Wenn Italien ein Rechtsstaat wäre
Mani Pulite, Tangentopoli und der Fall Anemone von Francesca Lancini
Unter der Führung des damaligen Mailänder Oberstaatsanwalts Francesco Saverio Borelli begann im Jahr 1992 eine Gruppe von Richtern und Staatsanwälten gegen die Korruption in der Stadt vorzugehen. Die umfangreichen Ermittlungen wurden in Presse und Öffentlichkeit bald nur noch als „Mani Pulite“ (Saubere Hände) bezeichnet. Sie förderten ein gigantisches Bestechungssystem zutage, in das hunderte von Politikern und Unternehmern verwickelt waren und das auf den Namen „Tangentopoli“ (wörtlich: Stadt der Schmiergeldzahlungen) getauft wurde.
Minister, Abgeordnete, Senatoren, aber auch der ehemalige sozialistische Ministerpräsident Bettino Craxi wurden zu Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Im Zuge des Skandals brach die Parteienlandschaft Italiens zusammen, die langjährigen Regierungsparteien Democrazia Cristiana (DC) und die sozialistische Partei (PSI, Partito Socialista Italiano) verschwanden von der politischen Bühne. Im ganzen Land wuchs die Hoffnung auf das Entstehen einer neuen politische Klasse.
Knapp 20 Jahre später erzählen ehemalige Richter und Staatsanwälte von dieser Zeit. In ihren Schilderungen wird die Bedeutung von „Mani Pulite“ deutlich, die viele damals als Beginn einer neuen, „zweiten Republik“ ansahen.1 Neben der Neapolitanerin Ilda Boccasinni, die 1995 zu den Ermittlern stieß, ist von den damaligen Richtern und Staatsanwälten heute nur noch Staatsanwalt Francesco Greco im Amt. Er zeigt gern das alte Foto des Mani-Pulite-Teams, das er in dem Computer an seinem Arbeitsplatz gespeichert hat: „Unsere Untersuchungen haben das Ende eines Systems eingeläutet. Die ‚erste Republik‘ mit ihrer Art der öffentlichen Ausschreibung, ihrer Auftragsvergabe, ihren staatlichen Unternehmensbeteiligungen war erledigt.“ Dieser Umbruch machte schon zu Beginn der 1990er-Jahre eine weitere Entwicklung deutlich: die Herausbildung einer Finanzwirtschaft, die die Realwirtschaft zunehmend verdrängte.
Während in Mailand die Staatsanwälte ihre Nachforschungen fortsetzten, brachten auch in Frankreich Ermittlungen der Untersuchungsrichter Eric Halphen, Eva Joly, Thierry Jean-Pierre und Renau Van Ruymbeke Fälle von Bestechlichkeit und illegaler Parteienfinanzierung ans Tageslicht.2 Die Richter verhörten etliche Politiker aus allen Parteien. Im Genfer Aufruf von 1996 forderten schließlich sieben engagierte Richter und Staatsanwälte aus unterschiedlichen Ländern eine verbesserte Zusammenarbeit der europäischen Justizorgane, insbesondere bei der Korruptionsbekämpfung.
Neben dem prominenten Pariser Untersuchungsrichter Renaud Van Ruymbeke hat auch der ehemalige Mani-Pulite-Richter Gherardo Colombo den Genfer Aufruf unterzeichnet. 2007 schied er nach 33 Jahren aus dem Justizdienst aus. Heute stellt er verbittert fest: „Unsere Ermittlungen waren ein großer Fortschritt für die Bürgerinnen und Bürger, aber strafrechtlich ist nicht viel dabei herausgekommen. Die meisten Verfahren wurden wegen Verjährung eingestellt, für manche Anklagen ist inzwischen auch der zugrunde liegende Straftatbestand abgeschafft.“
Antonio Di Pietro, einer der bekanntesten Mani-Pulite-Ermittler, stieg 1996 in einer Mitte-rechts-Partei in die Politik ein und ist heute Vorsitzender der Oppositionspartei Italia dei Valori (IDV, Italien der Werte). Er glaubt, dass manche Gesetze eigens verfasst wurden, um die Strafbarkeit bestimmter Praktiken der Parteienfinanzierung oder Bilanzfälschungen aufzuheben. Seiner Ansicht nach trägt die politische Klasse die Verantwortung für das Scheitern von „Mani Pulite“: „Mani Pulite hat tausende von Bestechungsfällen aufgedeckt. Als dieses Krebsgeschwür in der Gesellschaft ans Tageslicht kam, hat die Politik beschlossen, sich auf die Richter zu stürzen.“ Die Politiker gingen zum Gegenangriff gegen Richter und Staatsanwälte vor. Eine der Galionsfiguren dieser Kampagne war kein anderer als Silvio Berlusconi.
