Die Steine von Jerusalem
von Yonatan Mendel
Wie alle guten Geschichten beginnt auch diese an einem heißen Sommertag. Sie spielt in Jerusalem im Jahr 2000. Meir Margalit, linker Oppositionsvertreter im Stadtrat von Jerusalem, saß in seinem Büro und dachte darüber nach, wie er den damaligen Bürgermeister Ehud Olmert in Verlegenheit bringen könnte. Er beschloss, eine offizielle Anfrage an ihn zu richten. „Ich würde gern etwas über das arabische Dorf Ein Fuad in Erfahrung bringen“, schrieb Margalit. „Das Dorf liegt, wie wir alle wissen, in Ostjerusalem.“ Er frage sich gerade, ob Ein Fuad wohl die gleichen kommunalen Dienstleistungen zur Verfügung stünden wie den jüdischen Vierteln. Olmert schluckte den Köder. „Ein Fuad genießt allmonatlich sämtliche städtischen Dienstleistungen“, hieß es in der Antwort aus dem Büro des Bürgermeisters, „einschließlich Sozialhilfe, Bildungswesen, Straßenbeleuchtung und Müllabfuhr.“
Wahrscheinlich hat Margalit, als er diesen Brief las, nur traurig gelächelt. Jedenfalls schrieb er mit schwarzer Tinte lediglich diesen einen Satz zurück: „Es gibt keinen Ort namens Ein Fuad.“1 Margalit hatte das arabische Dorf erfunden.
Ich habe in den 1980er Jahren meine Kindheit im westlichen Teil der Stadt verbracht und kann mich noch gut an meine eigene Wahrnehmung der Trennung zwischen „Ost“- und „West“-Jerusalem erinnern. Der Westen war mein Zuhause, hier habe ich auf der Straße gespielt und später studiert. Der Osten, der in meiner Vorstellung nur aus der Altstadt bestand, war der abenteuerliche, laute und bunte Orient. Unsere Familienbesuche in der Altstadt, zwischen den massiven Mauern, die ich stets mit König Salomon verband, beflügelten meine Fantasie: Das Bild von dem Scheich, dem Rabbiner und dem Priester, die nebeneinander durch eine Gasse spazierten, vermischte sich mit dem Duft von Weihrauch, dem Geschmack von Mandelmilch und den Rufen der arabischen Händler im Souk. Heute scheinen solche Erinnerungen einem der orientalistischen Gemälde des US-Künstlers Edwin Lord Weeks (1849 bis 1903) entsprungen.
Bei einem Klassenausflug haben wir irgendwann mal die Davidszitadelle besichtigt – „Das Museum im Davidsturm. Wo Jerusalems Geschichte beginnt“, lautete damals der Slogan –, und ich weiß noch, wie wir Jungs, damals vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, unbedingt die Stelle finden wollten, von der König David seine Nachbarin Bathseba, deren Mann mit dem israelitischen Heer vor dem belagerten Rabba lag, beim Baden erblickte. Daraufhin ließ David, so die Erzählung im Alten Testament, Bathseba zu sich holen, schwängerte sie und sorgte dafür, dass ihr Mann in der Schlacht fiel. Erst viele Jahre später war ich in der Lage, mir einzugestehen, dass die gefeierten Symbole der „ewigen jüdischen Hauptstadt“ noch ganz andere Geschichten in sich bargen. Dass etwa die beeindruckenden Stadtmauern trotz ihres Namens nicht unter unserem geliebten König Salomon errichtet worden waren, sondern 2 500 Jahre später unter Sultan Suleiman; dass die Davidszitadelle ihren Namen erst im 11. Jahrhundert von den Kreuzrittern erhalten hatte und dass der Turm Davids („Jerusalems Ursprung“) in Wahrheit eine Moschee aus dem 19. Jahrhundert ist, die fast 3 000 Jahre nach der Herrschaft des voyeuristischen und ehebrecherischen Königs errichtet wurde.
