Bruderkrieg im Land der Reinen
In Pakistan bekämpfen sich Schiiten und Sunniten und werden dabei von Iran und Saudi-Arabien unterstützt von Christophe Jaffrelot
Die Schiiten stellen ungefähr ein Fünftel der pakistanischen Bevölkerung, und ihr Konflikt mit den Sunniten bedeutet für das Land eine Herausforderung, die man ohne Übertreibung als existenziell bezeichnen kann. Die Staatsgründer Pakistans sahen das Land als Heimstatt für die Muslime Südasiens. Doch inzwischen stellt die konfessionelle Auseinandersetzung die islamische Einheit infrage. Dies widerspricht dermaßen dem Geist des pakistanischen Nationalprojekts, dass es naheliegt, von einem importierten Konflikt zu sprechen.
Zwar gab es bereits zu Zeiten des britisch-indischen Kolonialreichs latente Spannungen zwischen beiden Konfessionen, doch sie kollidierten nie mit der Ideologie der Muslimliga.1 Deren Chef und Gründer Pakistans, Muhammad Ali Jinnah, war Ismailit und gehörte damit einer schiitischen Strömung des Islam an. Auch andere wichtige Persönlichkeiten Pakistans waren Schiiten; beim Militär etwa General Muhammad Yahya Khan, der zwischen 1969 und 1971 Staatspräsident war.
Heute ist selbst die Konfessionszugehörigkeit des früheren Präsidenten Zulfikar Ali Bhutto (1928–1979)2 , dessen Frau Nusrat (1929–2011) aus dem Iran stammte, zum Gegenstand von Debatten geworden: Die Gläubigen, die sich an seinem Grab versammeln, pflegen zum Beispiel einen ausgeprägt schiitischen Kult um den „Märtyrer“ und seine 2007 ermordete Tochter Benazir. Dabei waren noch bis in die 1980er Jahre hinein Ehen zwischen Schiiten und Sunniten in Pakistan gang und gäbe, und die konfessionelle Identität spielte in der Öffentlichkeit praktisch keine Rolle.
Die Politisierung der pakistanischen Schiiten begann in den 1980er Jahren unter dem Einfluss der iranischen Revolution. Ab 1979 wurde Pakistan zu einem der bevorzugten religiösen Exportländer von Ajatollah Chomeini, der neue Imame in Ghom ausbilden ließ, damit sie seine Botschaft verbreiteten. Nach und nach wurden die Imame alter Schule in den Moscheen abgelöst. Gleichzeitig begann Saudi-Arabien verstärkt sunnitische Gruppen zu unterstützen – unter dem Vorwand, Hilfe für die Mudschaheddin zu leisten, die in Afghanistan von 1979 bis 1989 gegen die sowjetischen Besatzer kämpften.
Der konfessionelle Konflikt verschärfte sich im Zuge der Islamisierungspolitik von General Mohammed Zia-ul-Haq3 , der sich, um seine mangelnde Legitimation nach seinem Putsch gegen Bhutto 1977 zu kompensieren, als „Soldat des Islam“ bezeichnete. Tatsächlich war seine Politik jedoch Teil einer Logik der „Sunnitisierung“. Als Reaktion darauf wurde im April 1979 die Bewegung zur Durchsetzung des schiitischen Rechts (Tehrik-e-Nafaz-e-Fiqah-e-Jafaria, TNJF) gegründet, die zahlreiche Protestaktionen organisierte. Die pakistanischen Schiiten, elektrisiert von der iranischen Revolution, belagerten zwei Tage lang die Hauptstadt Islamabad und widersetzten sich damit einem Demonstrationsverbot, das im Zuge der Verhängung des Kriegsrechts erlassen worden war.
Kurze Zeit später, 1985, wurde mit Unterstützung Saudi-Arabiens die wichtigste sunnitische Bewegung in Pakistan gegründet, die Armee der Gefährten des Propheten (Sipah-e-Sahaba Pakistan, SSP), die auch heute noch zu den aktivsten Gruppen zählt. Die Rivalität zwischen der TNJF, die sich 1993 in Schiitische Bewegung Pakistan (Tehrik-e-Jafaria Pakistan, TJP) umbenannte, und der SSP war zunächst rein politisch: Aus beiden Bewegungen entwickelten sich Parteien, die an Wahlen teilnahmen. Doch dann formierten sich in beiden Lagern Milizen als bewaffneter Arm.
Anschläge auf Familienfeste und Gottesdienste
Ende der 1980er Jahre nahm die konfessionell begründete Gewalt stark zu. Es kam zu gezielten Attentaten, ein politischer Führer nach dem anderen wurde ermordet. Haq Nawaz Jhangvi, der Gründer der SSP, wurde 1990 getötet. Sein Mörder war wahrscheinlich ein sunnitischer Rivale, doch beschuldigt wurden die Schiiten. Aus Rache töteten Jhangvis Anhänger den iranischen Konsul in Lahore. 1994 gründete eine extremistische Fraktion der SSP die Jhangvi-Armee (LJ). Die Abspaltung ging zurück auf Riaz Basra, einen Punjabi, der am Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan teilgenommen hatte. Gleichzeitig gründete der radikale Flügel der schiitischen TJP die Armee Mohammeds (Sipah-e-Muhammad Pakistan, SMP).
