11.06.2010

Das Kapital soll zahlen

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Das Kapital soll zahlen

Wie das Projekt Europa gerettet werden könnte – eine Außenansicht von James K. Galbraith

Anfang Januar rief die griechische Regierung einige Experten zusammen, um mit ihnen die kritische Situation der Staatsfinanzen zu beraten. Dabei soll ein Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) argumentiert haben, der einzige Ausweg sei der Abbau des Sozialstaats. Und ein OECD-Experte soll den Regierungschef Papandreou mit dem Satz verschreckt haben: Erst wenn alle auf die Barrikaden gehen, kannst du sicher sein, dass du genug getan hast.

Hinter solchen Ratschlägen verbirgt sich die Theorie, nach der die Märkte die Staaten zur Ausgabendisziplin zwingen. Käufer von Staatsobligationen folgen zwei Kriterien: der Qualität des Sparprogramms der betreffenden Regierung und deren Aussicht auf Schuldenrückzahlung. Wenn die Maßnahmen hart und „glaubwürdig“ genug sind, muss der Staat für seine Bonds weniger Zinsen zahlen und kann sich weiterhin über die Finanzmärkte finanzieren. Aber wie kann ein solches Vertrauen entstehen, zumal wenn der Staat einen schlechten Ruf hat?

Im Fall Griechenland stellt sich das Grundproblem so: Als die laufenden Staatsobligationen fällig wurden – von Januar bis Mai 2010 in Höhe von 23 Milliarden Euro – waren die angekündigten Einsparungen noch nicht wirksam. Außerdem ist ein Sparprogramm desto unglaubwürdiger, je härter es ausfällt. Es war also unwahrscheinlich, dass sich die Griechen mit ausreichend strengen Haushaltskürzungen erneut und zu akzeptablen Konditionen über den Bondmarkt finanzieren können. Die einzige Rettung vor dem Staatsbankrott war daher die Refinanzierung der griechischen Schulden durch die Europäer, also am Markt vorbei.

Damit wurde der griechische Haushalt zum Spielball der Politik. Die verkündeten harten Einschränkungen und „Reformen“ mussten nicht nur die Märkte beruhigen, sondern auch die Nöte der bundesdeutschen Kanzlerin berücksichtigen. Währenddessen bekannte sich die Regierung Papandreou unerschütterlich zum Euro und gab zugleich Paris und Berlin gegenüber zu verstehen, dass man bei einem Ausbleiben der Hilfe einen Bankrott nicht ausschließen könne – mit den unvermeidlichen Folgen für Portugal und Spanien.

Aus makroökonomischer Perspektive gesehen sind die harten fiskalischen Einschnitte Unsinn. Sie bedeuten höhere Arbeitslosigkeit und sinkende Steuereinnahmen. Das hat für den griechischen Haushalt fatale Folgen, denn man kann die Gesamtnachfrage nicht um 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kappen, ohne das BIP selbst zu verringern. Im Übrigen kostet ein Minuswachstum auch deutsche und französische Arbeitsplätze, weil die griechischen Importe schrumpfen.

So können die Griechen ihre Schulden jedenfalls nicht bedienen. Und die Konkurrenzfähigkeit griechischer Produkte lässt sich auch nicht rasch erhöhen, weil das Euroland seine Währung nicht abwerten kann. Andererseits sind die in Athen beschlossenen mittelfristig wirksamen Maßnahmen – die Reform des öffentlichen Dienstes und des Steuersystems – in einer negativen, von Krise, Ausgabenkürzungen und hohen Zinsraten bestimmten Atmosphäre viel schwerer umzusetzen.

Während für Griechenland der Ernstfall immer näher rückte, bemühten sich die europäischen Partner um einen Konsens, der durch undurchsichtige Regeln, umständliche Abstimmungsprozesse, innenpolitische Rücksichten und mangelnde Einsicht in die Lage verzögert wurde. Führende Politiker hielten starrsinnig an dem Glauben fest, dass weniger öffentliche Ausgaben zu mehr Wirtschaftswachstum führen (siehe Beitrag auf Seite 5).

Als der Eindruck entstand, dass Angela Merkel ein Rettungspaket ablehnt, griff die Panik auf die gesamte Eurozone über. Der Preis von Kreditausfallbürgschaften (CDS) für portugiesische und spanische Staatspapiere (und Banken) schoss in die Höhe – ein Beleg für die Fragilität des europäischen Finanzsystems, das keine EU-weiten Einlagegarantien kennt. Jetzt erst gab die Bundeskanzlerin nach und stimmte dem 750 Milliarden Euro schweren Rettungspaket von IWF, EZB und Euroländern zu.

