von ihm anvisierten Wahlkreisen von der Wahlkommission mit unterschiedlichen Begründungen abgelehnt. Er wurde verhaftet und unter Hausarrest gestellt.

Inzwischen ist dem Expräsidenten angeboten worden, auf Kaution freizukommen. Und selbst wenn die Untersuchungen gegen ihn nicht zum Abschluss gebracht werden – Musharraf könnte sich aus der Politik zurückziehen oder wieder ins Exil gehen –, ist die Art und Weise, wie mit ihm umgegangen wurde, für die Armee bereits jetzt eine beispiellose Schmach.

Gleichzeitig hat das Vorgehen des obersten Gerichts viele wichtige Personen der Juristenbewegung verärgert. Der erste Bruch hatte politische Gründe: Die der PPP nahestehenden Anwälte gingen auf Distanz zu Chaudhry, als ihre eigene Partei in die Schusslinie geriet. Andere Juristen, wie die Anhänger des ehemaligen Kricketspielers Imran Khan und dessen Partei „Bewegung für Gerechtigkeit“ (Pakistan Tehrik-e-Insaf, PTI),3 standen weiter hinter dem obersten Richter.

Zudem störten sich viele Mitglieder der Juristenbewegung – unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit – am Umgang des Gerichtshofs mit einer Regierung, die aus demokratischen Wahlen hervorgegangen war. Asma Jahangir, die Präsidentin der Anwaltskammer des obersten Gerichtshofs und Mitbegründerin der pakistanischen Menschenrechtskommission, sorgte sich um die Art und Weise, wie der Gerichtshof die Autorität des Parlaments aushöhlte. Als am 8. August 2012 das Urteil über Gilani gefällt wurde, sprach Jahangir von einem „schwarzen Tag“ für die pakistanische Justiz und betonte: „Wir wollen eine starke, keine mächtige Justiz.“4

Auch Gilanis Nachfolger Raja Pervez Ashraf hat nie an die Schweizer Behörden geschrieben. Der oberste Gerichtshof hatte den Druck verringert, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle den Wahlprozess 2013 beeinflussen. Seither wird Chaudhry in den Kommentarzeilen der pakistanischen Presse eher als Populist dargestellt, weniger als Opfer oder Held. Einer der Vorbehalte der pakistanischen Intelligenzia gegen Chaudhry betrifft seine Beziehung zu bestimmten islamistischen Milieus.

Der Richter und die Islamisten waren in der Frage der „Verschwundenen“ näher zusammengerückt, während auf der Gegenseite die ehemaligen Militärs des ISI mobilmachten. Einer von ihnen, Khalid Khawaja, gründete die NGO Human Rights Defence Council, die im November 2006 Proteste vor dem obersten Gericht organisierte. Im Gegenzug ordnete Chaudhry eine Untersuchung an, die im August 2007 – also während seiner Suspendierung – zur Freilassung von Islamisten führte, die illegal vom ISI verhaftet worden waren.

Doch mittlerweile regt sich auch unter den Richtern Kritik: Im August 2013 rügte die Anwaltskammer von Lahore, die fünf Jahre zuvor zum harten Kern von Chaudhrys Unterstützern gehört hatte, dass der Präsident des obersten Gerichts den Gesetzesartikel über die „Missachtung des Gerichts“ missbrauche und gegen Politiker einsetze. Man sah darin eine Beschränkung der Meinungsfreiheit. Überdies kritisierte die Kammer, Chaudhry untergrabe die Autorität der Wahlkommission.

Die für die Organisation aller Wahlen zuständige Kommission hatte das Datum für die Präsidentschaftswahl auf Anfang August festgesetzt. Weil das Premierminister Sharif, dem Sieger der Parlamentswahlen vom Frühjahr, nicht passte, rief er den obersten Gerichtshof an. Anstatt den Termin der Wahlkommission zu bestätigen oder sich für nicht zuständig zu erklären, entschied dieser, die Wahl um einige Tage vorzuverlegen. Diese Entscheidung führte dazu, dass drei Parteien, darunter die PPP, die Wahl boykottierten und der Vorsitzende der Wahlkommission, ein ehemaliger Richter, sein Amt niederlegte.5

Sicher, Chaudhry hat dem Justizapparat, der sich in der Vergangenheit zu oft in den Dienst ziviler oder militärischer Machthaber gestellt hatte, seine Würde zurückgegeben. Mit den Untersuchungen gegen einige ehemalige Militärs hat er sogar zum ersten Mal die Armee ins Visier genommen. Aber er konnte es sich nicht verkneifen, seine Macht zu missbrauchen – ein Fehler, der in der pakistanischen Exekutive von vielen gemacht wurde. So hat sich der oberste Richter von einigen seiner treuesten Weggefährten aus früheren Tagen entfremdet.

In den kommenden Wochen wird Muhammad Chaudhry, Jahrgang 1948, das Rentenalter erreichen. Es besteht kein Zweifel, dass er die ihm verbleibende Zeit dazu nutzen wird, die offenen Verfahren voranzutreiben und Schlüsselpositionen im Justizsystem mit seinen Getreuen zu besetzen. Nach der Ernennung des neuen pakistanischen Armeechefs Raheel Sharif Ende November wird also eine weitere wichtige Personalie unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit entschieden: wie der Stuhl des obersten Richters besetzt wird.

Fußnoten: 1 Siehe „Asghar Khan Case Short Order: Full Text“, The Express Tribune, Islamabad, 19. Oktober 2012. 2 Vgl. Graham Usher, „Das System Musharraf“, Le Monde diplomatique, Dezember 2007. 3 Bei den Parlamentswahlen am 11. Mai 2013 errang die „Bewegung für Gerechtigkeit“ (PTI) des zum Hoffnungsträger der Jugend und der Mittelschicht avancierten Exkricketstars Imran Khan immerhin 35 Mandate, siehe Sven Hansen, „Nach den Wahlen“, Le Monde diplomatique, Juni 2013. 4 Qaiser Zulfikar, „PM Contempt: Asma Jahangir Terms August 8 as ‚Black Day in Judicial History‘ “, The Express Tribune, Islamabad, 8. August 2012. 5 Hasnaat Malik, „ ‚Cold war‘ between bar and bench intensifying“, Daily Times, Islamabad, 17. August 2013. Aus dem Französischen von Jakob Horst

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von Christophe Jaffrelot