1994 hatte die Mailänder Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den Unternehmer Silvio Berlusconi, einen Freund von Bettino Craxi, eingeleitet. Die Anklagen gegen den Vorsitzenden der neu gegründeten Mitte-rechts-Partei Forza Italia „lösten eine Reihe von Angriffen gegen die Justiz aus und nährten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ermittlungen“, erklärt der ehemalige Staatsanwalt Gerardo D’Ambrosio, inzwischen Senator der Linkskoalition von L’Ulivo (Olivenbaum) und der Demokratischen Partei. Regelmäßig droschen Berlusconi und seine Anhänger auf Staatsanwälte und Richter ein und beschimpften sie als „rote Roben“ und Kommunisten.
Wie Herodes und Pilatus
Ihre wirksamste Waffe wurde jedoch die Gesetzgebung. Sie schafften es, etliche Einzelfallgesetze durchzusetzen, die eigens für Unternehmen und Interessengruppen im Umfeld von Berlusconi verfasst wurden. Die italienische Öffentlichkeit nennt sie „Schandgesetze“.3
Die Mitte-links-Regierungen4 , die auf die verschiedenen Regierungen Berlusconi5 folgten, hielten es nicht für erforderlich, diese Gesetze wieder abzuschaffen. „In diesem Land werden Richter als Störenfriede wahrgenommen. Die Leute, die an der Macht sind, lehnen einfach jegliche Kontrolle ab, und zwar alle, die Rechten und die Linken genauso wie die von der Mitte“, ereifert sich der damalige Mani-Pulite-Anwalt Piercamillo Davigo, der heute Richter am obersten Gericht ist. „Aus der Sicht der Politiker gehen wir zu weit. Für sie sind wir so etwas wie Blutkrebs: weiße Blutkörperchen, die nicht nur Bakterien, sondern auch die roten Blutkörperchen angreifen.“
Antonio Di Pietro zieht einen anderen Vergleich heran: „Berlusconi tritt wie einst Herodes das Recht mit Füßen, nur um seine eigene Haut zu retten. Und die Mitte-links-Parteien sind wie Pontius Pilatus, der alles geschehen lässt. In Wahrheit hatten ja auch die Linken alle mit irgendwelchen Schmiergeldzahlungen zu tun und sich außerdem in interne Interessenkonflikte verrannt.“
Schadenersatz für den Widersacher
Berlusconi konnte also ungestört weitermachen. 2009 warf er den Richtern und Staatsanwälten in einer Verleumdungskampagne vor, sie wollten seine Regierung stürzen. Die Richter seien schuld daran, dass das Verfassungsgericht das Gesetz „Lodo Alfano“, das den vier höchsten politischen Amtsträgern Italiens Immunität gewähren sollte, kassiert hat.
Inzwischen droht dem Ministerpräsidenten eine Anklage wegen Bestechung, Bilanzfälschung, Meineid und Steuerhinterziehung. Beim Kauf und Verkauf von Rechten, die seinem Medienunternehmen Mediasat gehören, soll es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Berlusconis Familienholding Fininvest wurde im Oktober 2009 verurteilt, 750 Millionen Euro Schadenersatz an seinen einflussreichen Widersacher Carlo De Benedetti zu bezahlen: Die beiden Unternehmer hatten sich über 20 Jahre einen ebenso grotesken wie erbitterten Übernahmekampf um den Mondadori-Verlag geliefert, der heute zu Berlusconis Medienimperium gehört. In einem weiteren Verfahren warf die Staatsanwaltschaft Rom dem Regierungschef vor, einen Mitarbeiter der staatlichen Fernseh- und Rundfunkkontrollbehörde Agcom unter Druck gesetzt zu haben, damit er die Ausstrahlung von „Annozero“ unterbindet. Diese regierungskritische Politshow des staatlichen Fernsehsenders RAI gehört mit ihren 20 bis 30 Prozent Zuschaueranteilen zu den am meisten gesehenen Sendungen Italiens. Inzwischen hat ihr Starmoderator Michele Santoro das Handtuch geworfen – gegen Zahlung von 10 Millionen Euro – und das Verfahren liegt jetzt beim „Tribunale dei Ministri“, das für Prozesse gegen Regierungsmitglieder und den Ministerpräsidenten zuständig ist.
