Europas Mauern
Mobile Hindernisse in Wüsten und Meeren von Alain Morice und Claire Rodier
Vor zwanzig Jahren feierten die demokratischen Nationen den Fall der Berliner Mauer als einen Sieg der Freiheit. Endlich sollte der Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 Geltung erlangen: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ In einer Resolution von 1991 erklärten die für Migrationsfragen zuständigen Minister im Europarat voller Stolz: „Die politischen Veränderungen erlauben es heute, sich überall in Europa frei zu bewegen. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung für die Fortdauer und die Entwicklung der freien Gesellschaften und ihrer kulturellen Vielfalt.“
Gewisse Vorbehalte gegenüber den Folgen dieser neuen Freiheit blieben allerdings bestehen: „Die Reisefreiheit gemäß den internationalen Abkommen bedeutet nicht das Recht auf einen ständigen Wohnsitz in einem anderen Land.“ Bedrohlich erschien auch „die drastische Zunahme der Asylbewerber in Westeuropa und einigen Ländern Mitteleuropas, die versuchen, unter Berufung auf die Genfer Konvention die Einwanderungsvorschriften zu umgehen.“1
Mit dem Ende des Kalten Kriegs ergaben sich neue Frontlinien, und es mussten neue Bollwerke errichtet werden, die die Abwehrmaßnahmen zu Land und zu Wasser effektiver machten als je zuvor – und tödlicher. Im Osten verlangte die Europäische Union von ihren Beitrittskandidaten eine entschlossene Überwachung der Grenzen. Jeder dieser neuen Mitgliedstaaten sollte seine eigene Berliner Mauer errichten. Und mit Blick auf die Mittelmeeranrainer trat der EU-Gipfel von Tampere im Oktober 1999 für eine „regionale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den benachbarten Drittstaaten im Kampf gegen die organisierte Kriminalität“ ein, die ausdrücklich auch „Menschenhandel“ einschloss.
Die Migranten werden abwechselnd als „Illegale“ oder als „Opfer“ eingestuft und wie international operierende Menschenhändler verfolgt, soweit sie einander beistehen.2 Die Abwehr der Migranten wird so als Maßnahme zu ihrem eigenen Schutz rechtfertigt. Bei ihrem Gipfeltreffen in Sevilla im Juni 2002 erklärten die Staats- und Regierungschefs der EU die Bekämpfung der illegalen Zuwanderung zum vorrangigen Thema bei Verhandlungen mit den Anrainerstaaten der Union.
Der alte Kontinent sah sich nicht mehr imstande, seine Grenzen zu überwachen, und begann systematisch – und unter Missachtung internationaler Abkommen – die daraus erwachsenden Probleme und Aufgaben auf die Herkunfts- und Transitländer abzuwälzen.3 Das transnationale NGO-Netzwerk Migreurop prägte für dieses Unternehmen zur Einschränkung der international verbrieften Bewegungsfreiheit die Bezeichnung „Externalisierung der Migrationspolitik“.
Dadurch ist der Schengenraum (siehe die Karten auf Seite 12/13) jenseits seiner Außengrenzen inzwischen von einem vorgelagerten Sicherheitsgürtel umgeben, der eine Zusammenarbeit mit Drittländern erforderlich machte. Im Haager Programm von 2004 wurde dies elegant als „die externe Dimension von Asyl und Zuwanderung“ umschrieben4 und zog einen ganzen Rattenschwanz ideologischer Scheinargumente nach sich. Im Kern ging es darum, nichteuropäischen Ländern die Hauptlast bei der Überwachung der EU-Außengrenzen aufzubürden – im Rahmen von ebenso undurchsichtigen wie asymmetrischen Vereinbarungen. Diese Politik wollten die Chefs der 27 EU-Staaten aber als das Bestreben verstanden wissen, die „Drittländer partnerschaftlich“ bei der „Regulierung von Wanderungsbewegungen […] zu unterstützen“.
Im Wesentlichen besteht die „Externalisierung“ in einem flexiblen Abwehrmechanismus, der auf immer weiter von den EU-Grenzen entfernte Gebiete ausgedehnt wird. Zentrale Elemente dieser Strategie sind die Auslagerung der Grenzkontrollen und die Übertragung der „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“ an die Behörden vor Ort. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist vor allem das Asylrecht, das alle Staaten der EU durch die Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt haben, und jenes Recht, „jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen“, das in zahlreichen internationalen Abkommen festgelegt ist.
