11.06.2010

Die Erdöl-Demokratie

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Die Erdöl-Demokratie

Norwegen baut auf Transparenz und Vertrauen von Remi Nilsen

Im Herbst 2008 schickte Rune Bjerke, Vorstandschef der DNB Nord, der größten norwegischen Bank, eine SMS an Ministerpräsident Jens Stoltenberg: „Das Wichtigste ist jetzt: genügend Barbestände für die nächsten drei Jahre und eine entschlossene Rede!“ Die Finanzkrise hatte das Land erreicht und den Banken akute Liquiditätsprobleme beschert. Am nächsten Tag, was für ein Zufall, beschloss die Regierung einen nie dagewesenen Rettungsfonds von 350 Milliarden Kronen (45 Milliarden Euro).

Daraufhin beantragten Journalisten, in die persönliche Korrespondenz zwischen Bjerke und Stoltenberg Einsicht zu nehmen, was ihnen aufgrund des Gesetzes über den „Freien Zugang zu öffentlichen Verwaltungsdokumenten“ von 1970 auch gewährt wurde, und wenig später wusste ganz Norwegen, was der Banker dem Regierungschef gesimst hatte. Dass die Herren Stoltenberg und Bjerke alte Freunde sind, weiß hier jeder. Beide waren in der Jugendorganisation der Arbeiderpartiet (Arbeiterpartei) aktiv, und als Stoltenberg heiratete, war Bjerke sein Trauzeuge.

Diese Anekdote illustriert beispielhaft „die Demokratie der Nähe“, auf die man in Norwegen so stolz ist. Dieses Land mit seinen 4,8 Millionen Einwohnern, wo jeder jeden kennt und die Parlamentäre aus allen sozialen Schichten kommen, betrachtet sich als eine transparente Gesellschaft, in der echte Chancengleichheit herrscht.

„Es ist ein privilegiertes Land. Aber wir müssen darum kämpfen, dass es auch so bleibt“,1 erklärt Eva Joly, geborene Gro Farseth. Die Europaabgeordnete für das Parteienbündnis Europe Ecologie2 hat die französische und norwegische Staatsbürgerschaft. Im Auftrag des norwegischen Außenministeriums leitete sie von 2002 bis 2005 ein Antikorruptionsprojekt. Dabei hat das Land eine sehr niedrige Korruptionsrate.

Norwegen ist weltweit der drittgrößte Erdölexporteur, nach Saudi-Arabien und Russland und vor dem Iran, die alle drei als weniger „transparente“ Staaten gelten.3 Politik und Wirtschaftseliten pflegen in dem Königreich keine sehr engen Kontakte, und in den Parteien kommen die Mitglieder aus allen Schichten der Gesellschaft. Wer in der Politik Karriere machen will, muss nicht reich sein, weder um den Wahlkampf zu bestreiten noch um bei den Wählern anzukommen, eher im Gegenteil: Die Norweger schätzen keine Großkopferten.4

„Persönlich vermögend zu sein, hat einen großen Nachteil: Man verscherzt es sich mit seinen Wählern, insbesondere bei den Sozialdemokraten“, erklärt Magnus Marsdal von „Manifest Analyse“, einer linken Denkfabrik. „Der Norweger ist eben von maßvoller Natur“, meint der Liedermacher Odd Børretzen: „Seine Beziehung zu Gott gleicht seiner Beziehung zum König. Er findet Gott (und den König) ganz in Ordnung, so lange er sich anständig benimmt und sich nicht allzu sehr aufspielt.“

„Die weltweit fast einmalige Tradition der Veröffentlichung von Steuerunterlagen wurde im 19. Jahrhundert eingeführt und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Gesellschaft so offen ist“, sagt Eva Joly.5

Die Steuerlisten kann jeder einsehen

Jedes Jahr im Oktober werden alle privaten Steuererklärungen offengelegt. Wenn man früher, als es das Internet noch nicht gab, wissen wollte, was der Bürgermeister, der Nachbar oder der Kaufmann um die Ecke verdiente, konnte man ins zuständige Finanzamt gehen und die Steuerlisten einsehen, die dort drei Wochen lang auslagen. Und in den Zeitungen standen die Einnahmen, Erbschaften und Vermögen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, von Amtsträgern, Unternehmensdirektoren, von Sportlern und bekannten Künstlern. Die Presse hat einen großen Anteil daran, dass es zwischen den kleinen Leuten und den Entscheidern so etwas gibt wie gefühlte Ebenbürtigkeit.