Ab 1995 verübten diese Gruppen nicht mehr nur Attentate auf die Anführer der jeweils anderen Seite. Es entbrannte ein regelrechter Kampf, bei dem es darum ging, die Gesamtheit des anderen Lagers nicht nur führungslos zu machen, sondern zu terrorisieren: Bomben explodierten nach dem Freitagsgebet vor Moscheen, Selbstmordattentäter sprengten sich inmitten von Prozessionen oder Familienfesten in die Luft. 1989 wurden in Pakistan 67 „konfessionelle Zwischenfälle“ mit 18 Todesopfern gezählt, 2010 kamen bei 57 Anschlägen 509 Menschen ums Leben. Allein zwischen dem 1. Januar und dem 27. Oktober 2013 forderten 91 Attentate 443 Menschenleben.4
Da die konfessionell begründete Gewalt zur immer ernsthafteren Bedrohung für die innere Sicherheit und darüber hinaus für die Einheit der Nation geworden war, beschloss Pervez Musharraf, Präsident von 2001 bis 2008, sich vor allem auf die Bekämpfung der LJ und der SSP zu konzentrieren, denn die sunnitischen Milizen waren den schiitischen militärisch haushoch überlegen. Diese Strategie – die auch die beiden Attentate auf Musharraf von 2003 erklärt – war indes nicht von Erfolg gekrönt, vor allem weil die afghanischen und später die pakistanischen Taliban die sunnitischen Gruppen unterstützten.
Die Gemeinsamkeiten zwischen all diesen gewaltbereiten sunnitischen Gruppen und den Taliban sind offenkundig. Beide hängen einer ausgeprägt kämpferischen antischiitischen Ideologie an. So verübten etwa die Taliban 1998 bei ihrer Eroberung der afghanischen Stadt Masar-i-Scharif einen Massenmord an schiitischen Hazaris. Die Auftragsmörder der LJ, die sich auf gezielte Tötungen spezialisiert hatten, schlüpften, geschützt durch das Taliban-Regime, in Afghanistan unter, bis sie nach dessen Sturz 2001 nach Pakistan zurückkehren mussten. Viele von ihnen haben sich danach in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (Federally Administered Tribal Areas, Fata) an der Grenze zu Afghanistan niedergelassen. Später, ab 2007, schlossen sie sich der Bewegung der Taliban in Pakistan (Tehrik-i-Taliban Pakistan, TTP) an, die unter der Führung der Brüder Baitullah und Hakimullah Mehsud durch Aktionen gegen Schiiten in den Fata aufgefallen war. Hakimullah Mehsud wurde am 1. November 2013 durch eine US-Drohne getötet.
Die konfessionell begründete Gewalt in Pakistan ist kein Randphänomen, weder in geografischer noch in politischer Hinsicht. Ihr Ursprung liegt im pakistanischen Punjab an der Grenze zu Indien, und das gilt für die sunnitische wie für die schiitische Seite. In dieser wichtigsten Provinz des Landes schwelen schwere soziale Konflikte. Der Distrikt Jhang im Norden ist dafür ein Paradebeispiel: Nach der Teilung Britisch-Indiens 1947 verpachteten die schiitischen Grundeigentümer ihr Land an sunnitische Flüchtlinge aus Indien, die fast alles verloren hatten. Nach und nach erlangten diese eine bessere Bildung, begannen eine städtische Infrastruktur zu errichten und forderten ihren Platz an der Sonne.
Bei den Wahlen 1990 zog Azam Tariq, damals Chef der SSP, als Vertreter Jhangs in die Nationalversammlung ein – ein beispielloser Erfolg für die bis dahin marginale SSP. Und er wurde 1993 wiedergewählt. Vier Jahre später verlor er seinen Parlamentssitz wieder, doch der Jhang-Distrikt blieb eine Hochburg der SSP, in der starke sunnitische Ressentiments gegen die schiitische Dominanz bestehen.
Der konfessionelle Konflikt im Punjab beschränkt sich indes nicht auf den Distrikt Jhang und breitet sich wegen der diskreten Unterstützung durch das regionale Establishment immer mehr aus. Tatsächlich übt die SSP, obwohl sie mittlerweile verboten ist, über ein Netzwerk von Aktivisten einen solch starken Einfluss auf die Gesellschaft aus, dass die in der Provinz Punjab wie in ganz Pakistan dominante Partei, die Pakistanische Muslimliga-Nawaz (PML-N) von Premierminister Nawaz Sharif, sie nicht ignorieren kann.