Europas Mauern
Seit den 1990er-Jahren entsandte die Europäische Union technische Berater vor allem in Länder, die als Beitrittskandidaten die Eindämmung der Zuwanderung organisieren sollten. Und 2004 wurde die „feste Ansiedlung von Verbindungsnetzen für Einwanderungsangelegenheiten in den relevanten Drittländern“ beschlossen, mit dem Ziel, „die Regulierung von Wanderungsbewegungen […] zu verbessern, illegale Zuwanderung zu verhindern und zu bekämpfen […] sowie die Rückkehrproblematik anzugehen“.5
Hier erscheint die Zuwanderung schon als „illegal“, bevor sie überhaupt stattfindet. Und die wichtigste Aufgabe der Mitarbeiter jener Verbindungsnetze sollte darin bestehen, den lokalen Behörden auf den Flughäfen bei der Überprüfung der Reisedokumente zur Hand zu gehen – eine Praxis, die nicht zuletzt auch eine Missachtung der Souveränität des Abfluglandes bedeutet.
2001 legte eine EU-Richtlinie zudem einen Bußgeldkatalog für Reiseunternehmen fest, die Passagiere mit nicht gültigen Pässen oder Visa transportieren. Die Strafzahlungen können demnach bis zu 500 000 Euro betragen. Außerdem trägt das jeweilige Unternehmen die Kosten für die Rückführung abgewiesener Reisender. Diese Abschreckungsstrategie führt dazu, dass die Passagiere vor ihrem Abflug oder ihrer Einschiffung durch Mitarbeiter privater Unternehmen gefiltert werden, die keinerlei entsprechende Kompetenzen besitzen.
Diese Quasiprivatisierung der Kontrollen reduziert automatisch den Überprüfungsaufwand am Zielort der Reise. Aber die Folgen dieser Praxis sind weitreichender: In Fällen, bei denen der Grund der Ausreise darin besteht, in einem anderen Land Schutz zu finden und Asyl zu beantragen, kann man den betreffenden Personen nicht ihre „Illegalität“ oder ein fehlendes Visum vorwerfen. In jedem Fall müssten sie zunächst einmal im Zielland ankommen, bevor sie abgewiesen werden können. Im August 2007 verurteilte ein italienisches Gericht sieben tunesische Fischer wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ zu Gefängnisstrafen und konfiszierte ihre Boote. Ihr Vergehen bestand darin, die Passagiere eines sinkenden Flüchtlingsboots gerettet und gemäß den Bestimmungen des internationalen Seerechts in den nächstgelegenen Hafen Lampedusa gebracht zu haben.6
Seit 2005 koordiniert die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (Frontex)7 die Abfangaktionen auf See. Ihr Einsatzgebiet erstreckt sich von der afrikanischen Küste über die Kanarischen Inseln bis in die Straße von Sizilien. Der spanische Ministerpräsident Zapatero konnte Ende 2009 erfreut bekannt geben, dass sich die Zahl der auf dem Seeweg ins Land gelangten Illegalen halbiert habe. Allerdings scheint die Zahl derer, die auf den Migrationsrouten durch die Wüste und über das Meer ihr Leben lassen, nicht gesunken zu sein (siehe Karte). Durch die neu errichteten Hindernisse lassen sich die zur Auswanderung Entschlossenen nicht abschrecken, sie sind nun aber gezwungen, längere und gefährlichere Routen zu wählen.
Die Vorschriften für die Zuwanderung in EU-Staaten sehen vor, Migranten darauf zu überprüfen, ob sie als Asylbewerber infrage kommen. Unter welchen Umständen (und ob überhaupt) dies bei den Frontex-Einsätzen in irgendeiner Weise geschieht, ist unklar, das Programm untersteht ja keinerlei demokratischer Kontrolle.
Mit dieser Vorverlagerung von Abwehrmaßnahmen, für die das Frontex-Programm das Paradebeispiel ist, können sich die europäischen Staaten überdies der Verpflichtung zur Achtung von Grundrechten entziehen, die sie für ihr eigenes Territorium durch die Ratifizierung internationaler Konventionen eingegangen sind.