Aber die Rettungsaktion für die Griechen machte die Euro-Finanzkrise nur noch schlimmer. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, versetze man sich in die Lage eines Besitzers von portugiesischen Staatspapieren. Da die Rückzahlung ungewiss ist, wird er die Bonds abstoßen. Das lässt den Preis sinken und den Zinsaufschlag steigen, was die Refinanzierung für die Portugiesen weiter erschwert. Die können im Ernstfall einen Zahlungsstopp am besten verhindern, indem sie sich dem privaten Finanzmarkt verweigern und die EU erpressen (wie die Griechen). Und nach Portugal ist Spanien dran, für das dieselben Regeln gelten.

Wetten lassen sich nicht verbieten

Auf diese Weise könnten die Spekulanten die „Europäisierung“ der mediterranen Euroländer erzwingen. Genau das vollzieht sich seit Mitte Mai in atemberaubendem Tempo und führte kurzfristig zu einer Panik – genau wie bei der Bankenkrise vom September 2008 in den USA und aus denselben Gründen, nämlich auf Druck von Spekulanten, die eine zögernde politische Führung unter Druck setzen und zum Handeln zwingen. Wie alle Erpressungsopfer ließ Präsident Sarkozy seinem Zorn freien Lauf. Und Kanzlerin Merkel schlug mit der Ankündigung zurück, „nackte“ Leerverkäufe von Staatspapieren zu verbieten.

Aber was soll das bezwecken? Einen Handel mit griechischen, portugiesischen oder spanischen Bonds kann man auch in New York oder auf den Cayman Islands abwickeln. Deshalb haben sich die Spekulanten, sobald sie unter Druck geraten waren, schon für den nächsten Angriff aufgestellt.

Das 750-Milliarden-Paket hat die Lage zwar kurz beruhigt – aber auch deutlich gemacht, dass die Eurostaaten Geld nur beschaffen können, indem sie es untereinander ausleihen. Sie können hingegen keine neuen Geldreserven schaffen und erst recht nicht zur selben Zeit einen Bonds-Bailout und neues Wirtschaftswachstum finanzieren. Das kann nur die Europäische Zentralbank (EZB). Deren Rolle blieb zunächst vage, bis sich herausstellte, dass die EZB tatsächlich europäische Staatspapiere aufkauft.

Erweiterter Markt ohne erweiterten Staat

Damit sorgt man zwar für Ruhe an der Schuldenfront, aber das hat natürlich seinen Preis: Mit einer derart elastischen Geldmengenpolitik gab der Euro seinen Ruf als Hartwährung auf, was unweigerlich zu einer Abwertung führte. Es folgte eine Klarstellung des EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet, die flexible Politik bedeute nicht, dass die Geldmenge erhöhte werde. Doch das führte nur zu neuer Verwirrung, und die nahezu panikartige Flucht aus dem Euro setzte sich fort.

Eine dritte Grundbedingung für das Funktionieren von Finanzmärkten tritt damit klar zutage: Es muss einen Staat geben, der größer ist als jeder der denkbaren Märkte. Und dieser Staat muss über die Geldpolitik entscheiden können, was zweifellos für die US-Zentralbank, die Federal Reserve, zutrifft. Andernfalls können die Märkte gegenüber den Staaten eine Teile-und-herrsche-Strategie praktizieren.

Die Europäer haben mit enormem Aufwand einen „einheitlichen Markt“ geschaffen. Aber das erfolgte erstens ohne einen entsprechend ausgeweiteten Staat und zweitens unter der Voraussetzung, dass die Zentralbank kein neues Geld in das System einspeisen kann. Damit entstanden Märkte, die größer als die Staaten sind – und das bei Staaten mit untragbaren Schulden. Nur die EZB könnte diese fatale Situation auflösen, indem sie unter dem Druck der Realitäten ihre eigene Verfassung aufgibt.

Wir wissen nicht, wie weit die EZB auf diesem Weg gehen wird. Wie weit sie also zu einer Art Geldschöpfung aus dem Nichts nach dem Vorbild jenes „quantitative easing“ bereit sein wird, das die Federal Reserve erstmals Ende 2008 praktiziert hat.1 Aber selbst wenn sie sich am Ende dazu durchringt, wäre die Finanzkrise zwar vorerst beendet, doch die Wirtschaftskrise würde sich vertiefen. Denn jedes der „geretteten“ Länder wird als Gegenleistung nur so viel Geld bekommen, dass es seine Schulden bezahlen kann. Und dafür muss es jedes Mal massive Haushaltskürzungen in Kauf nehmen. Auf diese Weise wären zwar die Banken zu retten, aber nur auf Kosten von Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätzen und des Sozialstaats. Die Rezession in Europa würde sich immer weiter verschärfen.