Früher war Katamon ein reiches Palästinenserviertel
Meine Kindheitserlebnisse waren von einem positiven und nostalgischen Jerusalembild geprägt, das die Tagespolitik ebenso ausklammerte wie die Ungerechtigkeiten und Konflikte im Herzen der Stadt. Bei einem unserer Ausflüge erkundeten wir auch das Katamon-Viertel, in dem unsere Grundschule lag. Die Straßen trugen Namen wie „Die Eroberer von Katamon“ oder „Das Gardekorps“, und die Lehrer erzählten uns Geschichten über „aufrührerische Araber“, die 1948 den jüdischen Bewohnern von Katamon nach dem Leben trachteten. Wie man uns zu unserer großen Erleichterung erklärte, wurden diese „Aufrührer“ später von den heldenhaften Kämpfern der Hagana besiegt.2
Was wir damals nicht erfuhren: dass Katamon keineswegs eine Hochburg von Terroristen gewesen war, sondern eines der wohlhabendsten palästinensischen Viertel von Jerusalem, wo zum Beispiel Khalil al-Sakakini (1878 bis 1953), einer der bedeutendsten Intellektuellen seiner Zeit, in den 1930er Jahren ein Haus gebaut hat (damals kannten wir noch nicht einmal seinen Namen, und natürlich haben wir auch nicht sein Haus besichtigt). Wir hatten auch keine Ahnung davon, dass Jerusalem ein kulturelles wie politisches Zentrum der Palästinenser gewesen war und dass Viertel wie Talbija (in dem Edward Said aufgewachsen ist), die griechische Kolonie oder al-Baq’a vornehme Stadtteile gewesen waren mit Hotels, Galerien und anderen kulturellen Einrichtungen.
Wir wussten weder dass Westjerusalem nicht immer rein jüdisch war, noch dass 1948 im Lauf des Krieges über 30 000 palästinensische Bewohner aus ihren Häusern im Westen der Stadt vertrieben worden waren. All diese historischen Fakten kamen in den Geschichten, die wir hörten, nicht vor. Auch den Kindern, die heute in der Stadt aufwachsen, werden diese Wahrheiten wahrscheinlich nicht erzählt.
Auf ähnliche Weise kam unser Wissen über den Sechstagekrieg von 1967 zustande. Damals annektierte Israel völkerrechtswidrig den Ostteil von Jerusalem (der zum Westjordanland gehört) mit dem Ziel, eine „vereinigte Stadt“ zu gründen. Und wieder hörten wir nur die völlig verzerrte Version der Geschichte, die Israel seitdem unablässig sich selbst und der Welt erzählt.
Ob man von „unserer ewigen vereinigten Hauptstadt“ spricht oder eine andere Formel beschwört, die Wahrheit bleibt, dass die Stadt damals nur nach israelischem Recht „vereinigt“ wurde. Das palästinensische Volk hingegen hat diese „Vereinigung“ niemals akzeptiert, die palästinensischen Jerusalemer weigern sich bis heute, an den Kommunalwahlen der geteilten „vereinigten Hauptstadt“ teilzunehmen, und die internationale Gemeinschaft wie der Internationale Gerichtshof in Den Haag betrachten Ostjerusalem nach wie vor als besetztes Territorium.
Als Schulkinder bekamen wir auch nichts von den fünfzig verschiedenen Arten der Diskriminierung mit, denen die palästinensischen Bewohner Jerusalems seitens der wechselnden Stadtverwaltungen und Regierungen ausgesetzt waren. Dabei wurden, wie ich viel später erfahren sollte, unterschiedliche Methoden angewandt, die dem immergleichen Ziel dienten: das nationale Interesse der Palästinenser an der Stadt zu schwächen und die jüdische Dominanz in beiden Teilen Jerusalems zu verstärken. Also wurden im Westen neue Wohnviertel gebaut und gleichzeitig im östlichen Teil neue Siedlungen oder ganze Stadtteile errichtet, nachdem man in den 1967 eroberten Gebieten die umliegenden arabischen Dörfer beschlagnahmt hatte.
Mit dieser Strategie wollte man „sicherstellen“ (was für ein doppeldeutiges Wort), dass Jerusalem „im Wesen israelischer“ und „in der Seele jüdischer“ wird. Wenige Jahrzehnte später zeigte sich, wie sehr diese Politik der Vielfalt der Stadt geschadet und sowohl das Verhältnis zwischen Palästinensern und Juden als auch die Atmosphäre zwischen den verschiedenen jüdischen Milieus vergiftet hat. Die politische Radikalisierung hat sich verschärft, die ultrareligiösen Gruppen bekommen immer mehr Zulauf, und es gibt viel mehr Armut.