Kontrollen im rechtsfreien Raum
Die Externalisierung der Grenzüberwachung bildet auch den Hintergrund für die „globale Partnerschaft mit den Herkunfts- und Transitländern“, die von den 27 EU-Staaten 2008 im „Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl“ beschlossen wurde. Die treibende Kraft hinter dieser Entschließung war Frankreich, das die Bekämpfung der „geduldeten Zuwanderung“ (immigration subie) zum politischen Thema seiner damaligen Ratspräsidentschaft gemacht hatte. Unter Berufung auf die „Förderung von Synergien zwischen Migration und Entwicklung“ drängt der Pakt jene Länder weiter in die Rolle von Grenzwächtern der EU, aus denen die Migranten kommen oder durch die sie ihren Weg nach Europa finden. Als Gegenleistung für den Schutz Europas von Außen winken ihnen politische oder finanzielle Vergünstigungen.8
So erhielt Marokko 2008 mit der Gewährung des „fortgeschrittenen Status“ (statut avancé) im Verhältnis zur EU den Lohn für seine anhaltenden Bemühungen, den europäischen Erwartungen in der Migrationspolitik zu entsprechen. Im Oktober 2005 waren bei dem Versuch, die Drahtzäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu überwinden, etwa zwanzig Menschen aus den Subsahara-Ländern ums Leben gekommen, weil sie stürzten, erstickten oder weil die marokkanische Armee sie unter Beschuss nahm.9 Die marokkanische Führung versuchte auch nicht, dieses Massaker zu verheimlichen – und auch nicht, dass anschließend Migranten in ein Wüstengebiet an der abgeriegelten Grenze zu Algerien gebracht wurden, was weitere Todesopfer forderte.
All das wurde in den Medien verbreitet und sollte auch dazu dienen, die Beflissenheit der marokkanischen Behörden im Umgang mit dem „Flüchtlingsproblem“ zu dokumentieren. Weniger öffentliche Aufmerksamkeit fand ein Drama, das sich am 28. April 2008 vor der marokkanischen Küste bei Al-Hoceima abspielte. Etwa dreißig Migranten, darunter vier Kinde, ertranken, weil – nach zahlreichen übereinstimmenden Zeugenaussagen – die Küstenwache ihr Schlauchboot durchlöcherte.10 Bis heute gab es keine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorfall.
Ein entscheidendes Element in der europäischen Abwehrstrategie sind die „Rückübernahmeabkommen“ mit benachbarten Drittstaaten. Um einen Ausländer ohne klaren Rechtsstatus vom europäischen Territorium ausweisen zu können, braucht man ein Land, das ihn aufnimmt: Entweder das Herkunftsland oder – inzwischen – das Land, das er zuletzt passiert hat. Da den Herkunftsländern wenig daran lag, abgewiesene Migranten wieder aufzunehmen, und den Transitländern noch weniger, führte die EU zahlreiche Geheimverhandlungen und schloss eine ganze Reihe Abkommen. Die Förderung von Korruption und die generelle Missachtung von fundamentalen Rechten wurden dabei zumindest billigend in Kauf genommen. Im Senegal, in der Ukraine oder in einigen Balkanstaaten erkaufte man sich so mit diversen politischen „Vergünstigungen“ die formelle Rücknahmegarantie der „Illegalen“.11
Erstes Opfer in diesem Krieg der EU-Staaten gegen die potenziellen Asylsuchenden ist das Asylrecht selbst. Alle, die vielleicht Anspruch auf den Flüchtlingsstatus erheben könnten, sollen gar nicht erst in die Lage kommen, einen Antrag zu stellen: Man fängt sie bereits in den Pufferstaaten ab, mit denen sich die Festung Europa umgeben hat – oder schickt sie gegebenenfalls dorthin zurück. Im Namen einer vorgeblich partnerschaftlich geteilten Last täuscht man vor, die Asylsuchenden, die man nicht haben will, seien dort bei den gekauften Verbündeten bestens aufgehoben. In solchen Ländern (etwa im Maghreb), die weder den politischen Willen noch die administrative Kapazität haben, die Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren, fördert diese Strategie zusätzlich die Fremdenfeindlichkeit. Opfer sind die Migranten, die dort unter schwierigen und unsicheren Bedingungen leben.12
