Bruderland Mazedonien
Es ist der Vorabend der Wahlen. Das Touristenstädtchen Bansko liegt im äußersten Südwesten Bulgariens, 50 Kilometer von Blagoewgrad entfernt. Eine Handvoll Schaulustiger vor dem Rathaus beobachten, wie beleibte Polizisten die Wahlurnen in die Wahllokale geleiten. „Der politische Kurs unserer Partei hat sich seit ihrer Gründung 1893 nicht geändert: alle Bulgaren schützen, auch die, die außer Landes leben, und dem Anpassungsdruck Widerstand leisten, dem sie unterworfen werden“, erklärt uns lächelnd Iwan Stojanow, der die Szene beobachtet. Er hat einen kahlen Schädel und die Hände eines Schwerarbeiters. Stojanow ist Mitglied der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation (VMRO-BND).
Diese kleine nationalistische Rechtspartei versteht sich als Nachfolgeorganisation der Komitadschis, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die osmanischen Soldaten kämpften, und fordert die „Wiedervereinigung aller bulgarischen Gebiete“. Ihr Vorsitzender, der Historiker Krassimir Karakatschanow, erläuterte das Programm vor ein paar Jahren folgendermaßen: „Wir müssen die Landkarte des Balkans neu zeichnen und dabei von den Ländern ausgehen, die wirkliche Bedeutung haben: Albanien, Bulgarien, Kroatien, Griechenland, Rumänien, Serbien.“ Mazedonien dagegen sei ein „irrealer Staat“, denn ein Viertel seiner Einwohner fühlten sich als Mazedonier, ein Viertel als Bulgaren, während die Hälfte sich ihrer Identität nicht sicher sei. Die Existenz dieses Staates sieht er als „Resultat der Propaganda, die das Tito-Regime begonnen hat und die von den aktuellen Machthabern in Skopje fortgeführt wird“.1
Nach den Balkankriegen von 1912 und 1913 wurde das bis dahin zum Osmanischen Reich gehörige Gebiet, das die westlichen Geografen im 19. Jahrhundert „Makedonien“2 nannten, zwischen Serbien, Griechenland und Bulgarien aufgeteilt. Da Bulgarien im Zweiten Balkankrieg von seinen früheren Verbündeten Serbien und Griechenland besiegt worden war, erhielt es nur einen sehr kleinen Teil des beanspruchten Gebiets: Pirin-Makedonien, die heutige Verwaltungsregion Blagoewgrad.3
Nach zwei verlorenen Weltkriegen, dem Zerfall Jugoslawiens und der Unabhängigkeit der Republik Mazedonien 1991 haben die meisten bulgarischen Politiker keine irredentistischen Ambitionen im Hinblick auf den mazedonischen Nachbarn. Doch die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten sind weiterhin angespannt. Sofia missfällt die Politik der „Antikisierung“, mit der die mazedonische Regierung unter Ministerpräsident Nikola Gruevski eine direkte historische Verbindung zwischen der Republik Mazedonien und dem antiken Makedonien Alexanders des Großen konstruieren möchte. Zudem weigert sich Bulgarien, das erst 1945 auf Initiative der jugoslawischen Kommunisten als Schriftsprache kodifizierte Mazedonisch als eigene Sprache anzuerkennen. Die Bulgaren betrachten Mazedonisch nach wie vor als einen bulgarischen Dialekt.
Solche Identitätsdebatten lassen die Bürger beider Länder weitgehend kalt. In Sofia wartet ein Dutzend Menschen vor der Ausgabestelle für Reisepässe des bulgarischen Außenministeriums. „Ich begleite meinen Neffen. Er will in Deutschland studieren, und das geht eben, wie Sie verstehen werden, besser mit einem bulgarischen Pass“, erklärt Bronko, der aus Bitola in Mazedonien angereist ist. Seit Bulgarien 2007 der EU beigetreten ist und erst recht seit sich 2011 die Arbeitsmärkte mehrerer EU-Mitgliedsländer für bulgarische und rumänische Arbeitskräfte geöffnet haben, beantragen immer mehr Mazedonier einen bulgarischen Pass. Im Jahr 2011 waren es nach Angaben des bulgarischen Justizministeriums mehr als 11 200 (eine Zunahme gegenüber 2009 um mehr als 150 Prozent). Damit war jede zweite in Bulgarien eingebürgerte Person aus Mazedonien.
Den bulgarischen Pass zu bekommen, ist ganz einfach: Man muss nur ein Dokument über „bulgarische Wurzeln“ vorlegen, das von der Nationalen Agentur für Auslandsbulgaren ausgestellt wird. Dass die Einbürgerung so leicht möglich ist, verärgert die Behörden in Mazedonien, die eine verkappte Assimilierungspolitik wittern. 2006 hatte sogar der ehemalige mazedonische Ministerpräsident Ljubco Georgievski (1998–2002) die bulgarische Staatsbürgerschaft beantragt, worüber sich die gesamte politische Klasse empörte.
Um in die Europäische Union aufgenommen werden zu können, muss die Republik Mazedonien die Konflikte mit seinen Nachbarn lösen. Das betrifft vor allem den Streit mit Griechenland über den Staatsnamen. Aber Skopje wird auch seine Meinungsverschiedenheiten mit Sofia über die nationale Identität beilegen müssen.
Laurent Geslin