Dass heutzutage jedermann die skattelister (Steuerlisten) mit einem Mausklick auf der Website des Finanzministeriums anonym abrufen kann, hat zu einer lebhaften Diskussion über den Schutz der Privatsphäre geführt. Deshalb wurde das Gesetz zunächst eingeschränkt, dann erneut gelockert und seit 2008 sind alle Informationen wieder ohne Einschränkung zugänglich. Steuersünder lassen sich auf diese Weise leicht entlarven. So wurde 2008 bekannt, dass die starke Frau der norwegischen Sozialdemokratie, Gro Harlem Brundtland, Ministerpräsidentin von 1986 bis 1996, Vorsitzende der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung (World Commission on Environment and Development, auch Brundtland-Kommission genannt) und Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation von 1998 bis 2003, keine Steuern zahlte, obwohl sie als einstige Abgeordnete vom Staat eine hohe Rente bezog. Außerdem beging sie das Sakrileg, sich mehrmals in öffentlichen Krankenhäusern in Norwegen operieren zu lassen – obwohl sie schon seit mehreren Jahren in Nizza lebt.

Das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) wurde in Norwegen zwar erst 1970 verabschiedet, es beruht jedoch auf einer langen skandinavischen Tradition, die Schweden begründete, wo 1766 neben anderen Freiheitsrechten wie der Presse- und Meinungsfreiheit auch das Recht auf den Zugang zu öffentlichen Dokumenten eingeführt wurde.

Seit den 1950er-Jahren hat die norwegische Sozialdemokratie stets die Ansicht vertreten, dass es zu den Aufgaben des demokratischen Staats gehört, die Vielfalt der Gesellschaft zu fördern und folglich die Presse- und Kulturlandschaft, die Zivilgesellschaft und politische Parteien finanziell zu unterstützen (siehe Artikel auf Seite 19). 2008, in einem Jahr ohne Wahlkampf, wurden die Parteien zu über 70 Prozent aus öffentlichen Geldern finanziert, umgerechnet bekamen sie etwa 44 Millionen Euro vom Staat.

Die Zuschüsse für die liberal-populistische Fremskrittspartiet (Partei des Fortschritts)6 bestanden zum größten Teil aus Steuereinnahmen, einen wesentlich geringeren Anteil erhielt die konservative Rechte Høyre.7 Die Parteien erhalten Zuschüsse, wenn sie bei den Kommunalwahlen mehr als 4 Prozent der Stimmen oder bei den Parlamentswahlen landesweit mehr als 2,5 Prozent erreichen. 2005 wurde ein Gesetz verabschiedet, das festlegt, dass jede Subvention von mehr als 10 000 Kronen auf der Website Partifinansiering.no (Parteienfinanzierung) veröffentlicht werden muss.

Bei der dritten Bewertung der Staatengruppe gegen Korruption (Greco) unter der Schirmherrschaft des Europarats hat sich Norwegen 2007 als Musterschüler hervorgetan. Das norwegische System, so hebt der Bericht hervor, beruhe vor allem auf Vertrauen. Für die Beträge, die die Parteien und ihre Vertreter für den Wahlkampf erhalten, ist keine Deckelung festgelegt, ebenso wenig gibt es Mechanismen, um die Ausgaben zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle würde gegen die Tradition verstoßen: Das gegebene Wort zählt mehr als alles andere.

Der Wechsel von der Politik in die freie Wirtschaft wird vom norwegischen Staat regelrecht bekämpft. 2005 wurde sogar eigens ein Gesetz erlassen, das aber nicht viel ausgerichtet hat. Den ersten Skandal gab es im Herbst 2009, als ein führendes Mitglied der Arbeiterpartei, Bjarne Håkon Hanssen, der in Stoltenbergs Kabinetten mehrere Ministerposten (Landwirtschaft, Arbeit, Integration, Gesundheit) innegehabt hatte, seinen Rückzug aus der Politik ankündigte, weil er Berater für ein privates Telekommunikationsunternehmen werden wollte. Er bestand zwar darauf, die vom Gesetzgeber vorgegebene maximale Sperrfrist von sechs Monaten bis zum Antritt seines neuen Jobs auch in Anspruch zu nehmen, doch seine Entscheidung löste einen Aufschrei der Empörung aus. „Solche Wechsel sind geradezu inzestuös“, meint Eva Joly. „Was sind diese sechs Monate schon wert? Das ist doch wie ein verlängerter Urlaub. In so kurzer Zeit verliert man sein Netz von Kontakten nicht.“8

„Die ‚Demokratie der Nähe‘ hat den Vorteil, dass der Zugang zu öffentlichen Entscheidungen und zur Mittelvergabe wesentlich vereinfacht wird: Die normalen Bürger können die kommunale Wirtschaftspolitik viel besser überprüfen als irgendwo sonst“, sagt Gro Slettemark, Generalsekretärin der norwegischen Sektion von Transparency International.

