Logistik im Land der Sabinerinnen
Die mythischen Ursprünge Roms liegen in Sabina, einer Landschaft im Norden des Latiums. Hier fand der Raub der Sabinerinnen durch die römischen Nachbarn statt, der so viele Akademiekünstler zu ihren Historiengemälden inspirierte. Der 35 Kilometer von Rom entfernte Landstrich ist trotz dichter Besiedlung wunderschön, die letzten Hügel der Toskana neigen sich zum Ufer des Tibers und bergen in ihren Senken eine Karolingerabtei.
Das Logistikzentrum „Polo logistico di Passo Corese“, das hier entsteht, nimmt keine Rücksicht auf den Zauber der Landschaft: Auf einer 200 Hektar großen Fläche werden Hügel abgetragen, 6 Millionen Kubikmeter Erdreich bewegt, riesige Lagerhallen hochgezogen, 10 Hektar Straßen ohne Bürgersteige asphaltiert und Wasserpumpen installiert – ohne Rücksicht auf den Grundwasserspiegel der Region, die 80 Prozent des Wassers für die Hauptstadt liefert. Dabei zeugen Berichte unabhängiger Experten von den archäologischen Reichtümern der Gegend, angefangen von der Frühgeschichte bis zu einem weltweit vielleicht einmaligen Ensemble römischer Villen, die durch ein kilometerlanges, raffiniertes Tunnelsystem verbunden sind, das die Häuser mit Wasser versorgt hat.1
Wo heute Planierraupen fahren, werden wohl bald die gigantischen Anlagen eines Umschlagplatzes für den Straßenverkehr stehen. Schwertransporter aus verschiedenen Produktionszentren sollen dort haltmachen, damit ihre Ladung auf leichtere Lastwagen für kleinere Straßen verteilt werden kann.
Der Polo di Passo Corese ist Teil eines umfassenden Transportplans. Genehmigt hat diesen ökologischen Unsinn Walter Veltroni, als er noch Bürgermeister von Rom war. Eines Tages soll von den Waren für die Hauptstadt gar nichts mehr per Bahn transportiert werden. Anstelle der großen Güterbahnhöfe könnten dann lukrative Immobilienprojekte entstehen. Deshalb soll der Polo noch um ein weiteres, 200 Hektar großes „intermodales Zentrum“ für den Übergang von der Schiene auf die Straße ergänzt werden. „Dieses Projekt wurde uns von oben aufgezwungen, es verschandelt die Landschaft und gehört nicht hierher. Ihr habt nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, euch dagegen aufzulehnen“, hatte Piero Marrazzo, der damalige Mitte-links-Kandidat für die Regionalpräsidentschaft, am 6. März 2005 vor Betroffenen erklärt.
Die Schaufelbagger haben trotzdem die Arbeit aufgenommen. Der Parco Industriale della Sabina S.p.A., dem das Projekt mit einem verlängerbaren 99-Jahres-Nutzungsrecht übertragen wurde, liegt zu 97 Prozent in privaten Händen. Die übrigen 3 Prozent gehören der Provinz, dem Konsortium für die Entwicklung der Sabina2 und der Kommune. Dadurch hat das Unternehmen einen „halböffentlichen“ Status und unterliegt nicht den für Privatunternehmen geltenden Kontrollen.
Der wirtschaftliche Nutzen der Sache ist äußerst zweifelhaft: Die Vernichtung von landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen wird wohl kaum durch neugeschaffene „bodenferne“ Arbeitsplätze ausgeglichen werden, und niemand weiß heute, ob die riesigen Speicher- und Lagerkapazitäten je wirklich ausgenutzt werden. Wozu also das Ganze? „Um ein paar Leute reich zu machen“, sagen die Leute von der Bürgerinitiative gegen das Projekt. Im Prinzip gäbe es einige, die aus beruflichen oder politischen Gründen an vorderster Front gegen das Projekt kämpfen müssten. Aber sie machen bei den Aktionen nicht mit. Kein Wunder: Ein bedeutender Historiker und Archäologe der Region hat einen Posten im Verwaltungsrat des Konsortiums erhalten. Der regionale Grünen-Chef schweigt, seit er Direktor eines Naturparks ist.
Als Regionalpräsident tat Piero Marrazzo, der sich vor gut fünf Jahren mit der oben zitierten Äußerung ins Zeug gelegt hatte, zur allgemeinen Verwunderung nichts, um das Projekt zu stoppen. Nachdem am 23. Oktober 2009 herauskam, dass er ein Verhältnis mit einer transsexuellen Prostituierten hatte und dass korrupte Polizisten versucht hatten, ihn zu erpressen, erklärte er seinen Rücktritt. Marrazzo bat den Papst in einem Brief um Vergebung, seine Geliebte kam bei einem mysteriösen Unfall ums Leben, und in der Region fragen sich einige, ob ihr Landesvater während seiner Amtszeit vielleicht doch heimlichem Druck nachgegeben hat. Schließlich heißt es in Polizeikreisen schon seit einiger Zeit, dass der mächtigste Clan der Camorra, der Casalesi-Clan, hier investiert.
Am Ende einer Informationsveranstaltung der Gegner nahm ein Bürgermeister, der zu den Befürwortern des Polo gehört, einen der Protestierenden beiseite und drohte ihm: „Wenn ihr so weitermacht, kriegt ihr was auf die Fresse!“ Als ihn später ein dem Projekt kritisch gegenüberstehender Bürgermeisterkollege anrief und eine Erklärung verlangte, behauptete der Herr, er habe einen Scherz gemacht – womit er immerhin zugab, dass er es so gesagt hatte.
Beim großen Logistikhub von Sabina hat die politische Couleur nie eine Rolle gespielt. Typisch Italien, möchte man fast sagen: Ein Gemisch aus Einschüchterung und Bestechung – minimale Beteiligungen an der Macht oder dem Profit – sorgt dafür, dass ökonomisch, ökologisch oder kulturhistorisch absurde Projekte durchgeführt werden. Während die Politiker große Reden über Rechtmäßigkeit und Demokratie schwingen, beißen sich die Bürger im Alltag an unergründlichen Mächten, auf die sie keinen Einfluss haben, die Zähne aus. Serge Quadruppani
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Serge Quadruppani ist Schriftsteller, zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Das Weihnachtsessen“, übersetzt von Katarina Grän, Heilbronn (Distel) 2005.