Sollte es so kommen, wäre damit die Annahme bestätigt, dass die US-Wirtschaft in den letzten 18 Monaten nur dank der robusten staatlichen Ausgabenpolitik und nicht durch geldpolitische Maßnahmen vor einer Depression bewahrt wurde. In Europa wird die Krise so lange andauern, wie die Politiker zum Umdenken brauchen. Das heißt, bis die Europäer den entscheidenden Defekt der EU-Verfassung begreifen, nämlich den Verzicht auf eine auch nur ansatzweise fiskalische Dimension.

Mit anderen Worten: Die Union braucht ein einheitliches integriertes Steuersystem, eine Zentralbank, deren Hauptaugenmerk nicht der Geldwertstabilität, sondern der wirtschaftlichen Entwicklung gilt, und eine Beschränkung plus Kontrolle des Finanzsektors. Vor allem aber braucht sie fiskalische Ausgleichsmechanismen, um Rezessionstendenzen und mangelnder Nachfrage in den weniger reichen Regionen entgegenwirken zu können.

Bereits mit relativ einfachen Methoden ließe sich solch ein Ausgleich erreichen, zum Beispiel durch eine Europäische Renten-Union und vereinheitlichte Mindestrenten in ganz Europa, sodass die Lohn- und Gehaltsempfänger in Portugal, Spanien oder Griechenland nach ihrem Arbeitsleben annähernd denselben Lebensstandard hätten wie deutsche oder französische Rentner. Denkbar wäre auch eine EU-weite Aufbesserung der Mindestlöhne etwa im Sinne des höchst wirksamen Earned-Income-Tax-Credit-Systems wie in den USA.2 Außerdem könnte die Europäische Investitionsbank (EIB) die Gründung länderübergreifender Universitäten finanzieren, um den Bildungssektor in den europäischen Randregionen zu fördern.

Man könnte viele weitere Beispiele anführen, doch das Prinzip ist klar: Die richtige Antwort auf Massenarbeitslosigkeit und die daraus folgenden Steuerausfälle ist, öffentliche und private Investitionen in den Defizitregionen auszuweiten. Nur so kann man den sich abzeichnenden Teufelskreis aus Haushaltskürzungen, Schuldenabbau und Wirtschaftsflaute durchbrechen.

Nun könnte man einwenden, dass solche Vorschläge darauf hinauslaufen, den deutschen Steuerzahler für die Griechen zahlen zu lassen. Dieser Einwand ist, rein ökonomisch gesehen, in keiner Weise stichhaltig. Denn die Grundidee ist ja, unbeschäftigte Menschen in ganz Europa wieder in Arbeit zu bringen. Damit würden aber diejenigen, die schon einen Job haben, in keiner Weise belastet, denn die Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen würde eher angekurbelt. Auch würde ein integriertes EU-Steuersystem dazu beitragen, die notorische Steuerhinterziehung in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern einzudämmen. Und die höhere Steuerlast, die mit fortschreitender Umsetzung der Reformen verbunden wäre, hätten vor allem die Reichen in den armen Ländern zu tragen – und nicht die Armen in den reichen Ländern.

Insolvenz auf amerikanisch

Die Erfahrungen der letzten Monate wecken begründete Zweifel, ob ein wirtschaftlicher Aufschwung möglich ist, solange die Finanzmärkte in der Lage sind, massiv gegen Staatspapiere von Euroländern zu wetten – was derzeit vor allem auf dem CDS-Markt geschieht. Das unterstreicht nur die Notwendigkeit, den Finanzsektor an die Kandare zu nehmen, bis er für die EU keine Bedrohung mehr darstellt.

Das kann und sollte geschehen, indem man einschränkende Gesetze verabschiedet, Finanztransaktionen besteuert und die Schulden der südlichen EU-Länder umstrukturiert. Zum Beispiel sollte allen europäischen Finanzakteuren der Handel mit CDS verboten werden, was diese Art von Wetten zum Rückzug in Offshore-Oasen zwingen würde. Wenn eine Bank dann bankrottgeht, sollte sie vom Staat übernommen und als öffentliches Unternehmen weitergeführt werden.