Heute ist Jerusalem die ärmste Stadt in Israel
Ein Indiz für die Radikalisierung ist beispielsweise, dass Beitar Jerusalem der einzige Fußballklub in der israelischen Premier League ist, der keinen arabischen Spieler unter Vertrag hat, und darauf sind die meisten Beitar-Fans auch noch besonders stolz. Die religiöse Prägung der Stadt zeigt sich im dramatischen Zuwachs der Ultraorthodoxen: Inzwischen kommen 63 Prozent der Kinder an den israelisch-jüdischen Schulen Jerusalems aus Haredim-Familien.3 Und schließlich ist Jerusalem laut Statistik auch noch die „ärmste Stadt in Israel“.4 Gründe genug für viele junge, aus der gebildeten Mittelschicht stammende Jerusalemer, der Stadt den Rücken zu kehren und nach Tel Aviv zu ziehen (was ich selbst, wie ich bedrückt zugeben muss, auch getan habe).
Erstaunlicherweise finden sich die besten Belege für die jüdisch-fixierte Politik in Statements israelischer Behörden und Politiker, so zum Beispiel in dem Buch „Getrennt und ungleich: Die Insider-Geschichte der israelischen Herrschaft in Ostjerusalem“ von Amir Cheshin und Avi Melamed, die in der Stadtverwaltung als „Ratgeber für arabische Angelegenheiten“ tätig waren. Darin raten die beiden Autoren ihren Lesern, „der Propaganda keinen Glauben zu schenken und dem rosigen Bild von Jerusalem zu misstrauen, das Israel der Welt vorzuführen versucht“. Stattdessen schildern sie die von ihnen selbst erlebte Realität, nämlich dass der Staat Israel „die Palästinenser von Jerusalem furchtbar schlecht behandelt“. Nach Ansicht der ehemaligen Beamten diene all dies nur dem Ziel, den demografischen Vorsprung der jüdischen Bevölkerung in Jerusalem zu halten.
Im „Jerusalem 2000 Master Plan“ steht es sogar schwarz auf weiß. Unter der Überschrift „Entscheidungen der Regierung hinsichtlich des demografischen Gleichgewichts“ heißt es: „Entsprechend dem von der Stadtverwaltung vorgestellten und von der Regierung übernommenen Ziel muss die Stadt dafür sorgen, dass das Zahlenverhältnis von 70 Prozent Juden zu 30 Prozent Arabern bestehen bleibt.“5
Wie fatal diese Logik für eine Stadt ist, die niemand mehr mit ihrem einstigen Beinamen „Stadt des Friedens“ verbindet, zeigen die verschiedenen Maßnahmen der letzten Jahre sowie die Vernachlässigung der Viertel und Bevölkerungsgruppen, die in dem besagten Masterplan gar nicht erst vorkommen. Dass dies mit voller Absicht geschah, hat Bürgermeister Teddy Kollek am Ende seiner langen Amtszeit (1965 bis 1993) sogar direkt ausgesprochen: „Wir haben Zusagen gemacht, ohne es ernst zu meinen, und sie dann nicht eingehalten. Wir haben immer wieder gesagt, wir würden die Araber rechtlich gleichstellen, aber das war nur leeres Gerede. Niemals haben wir ihnen auch nur das Gefühl vermittelt, dass sie vor dem Gesetz gleich sind. Sie waren und bleiben Bürger zweiter und dritter Klasse.“6
Jerusalem ist also weder die Stadt des Friedens, noch gar die Stadt der Gerechtigkeit. In Wahrheit ist es die Stadt der Zwietracht, der Ungleichheit und der Besatzung – und auch der Selbsttäuschung. In Jerusalem spiegelt sich Israel wider: Sowohl in seinen Anstrengungen, mit bunten touristischen Attraktionen und internationalen Festivals von der düsteren politischen Wirklichkeit abzulenken, als auch in der Unfähigkeit, sich zur Verantwortung für die Fehler der Vergangenheit zu bekennen und politische Lösungen zu finden, die auf Teilhabe statt auf Alleinherrschaft setzen.
Das zeigte sich leider erneut zu Beginn der jüngsten israelisch-palästinensischen Verhandlungen, die dank der „Vermittlung“ von US-Außenminister John Kerry im August 2013 zustande gekommen sind. Dabei ist die Haltung der israelischen Seite – wie gewohnt – nicht sehr positiv. Das Hauptmotiv der Regierung Netanjahu ist offenbar der Wunsch, zwei Stimmen zum Schweigen zu bringen, die man als störende Nebengeräusche empfindet. Zum einen die gegenüber Israels fortgesetzter Besatzungs- und Siedlungspolitik kritische Stimme der „internationalen Gemeinschaft“ und zum anderen die Stimme „der Palästinenser“, die den Israelis allerdings nicht deshalb wichtig ist, weil ihnen die Lebensbedingungen und das Wohlergehen der arabischen Bevölkerung am Herzen liegen würden. Das Entscheidende ist vielmehr die Angst der Israelis, dass sie die jüdische Bevölkerungsmehrheit verlieren könnten, wenn sie nicht bald die Teilung ihres Landes akzeptieren.