Obwohl Berlusconi der Justiz immer wieder Steine in den Weg legt, lassen die Strafverfolger nicht locker. Die Staatsanwaltschaften Palermo, Caltanisetta, Florenz und Mailand haben die Ermittlungen zu den Drahtziehern der tödlichen Attentate auf die Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 in Palermo sowie 1993 zu den Autobombenattentaten gegen die Uffizien in Florenz und das Museum für moderne Kunst in Mailand wieder aufgenommen, bei denen sechs Menschen ums Leben kamen. Wieder einmal tauchen die Namen von Silvio Berlusconi und seinem Freund und engen Mitarbeiter Marcello Dell Futri auf. Der Ministerpräsident hingegen, der sich durch die guten Ergebnisse seiner Partei bei den Regionalwahlen Ende März bestätigt sieht, versucht jetzt seine umstrittene Justizreform durchzubringen.6
Landauf, landab geht es bei zahllosen Gerichtsverhandlungen um Korruption: Die Staatsanwaltschaft Bari ermittelt bei den örtlichen Gesundheitsbehörden. In Mailand wurde der Mitte-rechts-Stadtrat Camillo Milko Pennisi auf frischer Tat ertappt – mit den Geldscheinen in der Hand, die ihm ein Unternehmer überreicht hatte. In Rom wurde Anklage gegen die Telecom-Italia-Tochter Sparkle wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche erhoben; und gegen Denis Verdini, den Koordinator der Berlusconi-Partei Popolo della Libertà (PDL, Volk der Freiheit), wird wegen Bestechlichkeit bei der öffentlichen Ausschreibung von Windkraftanlagen auf Sardinien ermittelt.
Am meisten Aufsehen erregt derzeit jedoch der neuste Korruptionsskandal namens „La Cricca“ (Die Bande). Hier geht es um Schiebereien bei der Vergabe von Großveranstaltungen wie dem G-8-Gipfel, der ursprünglich auf der vor Sardinen gelegenen Insel La Maddalena geplant war und kurzerhand in die Erdbebenstadt L’Aquila verlegt wurde, oder bei den vom Zivilschutz organisierten Schwimmweltmeisterschaften 2009.
Im Zentrum der Ermittlungen der Staatsanwaltschaften Perugia und Florenz steht der Bauunternehmer Diego Anemone. Ihn haben offenbar jahrelang Ministerien und Regierungsvertreter mit lukrativen öffentlichen Aufträgen versorgt. Für den G-8-Gipfel sollen seine Firmen sowohl in L’Aquila als auch in La Maddalena staatliche Aufträge erhalten haben.
Auf einer Liste, die Polizeibeamte auf Anemones Computer fanden, standen 350 Namen bekannter Persönlichkeiten, die mit ihm zweifelhafte Geschäfte gemacht haben sollen. Zu ihnen gehört auch der mächtige Zivilschutzchef Guido Bertolaso, gegen den seit Februar 2010 wegen rechtswidriger Vergabe öffentlicher Bauaufträge ermittelt wird. Wegen der schweren Anschuldigungen forderte der Vorsitzende der Oppositionspartei PD, Pier Luigi Bersani, dessen Rücktritt.
Ein weiterer Beschuldigter ist Berlusconis ehemaliger Wirtschaftsminister Claudio Scajolo, der am 5. Mai 2010 zurücktrat, nachdem Vorwürfe laut wurden, beim Kauf seiner 180-Quadratmeter-Wohnung mit Blick aufs Colosseum sei Korruption im Spiel gewesen. Derweil hängt das mit viel Trara angekündigte Antikorruptionsgesetz im Parlament fest, und die Regierung versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Affäre Appaltopoli (appalto ist das italienische Wort für öffentlicher Auftrag) die hohe Politik erreicht.