Sharif, der bereits in den 1990er Jahre zweimal Premierminister war, ging zwar damals schon gegen die konfessionelle Spaltung vor. Doch 1999 musste er nach General Musharrafs Putsch das Land verlassen und kehrte erst 2007 zurück. Nach seiner Rückkehr änderte er sein Verhalten und folgte dem Beispiel seines Bruders Shahbaz, damals Gouverneur der Provinz Punjab. 2008 kämpften die konfessionellen Gruppierungen bereits seit einigen Jahren gegen die Repressionen der Musharraf-Regierung und wandten sich nun auf der Suche nach politischem Schutz an die PML-N. Und die spielte mit: Man kannte das soziale und politische Gewicht der Sunniten mit ihrem Netzwerk aus Milizen und Koranschulen.5
Der damalige Chef der SSP, der Mullah Ahmed Ludhianvi, wies zudem nachdrücklich darauf hin, dass Dutzende PML-N-Kandidaten bei den Wahlen 2008 von der „bewaffneten Unterstützung“ durch sunnitische Aktivisten profitiert hätten – eine Umschreibung für die Einschüchterung der Wähler. Die meisten der PML-N-Kandidaten wurden tatsächlich gewählt. Einer von ihnen, Rana Sanaullah Khan, wurde zum Justizminister der Provinz Punjab ernannt und nutzte das Amt, um seine Schuld gegenüber den sunnitischen Kämpfern zu begleichen: Er schützte nicht nur sunnitische Aktivisten, denen nach Attentaten strafrechtliche Verfolgung drohte, er verneigte sich auch vor den Helden der SSP, Haq Nawaz Jhangvi und Azam Tariq, und besuchte im Februar 2010 deren Gräber.
Die klientelistischen Beziehungen zwischen der PML-N und der SSP zeigen sich auch in der Ausrüstung der sunnitischen Aktivisten mit leichten Waffen. Das Provinzparlament des Punjab genehmigte ihnen Tausende Waffenscheine, mit denen sie ganz legal ein richtiges Arsenal anlegen konnten.
Die Sharif-Brüder sind auch deswegen geneigt, sich der SSP anzunähern, weil sie während der Jahre im saudischen Exil die Kontakte zum wahhabitischen Königreich vertieft haben. Bereits ihr Vater hatte in den 1970er Jahren einen Teil seiner Geschäfte nach Saudi-Arabien verlegt. Heute stützt sich Premierminister Nawaz Sharif auf Hilfe aus Riad, um die Finanzkrise in den Griff zu bekommen. Im Gegenzug erhielten die Saudis die Erlaubnis, mehr Ulemas in die pakistanischen Moscheen zu entsenden. Ihnen geht es darum, mithilfe Islamabads den Iran zu isolieren. Sie wollen insbesondere das Projekt der iranisch-pakistanischen Gaspipeline stoppen, das Expräsident Asif Ali Zardari – den Saudis gilt er als Schiit – mit Teheran unterzeichnet hatte.
Pakistans Regierung könnte umso mehr versucht sein, sich auf dieses Spiel einzulassen, weil auch Indien sich dem Iran angenähert hat. Das Land ist den Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte ausgeliefert, wie der Zusammenbruch der Rupie zeigt, und will die Kosten für seine Ölimporte um 8 Milliarden US-Dollar senken, indem es sich beim Partner Iran eindeckt. Darüber hinaus hat sich Delhi im Syrien-Konflikt explizit auf die Seite der Schiiten geschlagen, indem es zu bedenken gab, dass eine Schwächung Assads freie Bahn für die Sunniten bedeute.
Sowohl außen- als auch innenpolitisch scheint die Lage in Pakistan auf eine weitere Stärkung der militanten sunnitischen Gruppen hinauszulaufen. Dabei untergraben deren Aktionen jeden Tag ein bisschen mehr die Grundlagen der pakistanischen Nation. Der Konfessionalismus wirkt inzwischen identitätsbildend für einen Teil der pakistanischen Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Er bildet die Krise dieser Gesellschaft ab. Man fühlt sich mehr als Sunnit oder Schiit denn als Pakistaner, und der Islam wird anhand dieser konfessionellen Kategorien definiert.
Natürlich würde das niemand öffentlich zugeben, denn das wäre politisch nicht korrekt. Wurde das „Land der Reinen“ – die Urdu-Bedeutung von „Pakistan“ – nicht gegründet, um allen Muslimen der Region eine Heimat zu geben? Doch die meisten Sunniten wollen keine Schiiten als Lehrer für ihre Kinder. Sie sind der Ansicht, es dürfe nur eine einzige Form des namaz (islamisches Gebet) geben und pochen dabei auf eine simple Tatsache: Sie sind die Mehrheit im Land.
Die Spaltung der Gesellschaft stellt eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für den Zusammenhalt der pakistanischen Nation dar. Die Gefahr ist umso größer, als die Schiiten in Randgebieten wie Belutschistan (wo es vor allem die schiitische Minderheit der Hazara traf) oder Gilgit-Baltistan den höchsten Blutzoll bezahlt haben, während die eigentliche Basis der militanten Sunniten im Punjab liegt. Premierminister Sharif ist sich bewusst, dass er starke Signale an die schiitische Minderheit senden muss. So hat er im Herbst 2013 die Botschafterposten in Indien und den USA jeweils mit Schiiten besetzt. Die Zukunft wird zeigen, ob das nur eine symbolische Geste war.