Die Motivation der Regierung Netanjahu, sich auf neue Verhandlungen einzulassen, entspringt also keinen wirklich konstruktiven und humanitären Erwägungen – wie etwa der Vorstellung, dass ein Abkommen mit den Palästinensern dem Frieden in der Region dienlich wäre; oder dass die Belagerung und Besetzung palästinensischer Gebiete aufhören müsse; oder dass in den Verhandlungen auch die israelische Verantwortung für die palästinensische Nakba von 1948 thematisiert werden sollte.7
Die Israelis könnten auch mit den falschen Motiven einen Friedensvertrag schließen, zumal die palästinensische Führung ausgesprochen schwach und auf internationale Unterstützung angewiesen ist. Wäre da nicht ein ebenso wesentliches wie offensichtliches Hindernis: die Frage nämlich, ob eine Teilungslösung überhaupt möglich ist, nachdem Israel mit seiner jahrzehntelangen Siedlungspolitik „facts on the ground“ geschaffen hat. Zum Beispiel im Westjordanland, wo aus „illegalen Vorposten“ mit der Zeit „Siedlungen“ und ganze „Siedlungsblöcke“ geworden sind, die sich zu regelrechten „Städten“ entwickelt haben. Dass die auf diese Weise besiedelten Flächen nicht mehr an die Palästinenser zurückgegeben werden, ist heute allen beteiligten Parteien und auch der internationalen Gemeinschaft klar. Damit wird aber die künftige Lebensfähigkeit eines Palästinenserstaats – in welcher Form auch immer – ernsthaft untergraben.
Als die Stadt einen neuen arabischen Namen bekam
Das „Schaffen territorialer Fakten“ war ein entscheidendes Merkmal der israelischen Politik nach 1967. Dass diese Methode zuerst in Jerusalem angewandt wurde, kann uns kaum mehr überraschen. Gleich nach dem Ende des Sechstagekriegs setzten sich die israelische Regierung und die Stadtverwaltung von Jerusalem über die internationalen Proteste hinweg und begannen im besetzten Ostjerusalem neue Gebäude zu bauen und neue Bewohner anzusiedeln. Damals erklärte Exregierungschef David Ben-Gurion ganz offen: „Wir müssen Juden um jeden Preis nach Ostjerusalem bringen. Wir müssen innerhalb kurzer Zeit Zehntausende von Juden ansiedeln. Wir können nicht den Bau richtiger Wohnviertel abwarten. Entscheidend ist, dass Juden dort präsent sind.“8
So entstanden im Lauf von fünfzig Jahren neue Wohngebiete in Ostjerusalem – trotz der Proteste seitens der internationalen Gemeinschaft und der Palästinenser, die Israel beharrlich ignorierte. Mit der Folge, dass heute jeder zweite jüdische Einwohner der offiziellen Hauptstadt Israels im besetzten Ostteil von Jerusalem lebt und – jedenfalls nach internationalem Recht – als Siedler gilt. Was für eine bizarre Situation! Und ein Zeichen dafür, dass Israel nicht nur „facts on the ground“ geschaffen, sondern sich auch in einer „Parallelwelt“ eingerichtet hat.
Das lässt sich unter anderem am Sprachgebrauch ablesen. So ist die Bezeichnung „Westjordanland“ im Hebräischen völlig außer Gebrauch gekommen, ebenso der Begriff „besetzte Gebiete“. Stattdessen spricht man von „Judäa und Samaria“ oder nur von „den Gebieten“. Dasselbe gilt für Jerusalem: Der 1967 besetzte Ostteil ist im kollektiven Gedächtnis keineswegs besetzt. Dem allgemeinen Verständnis nach sind die Siedlungen vielmehr ganz normale neue Wohnviertel. Obwohl kein Land der Welt die israelische Besetzung von Ostjerusalem offiziell anerkennt und kein einziger Staat – auch nicht die USA – seine Botschaft in der israelischen Hauptstadt errichtet hat, besteht man auf Begriffen wie „vereinigte Stadt“ oder „ungeteilte ewige Hauptstadt“.
