13.12.2013

Wir Europäer

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Wir Europäer

von Alexis Tsipras

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Kann die Eurozone gerettet werden? Ich finde es interessant, dass diese wichtige Frage, die dieser Tagung zugrunde liegt, in Texas gestellt wird. Es wäre nämlich schwierig, sie heute in Brüssel oder Frankfurt zu stellen. Die Europäische Kommission oder die Europäische Zentralbank könnten sie als dreist oder gar beleidigend auffassen. Denn beide Institutionen behaupten ja, die Krise in der Eurozone sei ausgestanden, das Vertrauen in Europa sei wiederhergestellt und das ökonomische Wachstum habe wieder eingesetzt.

Aber die Frage könnte auch manche Leute ärgern, die durchaus verstanden haben, dass diese Krise nicht vorbei ist. Für viele, die sie gerade am eigenen Leib erfahren, lautet die entscheidende Frage nicht etwa, ob die Eurozone gerettet werden kann, sondern vielmehr, ob man sie überhaupt retten sollte. Meine Antwort lautet: Die Eurozone sollte gerettet werden.

Es mag sein, dass die Eurozone ein Fehler war. Ihre Charta und ihre Verträge sind falsch konstruiert und müssen von Grund auf reformiert werden. Es gibt auch Leute, die sagen, bestimmte Länder hätten niemals beitreten sollen. All diese Fragen könnte man diskutieren, aber ich ziehe es vor, sie den Historikern zu überlassen.

Denn die Eurozone existiert nun mal. Wir haben eine Wirtschaftsunion und eine gemeinsame Währung, und die unmittelbaren Alternativen sind schlechter. Ein Ausscheiden aus der Eurozone würde keinem Krisenstaat nutzen. Im Gegenteil. Es würde nur neue Probleme schaffen: die Umstellung auf eine instabile Währung, Sturm auf die Banken, Inflation, Kapitalflucht und Auswanderung. Schon deshalb sollte Griechenland nicht freiwillig aus der Eurozone ausscheiden.

Aber es gibt noch einen zweiten Grund. Das Ausscheiden Griechenlands oder eines der anderen Krisenländer wäre eine Katastrophe für ganz Europa. Denn sobald ein Land ausscheidet, werden die Märkte und die Spekulanten sofort fragen, wer der Nächste sein wird. Das ist ein Prozess, der – einmal begonnen – nicht mehr zu stoppen ist.

Unser Interesse als Europäer ist ein anderes: Wir wollen die Eurozone verändern. Und hier stellen sich drei Aufgaben. Erstens müssen wir andere Ideen entwickeln. Zweitens müssen wir eine entsprechend veränderte Krisenpolitik betreiben. Und drittens müssen wir zwangsläufig die Institutionen, ja die ganze Grundlage der EU verändern.

Das heutige Europa – der Gemeinsame Markt und die Europäische Union – wurde auf dem Fundament bestimmter Prinzipien errichtet: kein Krieg mehr in Europa; universale Menschenrechte; und ein Gesellschaftsvertrag, der auf mehreren Säulen ruht: soziale Inklusion und Absicherung, ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitswesen und eine allgemeine Sozialfürsorge, schließlich die schrittweise Annäherung des Lebensstandards der ärmeren Regionen an das Niveau der erfolgreichsten Länder.

Das alles ist keineswegs die neue europäische Idee. Es ist die alte europäische Idee. Aber die wurde vor Jahren von einer Ideologie der Märkte und der bedingungslosen Konkurrenz verdrängt. Von der neuen europäischen Idee, namens Neoliberalismus. Wir halten diese Idee für selbstmörderisch. Demgegenüber setzen wir auf die traditionellen Werte der europäischen Gründergeneration. Gerade in der jetzigen Krise bestehen wir für Europa auf der Rückkehr zu diesen traditionellen Werten.

Vorschläge für einen gesamteuropäischen New Deal

Die Eurozone ist eine Generation nach der politischen Union entstanden. Ihr Fundament waren die neuen neoliberalen Prinzipien: Privatisierungen, Deregulierungen, eine strenge Zentralbank, deren alleiniges Ziel eine stabile Währung ist, eine Währungsunion ohne Fiskalunion und ohne Gesellschaftsvertrag auf gesamteuropäischer Ebene.

Unsere zweite Aufgabe ist daher die Änderung der europäischen Politik. Welche Politik haben die EU und die Eurozone in der Krise betrieben? Es war schlicht gesagt eine neoliberale Politik. Die USA reagierten auf die Krise mit keynesianischen Rezepten und einer Politik des „quantitative easing“, Europa hingegen mit Riesenkrediten an Staaten, verbunden mit der Auflage eines brutalen Sparprogramms. Dabei wurden die Kredite an die Banken weitergereicht, die damit ihre Schulden bei den Banken des Nordens beglichen und einen Teil zur eigenen Rekapitalisierung nutzten.