Außerdem fördert und finanziert die EU die Einrichtung immer neuer Auffanglager – seit 2004 zum Beispiel in der Ukraine, einem Land, das ebenfalls die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert hat. Libyen dagegen gehört nicht zu den Signatarstaaten dieser Konvention, und es gibt zahlreiche Berichte, die die Entrechtung von Migranten und Flüchtlingen in Libyen belegen.13 Doch das hindert Italien nicht daran, seit Mai 2009 alle Flüchtlingsboote abzuweisen und die Migranten den libyschen Behörden zu übergeben – eine Verletzung des internationalen Seerechts und des völkerrechtlich festgeschriebenen Verbots der Abschiebung von Personen, die Schutz vor Verfolgung suchen.14
Die einzige Reaktion der EU auf diesen Verstoß eines Mitgliedstaats gegen die in der Union geltenden Verpflichtungen, die Grund- und Menschenrechte zu schützen, bestand darin, nach einer Möglichkeit zur Legitimierung dieser Praxis zu suchen. Im Juli 2009 offerierte die Europäische Kommission der libyschen Führung eine „Zusammenarbeit mit dem Ziel eines gemeinsamen und einvernehmlichen Umgangs mit den Flüchtlingsströmen“, und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) bot sich als Vermittler an, um „humanitäre Standards“ in den Auffanglagern zu sichern.
Die mit den Drittländern geschlossenen Kooperationsabkommen verletzen nicht nur die Rechte von Flüchtlingen, sie bedrohen auch ein weiteres Rechtsgut von überragender Bedeutung: das Recht auf Bewegungsfreiheit. Und dabei geht es nicht mehr nur um die Einwanderung nach Europa.
Das von Frankreich erdachte Konzept der „Koentwicklung“ soll theoretisch Migration und Entwicklung so verknüpfen, dass es dem Ursprungsland wie dem Zielland dienlich ist. Offiziell sind die Fragen der Grenzsicherung nur ein Teilaspekt in den Verträgen, tatsächlich aber betreffen zahlreiche geplante Maßnahmen und zugesagte Zahlungen in erster Linie die Abwehr der „illegalen Zuwanderung“.15
Das ideologische Konstrukt der „Koentwicklung“ dient der EU auch dazu, den betroffenen Ländern ihre einseitigen Beschlüsse schmackhaft zu machen: Mit einem Mal traut man den Leuten dort zu, „ihre Entwicklung selbst zu bestimmen“. Und hofft dabei, dass innerhalb wie außerhalb der europäischen Grenzen geglaubt wird, ein Entwicklungsaufschwung in den Herkunftsländern werde die illegale Zuwanderung tatsächlich eindämmen. Das allerdings ist eine doppelte Täuschung: Denn zum einen bewirkt ein Wirtschaftsaufschwung in der Regel eine erhöhte Mobilität der Staatsbürger, und zum anderen wandern die „Hilfsgelder“ aus dem Ausland meistens in die Privatschatullen der lokalen Machthaber.
Aber das heißt nicht, dass der Trick nicht funktioniert. Die Länder, die sich auf das Programm der Migrationseindämmung einlassen, müssen ihre Grenzen dicht machen und die eigene Bevölkerung scharf überwachen. So hat die Kooperation zwischen Spanien und seinen nordafrikanischen Nachbarn Marokko und Algerien dazu geführt, dass „illegale Emigration“ in diesen Ländern mittlerweile strafbar ist.
Auch Senegal geht gegen Migranten auf eigenem Territorium vor. Doch die ins eigene Land verlegten Blockaden täuschen die dortige Bevölkerung nicht über die Tatsachen: Anlässlich der europäisch-afrikanischen Migrationskonferenz 2006 in Rabat titelte die senegalesische Tageszeitung Le Soleil schlicht: „Europa schließt unsere Grenzen“.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Alain Morice ist Ethnologe am CNRS und Jurist bei Gisti, einer Rechtsberatungsstelle für Migranten; Claire Rodier ist stellvertretende Vorsitzende von Migreurop.