Interessanterweise hält man nicht nur nach innen, sondern auch gegenüber den Palästinensern an diesen sprachlichen Spitzfindigkeiten fest. Sehen wir uns zum Beispiel Israels offiziellen arabischen Namen für die Stadt an: Seit 1948 heißt Jerusalem auf allen arabischsprachigen öffentlichen Schildern und in offiziellen Dokumenten „Urshalim Al-Quds“.9 Es ist ein von den Israelis neu geschaffenes arabisches Amalgam, das so nur in Israel und von der israelisch-jüdischen Community benutzt wird. In der gesamten arabischen Welt, von Syrien über Katar bis Marokko, heißt die Stadt stets „al-Quds“ (oder „al-Quds al-Sharif“). Das in der Neuschöpfung vorangestellte „Urshalim“ – auf Straßenschildern wird „al-Quds“ sogar meist eingeklammert – kennt man nur aus der allerersten arabischen Übersetzung des Alten und Neuen Testaments. Außerdem erinnert „Urshalim“ auch an das hebräische „Jeruschalajim“. Meiner Meinung nach handelt es sich hier um einen der vielen Versuche Israels, die arabischen Muttersprachler mit einem für sie unüblichen beziehungsweise gänzlich unbekannten biblischen Namen von ihrer Heimatstadt zu entfremden und die Stadt und das ganze Land, seine Geschichte und seine Zukunft auch mit sprachlichen Mitteln zu vereinnahmen.
Ein weiteres Symbol für den politischen Einfallsreichtum der Israelis liefert die Architektur. Die meisten Häuser in Jerusalem sind aus dem sogenannten Jerusalemstein gebaut, einem wetterbeständigen, weißen Kalkstein, der schon zu Zeiten von König Herodes als Baumaterial verwendet wurde und in den Augen der Israelis weltweit als Symbol der Stadt und ihrer „jüdischen Gebäude“ gilt. Der Stein stammt vor allem aus Steinbrüchen in der Gegend von Hebron, Nablus und anderen Regionen im Westjordanland (weshalb er auf Arabisch auch „hadschar Nabulsi“ heißt), in denen überwiegend Palästinenser schuften.
Die Verwendung dieses Steins versinnbildlicht darüber hinaus das Bestreben, die palästinensische Architektur zu imitieren und dabei die Palästinenser auszuschließen: Zehntausende der aus dem „Jerusalemstein“ gebauten Häuser wurden nämlich auf den Hügeln im Norden, Osten und Süden des annektierten Teils von Jerusalem errichtet, von wo der Blick auf die ärmeren und unterentwickelten palästinensischen Dörfer und Stadtteile der „vereinigten Stadt“ fällt.10 Die Kluft zwischen den ideologischen Vorstellungen und der politischen Realität ist in der neuen Nahost-Verhandlungsrunde schnell zutage getreten. Freilich haben auch die Palästinenser neue ideologische Fakten geschaffen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Gefährdet sind die Verhandlungen jedoch aus einem anderen Grund, und zwar weil Israel so viel mächtiger ist. Denn es ist der Staat Israel, der ständig neue Siedlungen baut, auch wenn sie anders genannt werden; es ist Israel, das die Besetzung aufrechterhält, auch wenn es das nicht zugibt; und es ist Israel, das Jerusalem als „vereinigte Stadt“ bezeichnet, obwohl sie finanziell, sozial und politisch geteilt ist. Und es ist Israel, das von „unserer ewigen Hauptstadt“ spricht, obwohl das palästinensische Volk, das nun einmal in derselben geografischen Region zu Hause ist, Jerusalem ebenfalls als seine Hauptstadt betrachtet.
All das zeigt die immense Bedeutung der Jerusalemfrage für die künftigen Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern. Eine politische Umkehr Israels – weg von demografisch begründeten Ängsten und hin zu einer integrativen Perspektive, weg von einem pathologischen, zusammengeschusterten Selbstbild und hin zu pragmatischem Verhalten – könnte den Frieden in greifbare Nähe rücken und so Israel auch innerhalb der internationalen Gemeinschaft rehabilitieren. Wenn Israel einen solchen Wandel wagt, wird sich im Rahmen einer dauerhaften Einigung mit den Palästinensern auch eine Lösung für die Hauptstadt Jerusalem finden.