2007 gab die Terra-Securities-Affäre Norwegen einen Vorgeschmack auf die Finanzkrise. Das auf Finanzprodukte spezialisierte Unternehmen Terra Securities hatte mehrere wohlhabende Kommunen, die an ihren Wasserkraftwerken gut verdient hatten, dazu überredet, in hochspekulative Finanzprodukte der US-amerikanischen Bank Citicorp zu investieren (immerhin 451 Milliarden Kronen, also 58 Milliarden Euro). Die künftigen Einnahmen aus ihren Kraftwerken dienten während des Deals als einzige Rücklage. Am Ende hatten allein vier der beteiligten Kommunen infolge der Immobilienkrise in den USA insgesamt 64 Millionen Dollar verloren, und die norwegische Finanzaufsicht entzog dem Broker Terra Securities die Lizenz.9

Der Staatsfonds als Vorbild

Doch auch hier bestätigt die Ausnahme die Regel: Fast alle öffentlichen Einrichtungen und Kommunen haushalten mit den ihnen zur Verfügung stehen Mitteln gewissenhaft und streng. Der Staatsfonds, der sich vor allem aus den Erdöldividenden speist, ist ein solches Modell: Mit einem Bestand von geschätzten 2 760 Milliarden Kronen (rund 355 Milliarden Euro) im März 2010 hat er so gut wie gar nicht unter der Finanzkrise gelitten. Alle Informationen über den Fonds sind öffentlich zugänglich.

Die Sozialdemokratie hat den historischen Kompromiss der „dreiteiligen Zusammenarbeit“ zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden institutionalisiert. Dieses System hat den norwegischen Gewerkschaften stets hohe Mitgliederzahlen gesichert, und auch zwischen den politischen Parteien und den Sozialpartnern werden enge Verbindungen gepflegt. Die Arbeiterpartei erhält eine jährliche Unterstützung von 5 Millionen Kronen (641 000 Euro) von der größten Gewerkschaft, der Landsorganisasjonen (Nationale Vereinigung), deren Vertreter oft in beiden Organisationen tätig sind.

Dieses System hat allerdings auch seine Schwächen. „Früher sorgten die Maßnahmen für eine breite Vertretung der Gesellschaft in der Politik dafür, dass es eine große soziale Mobilität gab. Heute blockieren sie das System“, stellt Marsdal fest. „Jeder kann sich wählen lassen, da gibt es keinerlei Beschränkungen, aber mittlerweile bräuchte das politische Personal eine Erneuerung, es wirkt erschöpft und wenig kreativ. Die Auflagen bei der Parteienfinanzierung haben sich negativ ausgewirkt, weil sie die Bildung neuer Organisationen behindern. Die letzten Parteigründungen gab es in den 1970er-Jahren, mit der populistischen Fremskrittspartiet und der Sozialistischen Linkspartei.“ So tendiert die politische Klasse in Norwegen mittlerweile dazu, sich selbst zu reproduzieren und sich Einflüssen von außen zunehmend zu verschließen.

Fußnoten: 1 Interview aus dem Dagbladet, Oslo, 8. November 2009. 2 Das französische Parteienbündnis wurde 2008 von Daniel Cohn-Bendit initiiert und bekam bei der Europawahl von 2009 mit 16,28 Prozent der Stimmen fast so viel wie die Sozialisten. 3 Im Länderindex (2009) von Transparency International nimmt Norwegen von 180 Ländern den 11. Platz ein, Saudi-Arabien steht auf Rang 63 (wie Italien), Russland auf dem 146. Platz und Iran auf Rang 168, siehe www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2009/cpi_2009_table. 4 2009 hatten von den 169 Abgeordneten im Stortinget (Parlament) zirka die Hälfte einen Hochschulabschluss. 5 Dagbladet, siehe Anmerkung 1. 6 Bei den Parlamentswahlen 2009 erhielt sie 22,9 Prozent der Stimmen. 7 Siehe www.ssb.no/partifin/ (Nationales Statistikamt). 8 Dagbladet, siehe Anmerkung 1. 9 Siehe Der Spiegel vom 2. Dezember 2007.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Remi Nilsen ist Journalist und Mitarbeiter der norwegischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2010, von Remi Nilsen