Eine einheitliche EU-Steuer auf realisierte Kapitalgewinne könnte (im Prinzip) auf nationaler Ebene eingezogen werden, und eine Finanztransaktionssteuer ist schon lange überfällig, obwohl sie kein Allheilmittel darstellt. Sollte sich herausstellen, dass ohne Kapitalverkehrskontrollen die Finanzmärkte nicht zu zähmen sind, muss man sie eben wieder einführen. Wenn sich abzeichnet, dass im Duell zwischen dem Staat und den Finanzmärkten das Überleben stabiler und zivilisierter Regierungsstrukturen auf dem Spiel steht, kann sich der Staat eine Niederlage schlechthin nicht leisten.

Der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Kunibert Raffer vertritt schon seit längerem die Ansicht, dass die EU für die Umstrukturierung nicht abzahlbarer Staatsschulden ein Insolvenzverfahren braucht, das sich an den Regelungen des US-amerikanischen Insolvenzrechts für Kommunen orientiert. Das würde es nationalen Regierungen erlauben, sich von nicht rückzahlbaren Schulden zu entlasten und dennoch die wichtigsten staatlichen Funktionen aufrechtzuerhalten.

Negative Folgen hätte das freilich vor allem für die Banken (weshalb der Staat die Kundeneinlagen gefährdeter Banken abzusichern hätte). Denn Verluste, die unwiderruflich sind, müssen irgendwo verbucht werden. Und wenn dies bei den Banken geschieht, würde es nicht gerade die Unschuldigsten treffen.

Das sind radikale Maßnahmen, gewiss. Aber heute steht außer Frage, dass radikale Schritte notwendig sind. Oder lässt sich noch irgendwie bezweifeln, dass derzeit die Fundamente des neoliberalen Europa ins Wanken geraten? Wir stehen heute vor der Wahl zwischen dem destruktiven Radikalismus von Haushaltskürzungen und einem konstruktiven Radikalismus der Vollbeschäftigung. Die Alternative lautet also: Retten wir die Banken oder sichern wir eine vernünftige soziale Entwicklung? Europa muss sich entscheiden.

Vor 35 Jahren habe ich einmal für den Bankenausschuss des US-Repräsentantenhauses ein finanzielles Rettungsprogramm für die Stadt New York entworfen, die damals von einer Finanz- und Wirtschaftskrise gebeutelt wurde. Dieses Programm enthielt viele radikale Maßnahmen. Unter anderem sah es die Umstrukturierung der städtischen Schuldenlast vor, was für die Besitzer der Schuldverschreibungen einen Verlust bedeutete. Prompt kam ein Anruf von Averell Harriman. Der ehemalige New Yorker Gouverneur wollte sich über das Programm informieren, also schickte man mich hin.

Der 80-jährige Harriman empfing mich in einem Salon seiner Villa in Georgetown bei Washington. Er hatte gerade eine Hüftoperation hinter sich und saß im Pyjama auf der Couch. An der Wand zu seiner Rechten hingen van Goghs Sonnenblumen und zu seiner Linken, hinter Glas, eine Ballerina von Degas. In diesem Ambiente versuchte ich darzulegen, warum die Repräsentanten des Volkes erwarten mussten, dass vor allem die Reichen Opfer bringen. Harriman nickte, beugte sich auf seinen Stock gelehnt vor und sagte mit seiner tiefen Stimme: „Ich verstehe das völlig. Das Kapital muss zahlen, genauso wie die Arbeiter.“

Hoffen wir, dass solch weise Einsicht dieses Mal nicht allzu lange auf sich warten lässt. Andernfalls werden wir an den Folgen noch viele Jahre zu tragen haben.

Fußnoten: 1 Diese Geldschöpfung funktioniert über den Ankauf von Staatspapieren oder Unternehmensobligationen durch die Federal Reserve. 2 Die „Steuergutschrift für Arbeitseinkommen“ ist eine Art von Lohnsubvention für Bezieher von niedrigen Arbeitseinkommen. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von etwa 10 000 Dollar kann auf diese Weise ihr Einkommen um 4 400 Dollar „auffüllen“.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

James K. Galbraith lehrt an der LBJ School of Public Affairs an der University of Texas in Austin. Zuletzt verfasste er das Buch: „The Predator State: How Conservatives Abandoned the Free Market and Why Liberals Should Too“, New York (Free Press) 2009.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2010, von James K. Galbraith