Doch die Verschuldung der Staaten wurde dadurch nur vertieft, ohne eine Wiederbelebung der Wirtschaft und die Sanierung des Bankensektors zu bewirken. Diese Politik hat europäische Bürger in Griechenland und anderswo in tiefste Armut gestürzt und die sozialen Sicherungssysteme zerstört.

Was also können wir tun, um Europa zu retten, damit die Bürger wieder von einem gemeinsamen prosperierenden Europa träumen können? Wir müssen unverzüglich vier Probleme anpacken: das Problem des Bankensektors; das Problem der Staatsfinanzen und der öffentlichen Verschuldung; das Problem des extremen Rückgangs der Investitionen, vor allem in der EU-Peripherie; und schließlich die „menschliche Krise“, die derzeit nicht nur bankrotte Staaten wie Griechenland durchmachen.

Um diese Probleme anzupacken, gibt es durchaus effektive Methoden, und zwar ohne ein EU-Finanzministerium zu schaffen oder die nationale Souveränität zu beeinträchtigen. Und auch ohne den Transfer öffentlicher Gelder, ohne deutsche oder niederländische Garantien für griechische, irische oder portugiesische Schulden; und ohne dass dazu größere Veränderungen oder neue Institutionen nötig würden. Im Folgenden will ich vier Elemente eines solchen Programms darlegen.

Punkt eins: das Schuldenproblem. Wir glauben, dass die EZB einen Teil der Schulden von Mitgliedstaaten zentral verwalten kann, ohne öffentliche Gelder zu transferieren und ohne gegen ihr Statut zu verstoßen. Aber machen wir uns nichts vor: Eine langfristige Lösung für das Schuldenproblem der europäischen Länder ist nur möglich, wenn ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Schulden abgeschrieben wird. Deshalb sind wir für die Idee einer internationalen Schuldenkonferenz nach dem Vorbild der Londoner Konferenz von 1953. Damals akzeptierten 22 Staaten, darunter Griechenland, die Streichung von 62,5 Prozent der deutschen Staatsschulden. Das war eine Voraussetzung für ein Europa des Wohlstands.

Das entscheidende Element ist also die Annullierung eines bedeutenden Teils der Schulden nicht nur Griechenlands, sondern aller Länder der europäischen Peripherie. Denn wir glauben, dass das Problem nicht ein griechisches, sondern ein europäisches ist.

Punkt zwei: die Banken. Die EZB sollte im Zusammenwirken mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESF) alle Banken einer einzigen Behörde unterstellen und einen gemeinsamen Versicherungsfonds für alle Bankeinlagen in der Eurozone schaffen.

Punkt drei: Was den extremen Rückgang von Investitionen betrifft, kann die Europäische Investitionsbank (EIB) in Luxemburg die europäischen und globalen Überschüsse in neue Investitionen von großen Dimensionen lenken. Mithilfe der EZB könnte sie ein gesamteuropäisches Konjunkturprogramm organisieren. Das wäre dann ein europäischer „New Deal“.

Punkt vier: Solidarität. Die ärmsten europäischen Bürger brauchen direkte Hilfe, damit sie wieder an eine europäische Zukunft glauben. Gerade die Nahrungsmittelhilfe ist wichtig, weil sie zum Beispiel in Griechenland ein wichtiges Instrument der Faschisten ist, denen wir entgegentreten müssen.1 Deshalb sollten wir beim nächsten EU-Gipfel beschließen, aus den Gewinnen, die sich bei den nationalen Zentralbanken ansammeln, zwei Programme zu finanzieren: zum einen Lebensmittelcoupons für Bedürftige nach dem Vorbild der USA. Zum anderen einen Sockelbetrag für Arbeitslose, um wenigstens die extremste Armut zu mildern.

Die Autoren dieser Konzepte befinden sich in diesem Saal: Yanis Varoufakis und James Galbraith2 , die diese Vorschläge im Sommer in Athen unterbreitet haben. Deshalb will ich dazu nicht viel mehr sagen. Nur dies noch: Es gibt Mittel und Wege, die Eurozone nachhaltig zu stabilisieren; und eine Syriza-Regierung wird innerhalb der EU auf solche Lösungen dringen.

Griechenland durchläuft bekanntlich eine schwere humanitäre Krise. Und die erste Priorität einer Syriza-Regierung wird sein, dieser Krise zu begegnen. Zugleich aber müssen wir einen politischen Kampf an zwei Fronten führen. Zum einen zu Hause, zum anderen in Brüssel, Frankfurt und Berlin. Hier müssen wir unsere Partner davon überzeugen, dass der heute verfolgte Kurs uns alle, das heißt alle Europäer, in eine schreckliche Sackgasse führt.

