13.12.2013

Eine Mittelmeerunion für die Bildung

zurück

Eine Mittelmeerunion für die Bildung

Audio: Artikel vorlesen lassen

Überall auf unserem Kontinent wächst das Bedürfnis, sich gegen die Welt abzuschotten, um den eigenen Wohlstand zu verteidigen. Artikuliert wird dieses Gefühl vom Front National in Frankreich, von Fidesz in Ungarn oder von der Lega Nord in Italien: Dabei spielt die Wirtschaftskrise den rechten Populisten aller Länder kräftig in die Karten. Italiens Ministerpräsident Enrico Letta, und nicht nur er, befürchtet, dass nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 erstmals mehr Europa-Gegner als -Befürworter das „europäische Volk“ repräsentieren werden.

Statt diesem Schreckensszenario mit neuen Ideen, wegweisenden Europa-Programmen und solidarischer Kooperation zu begegnen, ducken sich die bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen weg: Sie wollen sich auf keinen Fall dem Vorwurf einer zu laxen Einwanderungspolitik aussetzen. Das zeigt unter anderem die beschämende Reaktion des deutschen Innenministers auf die Tragödie von Lampedusa. Und die deutschen Sozialdemokraten, die in diesen für Europa schwierigen Tagen eine wichtige Rolle spielen könnten, haben inzwischen einen Koalitionsvertrag unterschrieben, der die alte Asylpolitik in den wichtigsten Punkten – samt ihrem Herzstück, der Dublin-II-Verordnung – voll bestätigt.

Diese Haltung der demokratischen Mitte ist feige und kurzsichtig. Europa hat nur eine Chance, Prosperität und Zukunft zu sichern, wenn es sich weltoffen gestaltet, den Austausch sucht und endlich eine koordinierte und solidarische Einwanderungspolitik entwirft.

Die italienische Insel Lampedusa ist zum traurigen Symbol einer EU-offiziellen Politik der Grenzschließung geworden. Doch der Tod Hunderter von Bootsflüchtlingen sollte uns zwingen, Sinn und Funktion von Demarkationslinien in einer sich rasant wandelnden Welt grundsätzlich zu überdenken. Es gilt heute, an die engen Bezüge zu erinnern, die Europa mit dem Mittelmeer verbinden, das schon längst nicht mehr als offener Raum der Aufnahme und der Begegnung gesehen wird.

Während das internationale Kapital mit größter Freiheit zirkuliert, gilt die gleiche Freiheit nicht für Personen. Diese Exklusion ist unhaltbar für die europäischen Gesellschaften, die sich ihrem eigenen Anspruch, für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einzustehen, verpflichtet sehen sollten. Daher sollte die Demokratie in Europa und an allen Küsten des Mittelmeers gestärkt werden. Das bedarf zuallererst einer breit geführten gesellschaftlichen Debatte über Institutionen und Migrationspolitiken.

Anstatt nur auf die militärische Verteidigung des europäischen Territoriums zu setzen und die Praktiken der Kontrolle und der Abweisung noch zu verstärken, ist es dringend geboten, eine Politik der Öffnung und des Austauschs in konkrete Maßnahmen zu übersetzen.

Zuallererst muss Europa sicherlich weit mehr Geld als bisher bereitstellen, um eine humane Aufnahme der Menschen zu gewährleisten, die vor materieller Not und politischer Verfolgung im Süden des Südens fliehen. Doch auf längere Sicht ist das angstbesetzte Grenzregime im Mittelmeer nur dadurch zu überwinden, dass Mobilität und Begegnungen mit den nordafrikanischen Gesellschaften innerhalb der Europäischen Union institutionell verankert und durch praktische Initiativen gefördert werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Europa positive Erfahrungen nicht nur gemacht, sondern organisiert – zum Beispiel mit dem kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Frankreich, zwei Länder, die zuvor durch eine militärische und intellektuelle Maginot-Linie getrennt waren. Mit Hinweis auf dieses erfolgreiche Modell hat das internationale Forschernetzwerk „Transmed! Denken der Méditerranée und europäisches Bewusstsein“ in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin, den französischen Ministerpräsidenten sowie an Entscheidungsträger der europäischen Institutionen eine neue jugend- und bildungspolitische Initiative gefordert.1 Dabei wird konkret angeregt, das Erasmus-Programm zur Förderung der Mobilität von Studierenden auf alle Anrainerstaaten des Mittelmeers entscheidend auszudehnen und ein transmediterranes Jugendwerk zu gründen.2

Diese Programme würden ein zum Mittelmeer hin geöffnetes Europa gestalten, das auf eine kontinuierliche Stärkung der Zivilgesellschaften setzt, statt teure Frontex-Drohnenflüge entlang der EU-Außengrenze im Mittelmeer zu finanzieren.

Franck Hofmann / Markus Messling

Fußnoten: 1 Transmed organisiert die Kooperationen von Forschern aus Ägypten, Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal, Tunesien und der Türkei. 2 Dazu könnte man Gelder aus der Erbmasse der Mittelmeerunion nutzen, die mit den autokratischen arabischen Regierungen ausgehandelt wurde. Franck Hofmann und Markus Messling sind Sprecher des Forschernetzwerks „Transmed! Pensée méditerranéenne et conscience européene“, das vom Deutsch-französischen Jugendwerk unterstützt wird. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von Franck Hofmann und Markus Messling