Antonio Di Pietro fühlt sich schon an Tangentopoli erinnert. Staatsanwalt Francesco Greco hingegen verweist darauf, dass die Zerschlagung der Justiz in regionale Zuständigkeiten den Strippenziehern längst in die Hände gespielt hat. Viele der Gesetze, die in den letzten 15 Jahren verabschiedet worden sind, haben die Arbeit der Ermittler erschwert. „Vor zehn Jahren war Bilanzfälschung das häufigste Delikt. Heute decken die Finanzfahnder Fälle von betrügerischer Spekulation zulasten der Allgemeinheit auf. Im Zuge der Globalisierung haben die Banker die Politiker als Spitzenreiter der Korruption abgelöst. Früher haben sich die Parteien mit Schmiergeldern finanziert, heute lassen sie sich vom Staat finanzieren. Sie brauchen von Unternehmen kein Geld mehr zu verlangen. Politische Korruption ist Klüngel, das Prinzip ‚Eine Hand wäscht die andere‘. Wir werden überschwemmt von illegalem Geld. Der Keim der Illegalität ist die Steuerhinterziehung, sie untergräbt die Demokratie.“
Die langsamen Zebras
Eine berühmt gewordene Bemerkung von Piercamillo Davigo erklärt, warum sich die Korruption so verändert hat: „Wir Richter und Staatsanwälte sind für die Kriminellen wie die Raubtiere im Tierreich: Wir tragen dazu bei, dass sich die Art, die wir jagen, weiterentwickelt. Wir haben die langsamen Zebras gerissen, aber die schnelleren laufen uns trotzdem noch davon. Es ist offensichtlich, dass die, die unseren Ermittlungen entkommen, immer stärker und geschickter werden.“
Auf der Korruptionsliste von Transparency International rangiert Italien auf Platz 63, hinter Kuba und der Türkei, laut Davigo ein Beweis dafür, dass in Italien die Korruption trotz „Mani Pulite“ immer noch weit verbreitet ist.8 Eine weitere italienische Besonderheit sieht Davigo in den unklaren Bestimmungen zur Parteienfinanzierung. Politiker können die Anzahl ihrer Parteimitglieder künstlich aufblähen und dadurch ihre Karriere ankurbeln. Seit die – angeblich zu mächtige – Justiz weiter geschwächt wurde, kann sie auch gegen diese verbreitete Praxis kaum noch vorgehen.
Der Erfolg von „Mani Pulite“ in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre beruhte auf der Schwäche des politischen Systems. Die Mitte-links-Parteien waren noch auf der Suche nach ihrem Profil, und die Mitte-rechts-Parteien rieben sich in internen Streitigkeiten auf. „Heute haben die Parteien immer noch Probleme“, stellt Francesco Greco fest, „aber die richtige Krise kommt erst noch. Uns droht eine Situation wie in den Neunzigerjahren.“
Der Gründer der zweitgrößten italienischen Tageszeitung La Repubblica, Eugenio Scalfari, hat am 25. Oktober 2009 in einem Beitrag für seine Zeitung seine Befürchtungen zum Ausdruck gebracht: „Irgendwie liegt wieder einmal das Ende der Republik in der Luft. Ob damit aber auch das Ende der Berlusconi-Ära kommen wird, ist ungewiss. Vielleicht geht mit der ‚zweiten Republik‘ auch der Mann unter, der sie regiert hat. Aber es kann auch passieren, dass er die Republik abschafft und dann ein autoritäres Regime errichtet, das sich über alle Prinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung hinwegsetzt.“
Manche Leute halten die Bilanz von „Mani Pulite“ für niederschmetternd, weil es den meisten Angeklagten gelungen ist, sich der Verurteilung zu entziehen. Immerhin sind zwischen 1992 und 1994 insgesamt 1 300 Anklagen erhoben worden. Und obwohl Politik und Öffentlichkeit immer wieder behaupten, dass bei den meisten Verfahren nichts herausgekommen sei, endeten in Wirklichkeit doch nur fünf oder sechs Prozent der Gerichtsverfahren mit einem Freispruch.10
Trotzdem haben die Angeklagten gewonnen, meint Di Pietro: In Regierung und Parlament, in Ämtern und staatlichen Einrichtungen sitzen heute massenhaft Leute, die damals unter Anklage standen. Staatsanwalt Di Pietro hat seine Konsequenz aus dem Kräftemessen zwischen Justiz und Politik gezogen – und ist in die Politik gegangen.
Aus dem Französischen von Harald Greib
Francesca Lancini ist Journalistin (www.eastonline.it) und Dokumentarfilmerin für Quasar Multimedia in Mailand.