Aber zuallererst müssen wir sie überzeugen, dass sie überhaupt mit uns reden. Und das werden sie tun, wenn ein politischer Wandel in Griechenland stattfindet und wenn eine breite Front von Gegnern der Austeritätspolitik in den bevorstehenden europäischen Wahlen gut abschneidet.

Die heutige griechische Regierung versucht der EU dadurch zu imponieren, dass sie den „Musterhäftling“ spielt. Aber auch das hat ihr nichts gebracht. Nehmen wir als Beispiel die Zusage, die griechische Schuldenlast zu mindern. Diese Debatte war ein Jahr lang eingefroren, um die deutschen Wahlen abzuwarten. Jetzt sagt man uns, wir müssten uns noch bis zu den Europawahlen im Mai 2014 gedulden.

Wie dieses Spiel läuft, ist klar. Und das wird erst mit einer Syriza-Regierung aufhören. Wir haben das Recht und die Pflicht zu fordern, dass dieser Schleier des Schweigens gelüftet wird. Europa sollte aufhören, so zu tun, als ob. Und ich möchte Sie alle fragen, ob irgendjemand hier glaubt, dass Griechenland 83 Milliarden Euro an Zinsen bis 2020 zurückzahlen kann, und zwar ohne neue Kredite. Die Antwort ist natürlich nein. Und deshalb brauchen wir einen neuen Plan für Griechenland.

Wie sollte dieser Plan aussehen? Er müsste größere Veränderungen für die griechischen Banken bringen, die Fristen für die Abzahlung der griechischen Schulden verlängern, die humanitäre Krise bekämpfen und natürlich Schritte zur Förderung von Investitionen beinhalten, die produktivitätssteigernd wirken und Arbeitsplätze schaffen.

Was die griechischen Staatsschulden und deren Bedienung betrifft, so fordern wir unsere Partner auf, eine ganz einfache und logische Idee zu prüfen: Der künftige Abzahlungsrhythmus sollte ausdrücklich an die Wachstumsrate der griechischen Volkswirtschaft gekoppelt sein. Damit würde die EU unmittelbar von der Stabilisierung und positiven Entwicklung der griechischen Wirtschaft profitieren.

Was das notwendige Mindestniveau an Investitionen betrifft, schlagen wir eine Lösung vor, die jeder vernünftige Mensch akzeptieren wird: In den Kohäsionsfonds der EU liegen heute mehr als 10 Milliarden Euro, die im Zeitraum 2007 bis 2013 für Griechenland vorgesehen waren, die das Land aber nicht absorbieren konnte – teils aufgrund der ökonomischen Depression, teils wegen der unfähigen Bürokratie oder der Insolvenz des griechischen Bankensystems. Diese Gelder könnte man auf die Europäische Investitionsbank und den Europäischen Investitionsfonds überschreiben, mit der Auflage, dass sie – nach strikt bankmäßigen Kriterien – in griechische Projekte investiert werden.

Und schließlich müsste ein neuer EU-Plan für Griechenland die humanitäre Krise in unseren Städten und Dörfern bekämpfen. Warum kann man nicht die Gewinne der EZB aus dem Rückkaufprogramm von Staatspapieren (etwa 14 Milliarden Euro), aber auch aus dem Liquiditätsfonds der griechischen Zentralbank, in die Gründung einer Solidaritätskasse investieren? Daraus könnte man zum Beispiel die Nahrungsmittelhilfe oder Beihilfen zu den Strom- und Heizungskosten für die Ärmsten finanzieren. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein.

Wir müssen versuchen, unsere Partner in Brüssel, Berlin und Frankfurt von einem europäischen New Deal zu überzeugen – das heißt von einer neuen tragfähigen Politik, die zum Ziel hat, die gegenwärtige Krise zu überwinden.

Fußnoten: 1 Tsipras hat hier die Neonazipartei Chrysi Avgi im Blick, die Nahrungsmittel nur an solche Arme verteilt, die sich als Griechen ausweisen können. 2 Von beiden Ökonomen erschienen Texte in Le Monde diplomatique: James K. Galbraith, „Das Kapital soll zahlen – Wie das Projekt Europa gerettet werden könnte“ (Juni 2010); Yanis Varoufakis, „Der globale Minotaurus – die USA und die Ursprünge der Finanzkrise“ (Februar 2012). Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus der Rede, die der Syriza-Parteivorsitzende Alexis Tsipras auf Einladung der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs am 4. November in Austin, Texas, gehalten hat. Die komplette Rede auf Video: www.enet.gr/?i=news.el.article&id=396367. © Für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von Alexis Tsipras